Wagenknecht gründet ihr nächstes Projekt. Endlich.

Parteien Die Gründung von „Bündnis Sahra Wagenknecht“ erlöst DIE LINKE aus einer unmöglichen Situation.

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Fünf Jahre nach der gescheiterten Gründung der Bewegung „Aufstehen“ versucht Sahra Wagenknecht es erneut. Nachdem sie monatelang öffentlich über die letztlich unzweifelhaft geplante Gründung eines zur Partei werdenden Vereins orakelte, wird nun das »Bündnis Sahra Wagenknecht – für Vernunft und Gerechtigkeit« vorgestellt.

Für die Partei DIE LINKE ist es ein herber Verlust und eine Befreiung zugleich. Die Ursache für die nun endgültige Trennung zwischen Sahra Wagenknecht und der Partei, die sie seit den frühen 1990er Jahren prägte, die eine jahrzehntelang schwierige Beziehung miteinander führten, liegt weder allein bei Sahra noch allein bei der Partei. Darin stimme ich mit Dietmar Bartsch überein.

Mit Sahra Wagenknecht verlässt eine ebenso kluge wie populäre Frau die Partei. Das ist ein Verlust – vornehmlich intellektuell, weniger politisch. Denn das Verlustgefühl wird für jemanden wie mich, der in der Partei verbleibt, erheblich dadurch gemildert, dass Sahra Wagenknecht und DIE LINKE schon seit viel zu langer Zeit nicht mehr zwei Seiten einer Medaille, sondern zwei verschiedene und zunehmend gegensätzliche politische Akteure sind.

Zuletzt ähnelte der Umgang Sahra Wagenknechts mit ihrer vormaligen Partei und der Bundestagsfraktion, der sie bis heute angehört, dem Verhalten desjenigen WG-Bewohners, der die Miete nicht mehr zahlt, weil er sowieso ausziehen will, sich aber noch aus den Kühlschrankfächern seiner Mitbewohner:innen bedient, über die er aber öffentlich schlecht redet und sie bei potenziellen Nachmieter:innen anschwärzt.

Dass diese verkrachte Beziehung überhaupt solange hielt, ist allein der gegenseitigen Abhängigkeit geschuldet. Wagenknecht bekam Öffentlichkeit als Partei-Dissidentin, die Partei verlor nicht noch mehr Ressourcen, Mandate und Öffentlichkeit. Andererseits wurde innerhalb der Linkspartei immer klarer, dass der Verlust an Erkennbarkeit, Politikfähigkeit, der Möglichkeit offen über Fehler zu sprechen und Kurskorrekturen vorzunehmen, mit Sahra Wagenknecht und ihren Anhänger:innen vermutlich stärker ist, als ohne sie.

Ich halte es von jeher für einen Widerspruch, zu kritisieren, dass Parteien immer stromlinienförmiger würden. Und im gleichen Atemzug Parteien, die innerparteilich streiten und um die beste Lösung ringen, Politikfähigkeit abzusprechen. In einer vielfältiger gewordenen Gesellschaft muss sich diese Vielfalt auch in den Parteien wiederfinden.

Unterschiedliche Strömungen oder Flügel in einer Partei sind grundsätzlich sinnvoll. Denn sie sind Ausdruck der vielschichtigen Gründe, warum sich Menschen für die Mitarbeit in einer Partei entscheiden, was sie mit ihr verbinden, welcher Ideengeschichte der pluralen Linken sie sich zugehörig fühlen, welche Schwerpunkte und politische Arbeitsweisen zugrundeliegen. In Strömungen und Flügel in einer Partei sehe ich die direkteren Repräsentanten der feiner fraktionierten gesellschaftlichen Strömungen und Interessen. Sie befeuern und strukturieren Debatten und schärfen die inhaltlichen Auseinandersetzungen.

Genau das ist ja auch die Aufgabe von Parteien: die politische Willensbildung zu organisieren. Dies funktioniert am ehesten im Diskurs. Der Diskurs wiederum lebt vom Widerspruch. Im Übrigen entfalten sich auch politische Talente am ehesten in widerspruchsbereiten Organisationen, in denen durch Reibung, durch Austausch, durch das Ringen um die beste Position Politik entwickelt wird.

Gleichzeitig ist vor Romantisierung zu warnen. Ich habe selbst über Jahre hinweg innerhalb der PDS und der neu gegründeten Linkspartei mit dem „forum demokratischer sozialismus“ (fds) Strömungsarbeit organisiert. Flügel oder Strömungen neigen dazu, zur Personalrekrutierung zu verkümmern. Sie tendieren dazu, Konflikte durch einen (macht)taktisch motivierten Formelkompromiss zu ersticken, statt ihn zu klären. In ihrer Fokussierung auf die innerparteilichen Kontroversen und Geländegewinne vergessen sie allzu schnell, dass sie selbst stets nur einen Teil der Partei und eines Parteitages abbilden.

Die heutige Linkspartei leistete sich über einen viel zu langen Zeitraum selbstzerstörerische Konflikte, verschliss Personal und erzeugte einen für potenzielle Anhänger:innen wie Wähler:innen erkennbaren unauflösbaren Widerspruch: Wer öffentlich von Solidarität spricht, aber sie selbst nicht lebt, sondern sich mit Vorliebe öffentlich gegenseitig angreift, ist weder authentisch noch vertrauenswürdig. Pluralität wird so zu Beliebigkeit und Vielstimmigkeit zum Verlust der Erkennbarkeit. Eine Erfahrung, die nicht allein DIE LINKE machte.

Das Gegenteil von Pluralität hingegen ist in einer Reihe von Parteien zu erkennen, die in den vergangenen Jahren in Europa entstanden. Den Anfang machte 2002 die kurzlebige niederländische „Lijst Pim Fortuyn“, in Hamburg gründete sich zur gleichen Zeit die sogenannte Schill-Partei , die eigentlich Partei Rechtsstaatliche Offensive hieß und 2001 bis 2004 Koalitionspartner von CDU und FDPim Stadtstaat war.

Aus dem sich weiterhin bewegenden Trümmerberg des italienischen Parteiensystems entstand die Bewegung der Fünf-Sterne in Italien, während Emanuel Macron aus den Rudimenten des früheren rechtsbürgerlichen und liberalen Lagers seine Bewegung „En Marche“ formte.

In Österreich kaperte Sebastian Kurz die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP) und machte sie für einige Zeit erfolgreich zur „Liste Sebastian Kurz“. Vergleichbar narzisstische Parteienprojekte bestehen und bestanden in Österreich mit der „Liste Fritz Dinkhauser“, dem „Team Kärnten“ (vormals aus dem „Team Stronach“ entstanden), dem „Team HC Strache“ oder der „Liste Hans Mayr“.

Bei aller Unterschiedlichkeit der politischen Ausrichtung sind diese Parteien zugeschnitten auf eine Führungsfigur, verlangen ganz bewusst Gefolgschaft der Mitglieder statt Diskurs miteinander. Gemein ist ihnen, dass sie ihren pluralen Charakter gegen die charismatische Führung eintauschen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich werden Parteien von charismatischen Persönlichkeiten geprägt, die sich nicht zuletzt im demokratischen Wettstreit unterschiedlicher Positionen herausbilden. Genau dieser Wettstreit fehlt jedoch in denjenigen Parteien, in denen die charismatische Führungsfigur durch die Auflösung formaler Koordinationsverfahren und partizipativer Rituale zur zentralen Legitimationsinstanz der Organisation wird. Der Charakter der Partei schrumpft zur Akklamationshülle. Sie sind meiner Auffassung nach tendenziell autoritär.

Es ist sicherlich deshalb auch kein Zufall, dass das historische Gedächtnis der demokratischen und pluralen Linken für diese Art Parteientwicklung weniger empfänglich zu sein scheint.

Als sich im September des Jahres 2018 nach vielen Ankündigungen die Organisation »Aufstehen« gründete, wurde der öffentliche Start überlagert von den rassistischen Ereignissen in Chemnitz. Ein Tötungsdelikt, die Instrumentalisierung des Opfers in Tatgemeinschaft von AfD, weiteren rechtsextremen Organisationen sowie Hooligans. Dem öffentlich geäußerten Zweifel an authentischen Filmdokumenten der rassistisch motivierten Hetzjagd sowohl durch den seinerzeitigen Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen als auch den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer.

Vorgestellt wurde »Aufstehen« in der Bundespressekonferenz neben Wagenknecht durch den früheren grünen Parteivorsitzenden und Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Vollmer, sowie die SPD-Oberbürgermeisterin von Flensburg, Simone Lange. Obwohl Chemnitz symptomatisch für die Verrohung des öffentlichen Diskurses bis hin dessen Gewaltförmigkeit stand, äußerten sich weder Wagenknecht, Vollmer, Lange oder die Organisation »Aufstehen« seinerzeit zu den Chemnitzer Ereignissen.

Dies war einerseits fatal aber andererseits auch damals bereits wenig überraschend. Innerhalb der Linkspartei entspann sich seit der Flüchtlingszuwanderung der Jahre 2015/2016 eine heftige Kontroverse, um die Bewertung der zeitweiligen Aussetzung von Dublin II als auch der Ausrichtung einer progressiven bzw. dezidiert linken Flüchtlingspolitik.

Auf dem Bundesparteitag 2018 führte dies zu einer spontan angesetzten Grundsatzdebatte, in der sich mehr als 100 der rund 500 Delegierten zu Wort meldeten und in der mit Sahra Wagenknecht heftig in Gericht gegangen wurde. Wagenknechts Kritiker argumentierten, dass in der Haltung von ihr aber auch von Oskar Lafontaine und den Anhänger:innen von »Aufstehen« wenig erkennbar ist, was eine gesellschaftliche linke Sammlungsbewegung auszeichnen könnte.

Kritisiert wurde insbesondere der sich bereits damals abzeichnende kulturkämpferische Diskurs Wagenknechts, in dem vermeintlich verlorene Wähler:innen aus klassisch materialistischen Arbeiter:innenmilieus gegen vermeintlich identitätsorientierte, städtische, postmaterialistische Milieus in Stellung gebracht werden.

Lafontaines rhetorische Figur derjenigen "am unteren Ende der Einkommensskala", die sich wegen menschenrechtsorientierter Flüchtlingspolitik von der Linkspartei abgewendet hätten, wurde als eine unzulässige Vereinfachung infrage gestellt. Denn wie in allen gesellschaftlichen Schichten bestimmen auch am unteren Ende der Einkommensskala Habitus, verstanden als die Summe der inneren und äußeren Haltung eines Menschen, die sich in der „Ethik der alltäglichen Lebensführung“ abbildet, das praktische Handeln. Gruppen mit ähnlichem Habitus und ähnlicher Alltagskultur bilden Milieus. Von denen wiederum sind politische Lager zu scheiden, die das Feld der ideologischen und politischen Abgrenzungen darstellen und einer eigenen Logik folgen.

Fünf Jahre später stellt Sahra Wagenknecht nun erneut in der Bundespressekonferenz eine neue Organisation vor. Begleitet wird sie diesmal nicht von Ludger Vollmer sondern von Ralph Suikat, der 2020 als einer von fünf deutschen Millionären das Manifest „Millionaires for Humanity“ unterzeichnete, das sich für die höhere Besteuerung der Superreichen einsetzte.

Seinerzeit und heute führt in allen Umfragen die Flüchtlingspolitik die Liste der von den Befragten als am wichtigsten erachteten Themen an. Die Themen Rente oder soziale Gerechtigkeit folgen mit einem Abstand von wenigstens 20 Prozentpunkten auf den nachgeordneten Rängen. Gefragt, ob die Unterschiede zwischen Arm und Reich ein gesellschaftliches Problem seien, stimmten 83% aller Befragten zu.

Ein Umsteuern ist notwendig und die Zeit seit langem reif dafür. Die historische Aufgabe einer Sammlungsbewegung der pluralen Linken bestand und besteht darin, den Mut zu einer konkreten Utopie aufzubringen. Die einerseits von einer fortschrittlichen Gesellschaft erzählt, die noch nicht ist und andererseits durch eigenes konkretes Handeln im Großen wie im Kleinen zeigt, dass der Weg zu dieser Utopie bereits im Hier und Heute beginnt.

Der Sound dieser progressiven Utopie wird nicht auf der Tanzfläche des Rechtspopulismus gespielt. Auf das SPIEGEL-Titelblatt, auf dem der Bundeskanzler mit den Worten abgebildet war „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“ antwortete meine sozialdemokratische Kollegin und Freundin Diana Lehmann mit einer SPIEGEL-Adaption „MEINE SPD“ und ihrem Photo, verbunden mit der Aussage „Wir müssen jetzt massiv für soziale Gerechtigkeit kämpfen, statt Populisten hinterher zu rennen“. Exakt dies ist richtig. Und es ist ein Irrglaube, dass die Musik, zu der von CDU bis AfD inzwischen getanzt wird, mit gleicher Melodie noch besser von links gespielt werden könne.

Progressive Politik steht in einem unauflösbaren Konflikt zu Ausgrenzung, Ressentiments und einer kulturkämpferischen Attitüde, in der die Grünen zum gesellschaftlichen Endgegner gestempelt werden. Sie bedient nicht den Kulturkampf und behauptet, der öffentliche Raum für Aufklärung und Meinungsvielfalt würde immer enger, sondern interveniert in den öffentlichen Raum mit praktischen Vorstellungen von Solidarität und Integration.

Ich bin und bleibe überzeugt, dass es ein gesellschaftliches Bedürfnis nach progressiver Politik und einer solidarischen Fortschrittserzählung gibt. Ein Bedürfnis, das die progressiven Parteien bislang nicht zu decken in der Lage sind.

Parteien und Sammlungsbewegungen entstehen nicht im luftleeren Raum. Sie sind erfolgreich als Resultate eines sich artikulieren wollenden Bedürfnisses und wenn Spontanität mit organisatorischer Erfahrung vereint wird. Ich bezweifle, dass das Bündnis Sahra Wagenknecht darüber verfügt. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass die destruktive Energie dieser neuen Formation progressive Mehrheiten unmöglich macht aber den Korridor für rechte Mehrheiten weitet, weil Brandmauern längst gefallen sind.

Horst Kahrs formuliert in seinem lesenswerten Aufsatz „Kulturkampf mit Wagenknecht“ in den Blättern für deutsche und internationale Politik: „Die wahlpolitische Konkurrenz in der Angst- und Wutbewirtschaftung benötigt und erzeugt immer wieder neue Ängste und Wut. Die tatsächliche politische Leerstelle bleibt daher links: eine progressive Partei, die keine Wunder verspricht, die vertrauenswürdig und regierungsfähig ist und Antworten auf die Fragen der Zeit geben kann.“

Diese Leerstelle auszufüllen kann DIE LINKE leisten – wenn sie will. Dafür muss sie sich verändern. In Teilen regelrecht neu erfinden, ohne sich aufzugeben.

Unserer Linkspartei steht mit der Wagenknecht-Partei eine weitere Verschärfung der seit Langem bestehenden Krise ins Haus. DIE LINKE ähnelt insoweit einem insolventen Unternehmen mit erheblichem Imageschaden. Doch eine Insolvenz ist kein zwangsläufiges Ende. Sondern kann ein geordneter Neuanfang sein. Aus gewerkschaftlicher Sicht natürlich wenn die Belegschaft beteiligt wird. Es geht um nicht weniger als unsere Schwächen ehrlich zu benennen und zu überwinden, aber vor allem darum, unsere Werte und unsere zukunftsfähigen Ideen in den Mittelpunkt zu rücken.

Wie vor einem Jahr meine ich, dass die Frage „Wie wollen wir leben?“, die schon Walter Gropius, der Mitbegründer des Bauhauses stellte auch uns prägen sollte, wenn wir unser linkes Parteihaus zum Volkshaus werden lassen wollen.

Und auch wenn der Vergleich schief sein mag – wir waren zwischen 1990 und 1994 sowie von 1994-1998 nur als Gruppe der PDS im Bundestag vertreten. Und es gelang uns, in einem Wahlkampf, den die SPD mit „Innovation und Gerechtigkeit“ führte und der erstmals eine rot-grüne Bundesregierung und einen Machtwechsel erzeugte, als linke Opposition in Fraktionsstärke in den Bundestag einzuziehen. Vier Jahre später flogen wir aus dem Bundestag und zogen gemeinsam mit der WASG 2005 erneut wieder ein.

Im Vorfeld des Parteitages 2022 erinnerte ich daran, dass in die seinerzeit 60.000 Mitglieder starke Linkspartei zwischen 2011 und 2021 31.500 Mitglieder neu eingetreten sind. Mehr als zwei Drittel von ihnen, ein Drittel der Gesamtmitgliedschaft, war zwischen 14 und 40 Jahren. Eine solche Partei so meinte ich damals und bin ich auch heute überzeugt, muss keine Angst vor der Zukunft haben – nur davor, sich weiterhin selbst ein Bein zu stellen. The future is unwritten - fangen wir mit unserer neuen fortschrittlichen Erzählung an.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

Benjamin-Immanuel Hoff

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