Die Kraft der Gemeinsamkeit

Rezension Peter Brandt und Detlef Lehnert legen eine kurzweilige Geschichte der Sozialdemokratie vor und Carsten Brosda wagt mehr Zuversicht.

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Auf Instagram teilte der SPD-Digitalminister in Rheinland-Pfalz, Alexander Schweitzer, verbunden mit einem skeptischen „Hmmmm“ kürzlich folgenden Post der heuteshow: „Jürgen Klopp hört nach der Saison beim FC Liverpool auf. Bisher hat er sich immer langfristige Projekte gesucht, die gerade schlecht liefen und sie zurück auf die Erfolgsspur gebracht. Die Chance ist also groß, dass er zur SPD geht.“

Die Zahl der Witze und Memes auf Kosten der SPD dürfte inzwischen ebenso unüberschaubar sein wie der Umfang an Publikationen über die Geschichte und Gegenwart der Sozialdemokratie. Eine eigene Abteilung in der Bibliothek der Sozialdemokratie ist wohl den Abgesängen auf die älteste Partei Deutschlands gewidmet. Zwei jüngere Publikationen beanspruchen darin keinen Platz.

Der Hamburger Senator für Kultur und Medien, Carsten Brosda, macht sich in seinem beim Hamburger Verlag Hoffmann und Campe erschienenen Buch „Mehr Zuversicht wagen“ Gedanken darüber, „wie wir von einer sozialen und demokratischen Zukunft erzählen können“. Und widmet das Kapitel „Der heisse Scheiss von gestern“ popkulturellen Spötteleien und im wahrsten Sinne des Wortes Abgesängen auf die SPD.

Im Dietz-Verlag Bonn legen Detlef Lehnert und Peter Brandt eine „Kurze Geschichte der deutschen Sozialdemokratie vor“, die – wie die Autoren festhalten – den veränderten Lesegewohnheiten Rechnung trägt, indem auf den üblichen wissenschaftlichen Apparat von Fußnoten etc. verzichtet wird.

Eine kurze Geschichte der Sozialdemokratie

„Seriöse Geschichtsschreibung unternimmt nur gewissermaßen rückblickende »Prophetie« und verstummt, wenn die Schwelle der allerjüngsten Vergangenheit in die noch fließende Aktualität einer ungewissen Zukunft hinübergleitet“, formulieren beide Autoren in der Schlussbetrachtung und wagen sich also recht weit vor, denn ihre SPD-Geschichte endet mit der Bundestagswahl 2021 und den ersten Handlungen der Ampel-Regierung unter den Bedingungen des russischen Aufmarsches an der ukrainischen Grenze.

Den Bogen von den „Grundlagen der Entstehung einer deutschen Arbeiterbewegung“ bis zur Ampel-Regierung schlagen Brandt/Lehnert in 16 Kapiteln, die angesichts des Gesamtumfangs von 244 Seiten, in der Darstellung komprimiert sind und wenigstens vier bis maximal 20 Seiten umfassen. Der inhaltlichen Tiefe gereicht dies keineswegs zum Nachteil, denn beide Autoren sind mit dem Gegenstand ihrer Publikation nicht nur exzellent vertraut, sondern der Partei als Mitglieder der Historischen Kommission der SPD auch solidarisch kritisch verbunden.

Detlef Lehnert, an der FU Berlin Professor für Politikwissenschaft, leitet die Paul-Löbe-Stiftung Weimarer Demokratie. Peter Brandt ist der älteste Sohn Willy Brandt und war bis zu seiner Emeritierung Professor für Neuere Geschichte an der Fernuniversität Hagen. Als Co-Autor eines Gutachtens über die NS-Verstrickungen der Hohenzollern, trug Brandt jüngst zu einer der bedeutenden geschichtspolitischen Debatten bei. Auch sonst scheut Brandt die Kontroversen nicht. Sowohl bei sehr umstrittenen Beiträgen, u.a. ein Interview in der rechten »Jungen Freiheit« oder auf einer Wellenlänge zu Wagenknecht/Schwarzer & Co. beim Ukrainekrieg liegend.

Die Kapitel 2 bis 6 umfassen den Zeitraum von der Gründung des »Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins« durch Ferdinand Lassalle 1863 bis zum Ersten Weltkrieg, die Spaltung der Sozialdemokratie in die Mehrheits-SPD und die »Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands« (USPD) 1917 sowie die Rolle der beiden sozialdemokratischen Parteien in der Novemberrevolution 1918. Auch für historisch nicht bewanderte Leser:innen dürfte die von Brandt/Lehnert gewählte Erzählweise, die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, handelnden Akteure (es waren mit wenigen Ausnahmen, darunter Rosa Luxemburg, absolut überwiegend Männer) sowie grundsätzlichen Debatten über die richtige Strategie zur Erringung der sozialistischen Gesellschaft nachvollziehbar werden lassen.

Der Erste Weltkrieg markiert, in den Worten des britischen Historikers Eric Hobsbawm den Übergang vom »langen 19. Jahrhundert« zum »kurzen 20. Jahrhundert«, das mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus in Folge der Friedlichen Revolutionen im sowjetischen Herrschaftsbereich endete und das »Zeitalter der Extreme« darstellte. Dieser Zeitspanne widmen Brandt/Lehnert die Kapitel 7 bis 12.

Sachlich im Ton und dicht gedrängt in der Darstellung beschreiben sie die »Erschütterungen der Weimarer Demokratie 1920-1929« und die »Katastrophenepoche 1930-1945«. Während die Spaltung der Sozialdemokratie durch die Wiedervereinigung von USPD und SPD zunächst überwunden wird, bleibt die Kluft in der Arbeiter:innenbewegung unüberwindbar. Auch die linkssozialistischen und rechtskommunistischen Zwischengruppen können daran nichts ändern. Erst im Exil, im Widerstand und den Todeslagern der Nationalsozialisten entsteht eine antifaschistische Praxis. Diese bleibt gleichwohl von den außenpolitischen Interessen der Sowjetunion nie unberührt.

Im Neubeginn nach der Befreiung vom Faschismus nehmen Sozialdemokrat:innen an vielen Stellen wichtige Funktionen ein. Wie auch in der KPD bestehen zwischen den Erfahrungen der aus dem Exil zurückkehrenden Akteure und denjenigen, die aus den Zuchthäusern und Todeslagern entlassen werden, nicht unerhebliche Differenzen. Der vielfache Wunsch nach Überwindung der Spaltung in der Arbeiter:innenbewegung ist nicht zu verwechseln mit dem Ruf nach einer Einheitspartei, die in der Sowjetischen Besatzungszone mit Mitteln des Zwangs durchgesetzt wird. Die Teilung Deutschlands begünstigt die Konservativen und benachteiligt die SPD, deren Hochburgen in Mitteldeutschland zur DDR gehörten bzw. wie die Bundestagsabgeordneten aus West-Berlin nicht stimmberechtigt waren. Georg August Zinn, Hessens SPD-Ministerpräsident von 1950 bis 1969, machte aus dem Bundesland eine Art Alternativmodell zur herrschenden Bonner-Koalition. Nicht umsonst reimte die Union in einem Bundestagswahlkampf: „Regierung Zinn stützt Ollenhauer. Drum CDU für Adenauer!“. Lehnert/Brandt beschreiben die Auseinandersetzungen um und den Widerstand der SPD gegen die militärische Westintegration sowie die Herausbildung des Sozialmodells, das heute als »rheinischer Kapitalismus« bezeichnet wird.

Ab Mitte der 1950er Jahre konnte die SPD zunächst in den Ländern zulegen und änderte zunächst die Organisationsstruktur sowie in Bad Godesberg die programmatischen Grundsätze fundamental. Die sozialliberale Koalition in NRW von 1966 nahm den Regierungswechsel 1969 in Bonn vorweg. Spannender als die Darstellung der „Entspannungspolitik und Reformära“ im sozialliberalen Jahrzehnt 1969/70 bis 1980 sind die nachfolgenden Kapitel 12 „Jahre des Umbruchs 1981-1989: Machtverlust und Milieuerosion“ sowie Kapitel 13 „Die ersten Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung 1990-1998: Vom Wahldebakel zum Wahlsieg“. Die Anerkennung der Umweltpolitik als Handlungs- und Zukunftsfeld in den „mit der Arbeitswelt verbundenen Mitglieder- und Funktionärsschichten in SPD und vielen Gewerkschaften“ [S. 179] wird ebenso lebendig, wie die Ambivalenzen zwischen den Generationserfahrungen der Älteren um Willy Brandt oder Johannes Rau und der Juso-Generation um Oskar Lafontaine, Walter Momper oder Gerhard Schröder in der Kontroverse um die richtige Gestaltung der deutschen Einheit und des Transformationsprozesses Ost.

Die Geschichte um die Troika zur Bundestagswahl 1994, den Mannheimer Parteitag 1995 und den rot-grünen Wahlsieg sowie Donnerschlag des Lafontaine-Rücktritts 1999 sind oft erzählt worden. Insoweit erfahren Lebensältere hier nichts grundlegend Neues.

Doch bereits die Kapitelüberschrift „Rot-grüne Regierung 1999-2005: Liberalisierung und ‚neoliberale‘ Tendenzen“ macht den Fokus der beiden Autoren deutlich. Der Analyse ist nicht zu widersprechen: „Um die Jahrtausendwende gehörten 11 von 15 Regierungschefs der Europäischen Union (noch ohne Osterweiterung) einer sozialdemokratischen Partei an. Etliche von ihnen verhedderten sich in denselben Fallstricken wie ‚New Labour‘ und – etwas gemäßigter – die SPD. Die Folgen für die gesellschaftliche Entwicklung der betreffenden Länder waren teilweise noch dramatischer als in Deutschland. Im drauffolgenden Jahrzehnt brach die Unterstützung der Wählerschaft für diese Wirtschaftspolitik weg.“ [S. 203] Mit dramatischen Folgen für die SPD und ihre Schwesterparteien.

Gleichzeitig agierten die Parteien in einer neoliberalen (den Begriff diskutieren die Autoren kritisch) medial geprägten Diskurshegemonie, wie Lehnert/Brandt am Beispiel der „Standortdebatte“ exemplarisch zeigen: „Realistisch betrachtet hätte kaum eine vergleichbare Industrienation jene gigantischen Transferleistungen des ‚Aufbau Ost‘ so unbeschadet überstanden und dabei die Wettbewerbsfähigkeit des Landes – ungeachtet problematisch hoher Exportüberschüsse – erhalten. Stattdessen wurden vorübergehend unterdurchschnittliche Wachstumsraten für durchsichtige politische Interessen instrumentalisiert. Dass in einem solchen Meinungsklima und angesichts weniger gesicherter Beschäftigungsverhältnisse die Neigung, Kinder in die Welt zu setzen und Familien zu gründen, rückläufig war und dies demografische Argumente lieferte, um weitere Kürzungen zu begründen, darf teilweise als sich selbst erfüllende Negativprophetie bezeichnet werden.“ [S. 205]

Die Kapitel 15 und 16 widmen sich der SPD in den Großen Koalitionen ab 2005 und dem andauernden Prozess der Korrekturen der Agenda 2010. Die beiden Autoren analysieren, nicht überraschend wer sie kennt und für die Alterskohorte der Mitglieder, die sie repräsentieren, dass unter den Mandatsträgern und Mitgliedern in den Städten „deutlich stärker als in der Gesamtmitglied- und Wählerschaft […] statt ‚harter‘ sozialer Fragen, Gleichheits- und Umverteilungsforderungen […] Gesichtspunkte individueller Freiheit und Entfaltungschancen, kultureller und ethnischer Vielfalt und Genderpolitik“ dominieren. „Kritische Stimmen sprechen dann“, so die Autoren, „von einem ‚progressiven Neoliberalismus‘, wenn – wie seit der Amtszeit von Bill Clinton als US-Präsident – ein Hyperindividualismus mit Marktentfesselung und der Vernachlässigung sozialer Sicherheit einhergeht.“ [S. 232]

Für die SPD in der Ampelregierung haben die Autoren einen Rat: „Will die Partei den fragilen Zuwachs von 2021 erhalten, muss sie eine für die unteren und mittleren Sozialgruppen überzeugende Regierungspolitik betreiben sowie einen deutlich erkennbaren politischen ‚Markenkern‘ der SPD prägen. Dieser hieß in früheren erfolgreichen Regierungsjahren: Streben nach Frieden und sozialer Gerechtigkeit, Bildungsreformen und Demokratisierung auch von Wirtschaft und Gesellschaft“ [237f.]. Hier sprechen die Autoren als teilnehmende Beobachter in der noch fließenden Aktualität einer ungewissen Zukunft.

Mehr Zuversicht wagen

Das öffentliche Gespräch und die von Habermas begründete Idee, dass es die zwischenmenschliche Kommunikation vernunftbegabter Personen ist, auf die jede Form von Gesellschaft gründet, bekennt Carsten Brosda in seinem jüngsten Buch, ist so etwas wie sein Lebensthema.

Da für dieses öffentliche Gespräch kluge Interventionen wertvoll und hilfreich sind, publizierte Brosda bei seinem Hausverlag Hoffmann und Campe in den vergangenen Jahren ebenso kluge wie verständliche Beiträge (vgl. »Die Zerstörung. Warum wir für den gesellschaftlichen Zusammenhang streiten müssen«; »Die Kunst der Demokratie. Die Bedeutung der Kultur für eine offene Gesellschaft«).

Von seinem Verleger gebeten, eine Kulturgeschichte der SPD zu verfassen, unterbreitete Brosda den Vorschlag, über Kultur, Geschichten und die SPD zu schreiben. Eine richtige Entscheidung, wie sich herausstellte. Denn Carsten Brosda hat sein wohl bisher persönlichstes und gleichzeitig ebenso grundsätzliches wie über weite Strecken vergnügliches Buch vorgelegt.

Aufgewachsen ist Brosda in Gelsenkirchen, im Ruhrgebiet und inmitten all der Veränderungen, die Soziolog:innen als Umbruch von der Industriegesellschaft mit fordistischer Produktionsweise zur postfordistischen Dienstleistungsgesellschaft beschreiben.

Diese Veränderungen werden bei Brosda lebendig anhand der kleinen Wiese vor seinem Elternhaus, inmitten der beide umgebenden Industriebetriebe. Auf die Wiese, seine Prägungen und seine Familie kommt er immer wieder zurück. Und auf seine Partei – „Die SPD war überall“, lautet die Überschrift eines der ersten Kapitel: „Die SPD war eine Chiffre für den besseren Zustand der Gesellschaft, und entsprechend breit war das Bündnis derer, die für sie (und teilweise auch in sie) eintraten. […] Als in den achtziger und neunziger Jahren dann immer mehr Zechen und Hochöfen und Arbeitsplätze verschwanden, als die industriellen Dämme um meine Jugendwiese weggeschwemmt wurden, geriet auch die Sozialdemokratie in Schwierigkeiten. Denn ihre Geschichte war eng mit dieser Industrie verwoben.“ [S. 37]

Wenn Lehnert/Brandt feststellen, dass sich in der neoliberalen Diskurshegemonie der frühen 2000er Jahren etliche sozialdemokratische Parteien „verhedderten“, unternimmt es Brosda, diese Stricke analytisch zu entwirren. So gut der »Dritte Weg« von Blair/Schröder „in der Theorie klang, weil es mit viel Freiheits- und Fortschrittspathos erzählt werden konnte, so wenig funktionierte es in der Praxis. Stattdessen half die Sozialdemokratie den Staat zu diskreditieren.“ [S. 256]

Und er macht sich auf die Suche nach einer starken sozialen und demokratischen Erzählung. Obwohl Brosda in der Parteizentrale, dem Willy-Brandt-Haus, als Redenschreiber für Franz Müntefering und für die Bundespräsidentin-Kandidatin Gesine Schwan arbeitete, meint Brosdas forschrittliche und Hoffnung machende Erzählung gerade nicht ein aus Kampagnenbüros und von Beratern auf Basis von Umfragedaten entwickeltes »Narrativ«. Es geht ihm um nicht mehr und nicht weniger als die sich aus konkreten Geschichten speisende Überzeugung, dass tatsächlich niemand zurückgelassen oder übersehen, ausrangiert, entrechtet oder diskriminiert zu werden darf.

Brosda beschreibt, was ihm durch den Kopf ging, als der britische Dramatiker Simon Stephen 2018 über die Kraft des Geschichtenerzählens referierte und zu dem verheerenden Schluss kam, dass man diese Kunst den Rechten und Populisten überlassen habe. „Vielleicht, weil wir es vernachlässigt haben, uns ausreichend um sie zu kümmern, sind die Geschichten den Bastarden in die Hände gefallen“, mahnte Stephen seinerzeit und sah darin die Ursache für den erfolgreichen Brexit.

Während die EU-Befürworter mit nackten Fakten überzeugen wollten, seien sie von den Gegnern als »Experten« verhöhnt worden, auf die niemand mehr hörte. Brosdas Aufruf, mehr Zuversicht zu wagen, wird zu einer Wiederentdeckungsreise nach zuversichtlichen Erzählungen aus Literatur, Film, Popmusik und Politik. Dem reichhaltigen Schatz der Arbeiter:innenbewegung, der Geschichten über den Mut und die Hoffnung, die Welt besser zu machen. Die Stationen dieser Reise: „Respektvolle Freiheit“, „Nachhaltige Gerechtigkeit“, „Öffentliche Solidarität“ mit Haltepunkten wie „Freiheitserzählungen vom Fall der Mauer“, „The Gospel according to Bruce Springsteen (I) und (II)“ oder dem Scholz-Klassiker „You’ll Never Walk Alone“.

Anders als bei vielen anderen Büchern, die mit ähnlich einschlägigen Versprechen wie „Mehr Zuversicht wagen“ aufwarten, hält Brosda was er verspricht. Das Buch inspiriert. Zum Nach- und Weiterdenken sowie zum Download der Playlist mit allen im Buch erwähnten Songs, auf den einschlägigen Plattformen.

Dass Carsten Brosda der Nähe zu SPD-Linken unverdächtig ist, daran lässt er keinen Zweifel – und fordert zum Widerspruch heraus. So, wenn er am Beispiel des erfolgreichen Berliner Volksentscheids »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« formuliert: „Hinter dem Wunsch nach der Übernahme solcher Infrastrukturen steht oft kein politisches Kalkül, sondern die Haltung entspringt vor allem einem Unbehagen gegenüber Unternehmen, die in den Augen vieler bloß so tun, als würden sie sich um das Gemeinwohl kümmern, obwohl sie nach wie vor in erster Linie Profitabsichten verfolgen. Diese durchaus nachvollziehbare Emotion ist kein guter Ratgeber auf der Suche nach angemessenen demokratischen Antworten auf solche ökonomischen Verwerfungen. Vor allem deshalb nicht, da der Euphorie des Erfolgs in der demokratischen Abstimmung die Ernüchterung auf dem Fuß folgt, wenn klar wird, dass ein Wille alleine nicht reicht, um die Dinge zu bewegen. Mindestens das Recht und die Mittel zu handeln müssen hinzukommen.“ In solchen Passagen klingt Carsten Brosda wie das Gegenteil der Geschichten, die er beispielsweise anhand des Filmes „Pride“ erzählt.

Das „Unbehagen“ vermeintlich ohne politischem Kalkül von dem Brosda spricht, ist für viele, vermutlich die Mehrheit, der Bewohner:innen bundesdeutscher Städte eine existenzielle Frage. Die Mietenfrage die soziale Frage unserer Zeit, wenn ein immer größerer Teil des Haushaltseinkommens von den Mietzahlungen beansprucht wird. Im Volksentscheid artikulierte sich eine politische Selbstbestimmung, nicht weniger als bei den britischen Minenarbeitern, die Billy Bragg besingt und über die Brosda schreibt. Verbunden mit der normativen Erwartung, dass diejenigen Parteien, die seinerzeit in Berlin neben den städtischen Energieunternehmen auch öffentliche Wohnungsbauunternehmen privatisierten, Verantwortung für die Rekommunalisierung eben dieser Infrastrukturen tragen sollen. Dass diejenigen, die dem Volksentscheid von 2021 zur Mehrheit verhalfen, das Recht auf ihrer Seite haben, stellte im Sommer des vergangenen Jahres die eigens vom Senat eingesetzte Expertenkommission „Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen“ mehrheitlich fest.

Anhand eines Songs von Tom Liwa und dessen Band Flowerpornoes formuliert Brosda lakonisch, wer von der SPD mehr Klassenkampf erwarte, bei dem sei Hopfen und Malz verloren [S. 40]. Nun muss es nicht gleich der Klassenkampf sein. Es würde fürs erste schon die Akzeptanz gut tun, dass nicht jeder, der heute noch von Klassen spricht, altgestrig aus der Zeit gefallen sei.

Auch in einer Welt in der die Lohnarbeit vielfältiger ist denn je und die Zugehörigkeit zu einer Klasse für viele nicht die einzige gesellschaftliche Position neben weiteren Zugehörigkeiten wie Geschlecht, Ethnie, Herkunft etc., bestehen dennoch Klassen und gibt es dementsprechend Klassenhandeln. Aus der Gesamtheit dieser Zugehörigkeiten entstehen die politischen emanzipatorischen Kämpfe. Die sich aus dem Erbe der Arbeiter:innen- und weiteren emanzipatorischen Bewegungen speisen – und wenn es nach Brosda geht, der Gegenwart und Zukunft der Sozialdemokratie.

Kollektives Klassenhandeln entspringt der Überzeugung, dass Fortschritte für »Leute wie uns« nicht durch Einzelaktionen, sondern nur durch kollektive und organisierte Aktionen zu erreichen sind (Horst Kahrs). Brosda beschreibt dies als organische Solidarität, in Abgrenzung zu mechanischer Solidarität. Dieser Widerspruch lässt sich auflösen in einem modernen, zeitgemäßen Klassenbegriff. In diesem Sinne bestehen für die Leser:innen und möglicherweise für Carsten Brosda selbst noch weitere Haltepunkte, an denen spannende Geschichten links der Sozialdemokratie erzählt werden. Die geben uns Progressive bzw. Mosaiklinken Zuversicht und machen Lust auf Geschichten über unsere Erfolge heute und morgen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

Benjamin-Immanuel Hoff

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