Sozialisten gegen Antisemitismus

Rezension Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes und geknechtetes Wesen ist, war Anspruch der sozialistischen Bewegung. Ihr nie einfaches Verhältnis zum Antisemitismus beleuchtet ein beim VSA-Verlag erschienener Band.

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Mario Keßler, der bis zu seiner Emeritierung 2021, mit diversen Gastaufenthalten an renommierten Hochschulen u.a in Israel und den Vereinigten Staaten, an der Universität Potsdam lehrte, gehört wohl zu den profundesten Kenner:innen der sozialistischen und kommunistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Im Laufe seines wissenschaftlichen Lebens widmete er sich immer wieder der Auseinandersetzung innerhalb der gesellschaftlichen Linken mit dem Antisemitismus.

Im Hamburger VSA-Verlag erschien nun sein neuestes Buch „Sozialisten gegen Antisemitismus. Zur Judenfeindschaft und ihrer Bekämpfung (1844 – 1939)“. Es knüpft, wie Keßler in der Einleitung deutlich macht, sowohl an die inzwischen vergriffene Publikation aus 1994 aber auch an publizierte Vorträge Keßlers an, die u.a im trafo-Verlag veröffentlicht wurden.

Der mit 366 Seiten recht umfangreiche Band umfasst 13 Kapitel nebst Nachwort sowie den Nachdruck von 17 Dokumenten, bei denen es sich um Reden, Briefe oder Artikel von Moses Hess, Friedrich Engels, August Bebel ebenso wie Karl Kautsky, Rosa Luxemburg oder Lenin, Bucharin oder Trotzki (zweimal vertreten) handelt.

Im ersten Kapitel „Judenfeindschaft, Judenemanzipation und Sozialismus“ umreißt Keßler das von ihm in den weiteren Kapiteln kolorierte Panorama.

Das Aufkommen der Massenparteien führte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur zur Entstehung der viele Jahre trotz Repressionen immer stärker werdenden sozialistischen Parteien, sondern auch „die Wendung der bisher vorwiegend mit religiösen Deutungsmustern operierenden Judenfeindschaft zum politischen Antisemitismus“ (S. 15) und die „‚kulturelle Transformation des Fin de siècle‘ stellte die Weichen für die Frühformen der faschistischen Bewegung, die im Pariser Dreyfus-Prozess (1894-1898) und weiteren antisemitischen Schauprozessen erstmals eine massenwirksame Propagandatätigkeit entfalteten“.

Keßler legt dar, dass „die Positionen der Arbeiterbewegung gegen der ‚jüdischen Frage‘ zunächst nicht einheitlich [war]; der Weg zu ihrem Verständnis und zur Solidarität mit den immer stärker verfolgten Juden war lang und spannungsreich.“ (S. 16).

Marx‘ antijüdische Tiraden und Engels „Anti-Dühring“

Den im ersten Kapitel erwähnten „vorurteilsbeladenen, auch antijüdisch zu deutenden Äußerungen von Karl Marx“ und „zweideutige Positionen von Friedrich Engels, die dann aber zu seiner entschiedenen Bekämpfung des Antisemitismus führten“ (S. 16) widmet sich Keßler ausführlich in Kapitel 3 „Ambivalenzen und Grenzen: Karl Marx und die Juden“ sowie Kapitel 4 „Friedrich Engels und der Antisemitismus“.

Über das Thema „Karl Marx und die Juden“ ist bereits eine umfangreiche Forschungsliteratur entstanden, auf die der umfangreiche Quellenapparat Keßlers verweist. Auf den 15 Seiten des Kapitels benennt Keßler anhand verschiedener Beispiele, dass „die Schriften von Karl Marx […] voller gehässiger Äußerungen gegen politische Widersacher jüdischer Herkunft [sind], am deutlichsten gegen Lasalle. […] Auch die Anfänge des jüdischen Sozialismus finden bei Marx keinen schriftlich nachweisbaren Niederschlag“ (S. 28). Die Marxsche „heftigste Antipathie gegenüber den Juden“ wiegt aus Keßlers Sicht ebenso schwer wie dessen Desinteresse gegenüber der „jüdischen Arbeitsbewegung, gerade, weil Marx das Entstehen selbst noch so marginaler sozialistischer Gruppen in der ganzen Welt aufmerksam verfolgte und gern kommentierte“ (S. 36).

Die antijüdischen Tiraden und Beschimpfungen, derer sich Marx insbesondere in seinen Briefen u.a. an seinen Freund Friedrich Engels bediente, kollidieren mit unserem Marx- Bild. Und so mag die von Keßler vorgenommene Interpretation, dass der als 6-jähriger durch Entscheidung seines Vaters vom Judentum zum Christentum konvertierte Marx „in einem Milieu von Neubekehrten aufwachsend, jeder jüdischen Erziehung bar, […] den Einflüssen seiner christlichen Umwelt, die nicht besonders judenfreundlich war, offen ausgesetzt“ war (S. 31), nicht zufriedenstellen. Man möchte glauben, dass Marx, der mit der Einführung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie ein sowohl inhaltliches wie sprachliches Meisterstück der junghegelianischen Religionskritik vorlegte, zur Überwindung der beengenden Grenzen seiner milieugeprägten Sozialisation fähig war. Allein weder Bildung noch akademische Meriten schützten andere Zeitgenossen vor tradierten und je milieuspezifischen antisemitischen Ausfälle und Fehlschlüssen, wie Paul Massing in seiner 2021 von der Europäischen Verlagsanstalt neu aufgelegten „Vorgeschichte des politischen Antisemitismus“ präzise darlegt.

Insofern erschienen in der von Marx als verantwortlichem Redakteur herausgegebenen „Neuen Rheinischen Zeitung“ Beiträge, die Keßler, den Gründer der 1919 entstandenen Kommunistischen Partei Ostgaliziens, Roman Rosdolsky zitierend, als „geschmacklose antijüdische Korrespondenzen“ bezeichnet (S. 44). Sie waren, wie Keßler im Kapitel zu Friedrich Engels herausarbeitet, Teil eines Antisemitismus, der zwar vom Antikapitalismus inspiriert war, doch keineswegs progressiv. Denn er zielte nicht auf die Gleichberechtigung der Jüd:innen, sondern auf ihre Ausgrenzung (ebd.).

Auch Friedrich Engels war vor antijüdischen Tiraden nicht gefeit – im Gegenteil gebrauchte er wie sein Freund Marx in der politisch-inhaltlichen Auseinandersetzung mit ihrer beiden Widersacher deren jüdische Herkunft für Schmähungen. Anders als Marx reflektierte Engels dies jedoch zu späterer Zeit und legte mit dem 1878 erschienen sogenannten Anti-Dühring eine wichtige Streitschrift vor, die sich insbesondere gegen den Antisemitismus Eugen Dührings wendete. Die Darstellung Keßlers liest sich spannend und erkenntnisreich und wird nur dadurch geschmälert, dass Keßler, der sich in diesen Kapiteln früherer Vorträge bedient, Redundanzen nur unwesentlich abgemildert hat. Diese unnötigen Wiederholungen sind ärgerlich, weil sie leicht vermeidbar gewesen wären.

Jüdischer Sozialist der ersten Stunde

Im fünften Kapitel „Proletarische und jüdische Emanzipation bei Moses Hess“ stellt Keßler einen jüdischen Sozialisten der ersten Stunde vor, den Marx im Jahr 1841 kennenlernt und Engels zwei Jahre später. Gemeinsam arbeiten Hess und Marx 1842 für die „Rheinische Zeitung“. Während die Metapher „Religion ist das Opium des Volkes“, vielfach fehlinterpretiert als die Beseitigung der Religion, statt der eigentlichen Intention, eine Welt anzustreben, in welcher der Mensch keiner Religion mehr bedarf, gemeinhin allein Marx zugeschrieben wird, ist die Verbindung von Rauschmittel und Religion in verschiedenen Religionskritiken anzutreffen. So auch bei Moses Hess, der 1843 den Aufsatz „Die Eine und ganze Freiheit“ – im Erstdruck anonym publiziert – in der Schweiz von Georg Herwegh in „Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz“ herausgeben lässt, da eine ursprünglich gemeinsam mit Marx verabredete Publikation nicht zustande kam.

Keßler widmet sich Moses Hess in drei Schritten - als dem Theoretiker jüdischer Emanzipation, der in der Zuerkennung gleicher staatsbürgerlicher Rechte die Grundlage jüdischer Anerkennung sah, dem „Vorläufer der jüdischen nationalen Emanzipation“, für die ihn „der politische Zionismus als einen seiner Ahnherren reklamieren“ sollte (S. 64) und im Hinblick auf sein umstrittenes Erbe. Moses Hess, der „zu verschiedenen Zeiten seines Lebens Spinozist, Hegelianer, Feuerbachianer, Monist und Marxist“ war, fand nie „Eingang in die Ruhmeshalle sowjet-kommunistischer Provenienz“ (S. 66). Wichtiger als ein Platz in dieser Halle ist aus heutiger Sicht wohl das von Keßler zitierte Fazit, das Ernst Bloch über Moses Hess zog: Als einer der ersten hat der das Judentum, wie er es aus den Propheten las, auf die Sache des revolutionären Proletariats bezogen. […] Zionismus mündet im Sozialismus oder er mündet überhaupt nicht“ (S. 69f.).

Das im Kapitel 12 über die Komintern, die KPD und ihre Dissidenten enthaltene Unterkapitel „Von Thalheimer bis Trotzki: die kommunistischen Dissidenten“ hätte im Anschluss an die biografischen Porträts von Marx, Engels und Hess vom Umfang und Inhalt aus besehen ein eigenes Kapitel gerechtfertigt.[1]

Sozialistische Dreyfusands

Ebenso knappe wie spannend zu lesende Einblicke in die sich herausbildenden Organisationen der Arbeiter:innenbewegung bieten Kapitel 7 „Der französische Sozialismus und der Dreyfus-Prozess“ sowie das Kapitel 8 „Jingoismus und Antisemitismus: Die britische Arbeiterbewegung bis 1914“.

Die Dreyfus-Affäre war ein haarsträubender Justizskandal, der sich rasch zu einer politischen Krise auswuchs, und dessen Aufdeckung sich der hartnäckigen Verteidigung republikanischer Werte durch Emile Zolá und vieler weiterer sogenannter Dreyfusards verdankte. Die sozialistische Bewegung Frankreichs war nicht frei davon, in Teilen zeitweilig in die antisemitische Hysterie einzustimmen, sondern musste die strategische Herausforderung bewältigen, zu verstehen, dass die Affäre Dreyfus keine rein bürgerliche Angelegenheit sei, von der das Proletariat sich fernzuhalten habe.

Die von Monarchisten, Bonapartisten und militanten Klerikalen genutzte Dreyfus-Affäre richtete sich sowohl gegen die Assimilation der französischen Jüd:innen zu jüdischen Französ:innen als auch gegen die Dritte Republik, mit dem Ziel der Wiederherstellung vorrepublikanischer Zustände. Umso wichtiger war es, wie Keßler spannend schildert, dass der bedeutsame Sozialist Jean Jaurès sich zur humanistischen Verpflichtung des Sozialismus bekannte (S. 105). Der jüdische Sozialist und erste sozialistische Ministerpräsident der „Front populaire“, schrieb 1935 seine Erfahrungen mit der Dreyfus-Affäre nieder, die 2005 vom Berenberg-Verlag unter dem Titel „Beschwörung der Schatten“ wieder herausgebracht wurden. Blum, dessen Bruder in Auschwitz ermordet wurde und der selbst das Thüringer KZ Buchenwald überlebte, widmet sich darin auch der Frage, warum es den Dreyfusards zwar gelang, den Antisemitismus auf der politischen Bühne Frankreichs zurückzudrängen, nicht aber zu besiegen. Keßler zeigt, dass die Dreyfus-Affäre auch die Geburtsstunde der „Action francaise“ war, der „über Jahrzehnte hinweg wichtigste Zusammenschluss der französischen Judenfeinde“, die „dem Vichy-Regime als ideologische Basis“ dienten (S. 111).

Gewerkschaftlicher Rassismus und Antisemitismus

Im England des späten 19. Jahrhunderts riet der „Trade Union Congress 1888 […] seinen Mitgliedern, ein wachsames Auge auf die eingewanderten jüdischen Arbeiter zu werfen. Sie galten weniger als Klassengenossen, sondern vielmehr als Eindringlinge, mit denen man nichts zu tun haben wollte.“ (S. 114)

Die Differenz zwischen einem inklusiven, internationalistischen Solidaritätsverständnis sozialistischer resp. gewerkschaftlicher Organisierung und einer exklusiven, segregierenden Politik war und ist nicht allein auf die britische Arbeiter:innenbewegung beschränkt. Sebastian Conrad beispielsweise zeichnet in seinem bereits 2003 erschienenen Aufsatz „‘Kulis‘ nach Preußen? Mobilität, chinesische Arbeiter und das Deutsche Kaiserreich 1890-1914“ nach, welche rassistischen antichinesischen Aufwallungen in der deutschen Arbeiter:innenschaft bestanden. Analog zu Großbritannien warfen auch nicht wenige deutsche Gewerkschaftsvertreter den chinesischen Arbeitern Agententätigkeit für die Kapitalisten durch Lohndrückerei vor.

In Britannien multiplizierte sich, wie Keßler zeigt, der Antisemitismus, der das Gegenteil eines Integrationsangebots der Arbeiter:innenbewegung darstellte, mit dem Zerrbild des „Juden als dem kapitalistischen Ausbeuter par excellence, dessen internationale Verbindungen kaum durchschaubar und jedenfalls der Sache des englischen Arbeiters schädlich seien.“ (ebd.)

Allein die Socialist League zeigte Interesse und Solidarität für die zumeist vor der von Pogromen geprägten Realität Osteuropas zugewanderten besitzlosen jüdischen Arbeiter:innen, die oft die körperlich schwerste Arbeit verrichteten und dafür niedrigere Löhne als ihre britischen Klassengenoss:innen erhielten.

Deren Rolle tritt in der Darstellung Keßlers hingegen hinter die von Henry Hyndman dominierte Social Democratic Federation (SDF) zurück, anhand derer Keßler zeigt, wie im zweiten Burenkrieg und danach Jüd:innen als vermeintlich kapitalistische Profiteure des Krieges antisemitisch stigmatisiert wurden.

„Die künftige Hinwendung der 1906 gegründeten Labour Party zum Zionismus, die nicht ethischen Motiven [entsprang], sondern […] Ausdruck eines ‚gesamtbritischen‘ Herrschaftsinteresses [wurde], zu dessen Aufgaben die Sicherung des Empire gehörte – nun im Mandatsgebiet Palästina“ (S. 119), deutet Keßler im letzten Absatz des achten Kapitel leider nur an und verzichtet auf weitere Ausführungen. Im Folgenden neunten Kapitel „Antisemitismus und Zionismus: die Zweite Internationale“ finden sich zwar einzelne Hinweise dort, wo Keßler auf einzelne koloniale Bestrebungen unterstützende Positionen sozialistischer Parteien oder Politiker eingeht, doch unterbleibt eine weitergehende Betrachtung.

Dichte Erzählung bei wünschenswert anders gestricktem roten Faden

Unterliegt die Darstellung in den ersten acht Kapiteln einer sinnvoll abgegrenzten und nachvollziehbaren Struktur, vermisst diese der interessierte Leser in den nachfolgenden viereinhalb Kapiteln. Diese widmen sich „Zarismus, Revolution und Bürgerkrieg: Russland und die Linke“ (Kapitel 10), „Der Antisemitismus als Problem der Sowjetgesellschaft“ (Kapitel 11), „Die Komintern, die KPD und ihre Dissidenten“ (Kapitel 12) sowie „Die europäische Sozialdemokratie zwischen den Weltkriegen“ (Kapitel 13).

Diese Schwäche im strukturellen Aufbau ist möglicherweise dem Umstand geschuldet, dass Keßler auf eine Vielzahl bereits veröffentlichter Texte zurückgreift, die noch sorgfältiger hätten miteinander verbunden werden müssen. Denn während das Kapitel 9 über Antisemitismus, Zionismus und die zweite Internationale beispielsweise bereits Wissen über den „Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland“ voraussetzt, wird dessen Entstehung erst vierzig Seiten später im 10. Kapitel über Russland und die Linke erläutert.

Bedauerlicher als dies ist jedoch die zu starre Orientierung von Mario Keßler an den von ihm bereits publizierten Texten und deren jeweils spezifischen Kontexten. So bleiben Chancen ungenutzt, die in der unzweifellos hochkompetenten Darstellung Keßlers enthalten sind. Bereits im einleitenden ersten Kapitel geht Keßler auf die manifesten Unterschiede zwischen dem westlichen Sozialismus und der jüdischen Realität in Osteuropa, also im geteilten Polen, Russland und Rumänien ein. Er legt dar:

„Im ‚westlichen‘ Sozialismus war mit der Integrationsidee die Absicht verbunden, jüdische Sozialisten sollten alles ‚Jüdische‘ aufgeben und sich vorbehaltlos als Teil der Nation und ihrer Arbeiterbewegung sehen, mochten manche Vorurteile dem noch entgegenstehen. Dies war in Osteuropa […] aus zwei Gründen unmöglich. Zum einen verhinderte eine rigide antisemitische Gesetzgebung und die daran geknüpfte Alltagspraxis eine Integration der dort zum Teil kompakt lebenden jüdischen Bevölkerung. Logisch bedingte zum anderen die Forderung nach Emanzipation dort ihre Befreiung als Volk mit weitgehend nationalen und kulturell spezifischen Merkmalen. Da die Juden aber kein eigenes Territorium besaßen, war ein Teil des Strebens nach Emanzipation mit der Forderung nach einem solchen Territorium verbunden, was den Aufstieg des Zionismus ermöglichte.“ (S. 17)

Es wäre ebenso lohnens- wie wünschenswert gewesen, hätte Keßler diese Differenzierung und diesen Gedanken zu einem roten Faden seines Buches und dessen Strukturaufbau gemacht. Entstanden wäre eine hervorragende Betrachtung der jüdischen Existenz und jüdischen sozialistischen bzw. kommunistischen Selbstorganisation des zaristischen Russlands, das damals auch Litauen, Weißrussland, die Ukraine sowie einen Großteil des zerteilten Polens umfasste, sowie des galizischen Teils der Habsburger Monarchie bis zum Ende des ersten Weltkrieges und der postrevolutionären Sowjetunion.

So finden sich leider „galizische Stimmen“ im Kapitel 6 über „Die deutschsprachige Arbeiterbewegung bis 1914“, im Kapitel 9 über die Zweite Internationale oder in den beiden Russland und der Sowjetgesellschaft gewidmeten Kapiteln 10 und 11, während der „Jüdische Arbeiterbund in Polen“ im Kapitel 13 als Teil der europäischen Sozialdemokratie zwischen den Weltkriegen aufgerufen wird.

Wer sich davon nicht beirren lässt, wird für die Mühe durch Einblicke zum Beispiel in die Diskussionen der österreichischen Sozialdemokratie Otto Bauers belohnt, in der die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat naturgemäß eine vollkommen andere Rolle spielte als in der SPD.

Die Ausführungen Keßlers zum zaristischen Russland ebenso wie zur Sowjetgesellschaft und dem Schicksal der jüdischen Bevölkerung sind gewohnt kenntnisreich und ebenso dicht wie voraussetzungsvoll. Dies geht zum Teil auf Kosten der Lesbarkeit. So hätten Schautafeln zu den unterschiedlichen Parteien, Persönlichkeiten und Ereignissen Systematik in die zwischen den Jahrzehnten und Ereignissen flott voranschreitende Darstellung gebracht und das Buch auch für nur wenig kundige Leser:innen handhabbar gemacht.

Ein weiterer roter Faden, der einen anderen Strukturaufbau des Buches bedingt hätte, ist das Verhältnis von Sozialismus und Zionismus, das Keßler anhand des bereits erwähnten Bloch-Zitats prägnant aufwirft. Dass und wie – unter anderem in der Zweiten Internationale und der Kommunistische Internationale (Komintern) – das Verhältnis zum Zionismus die sozialistische Bewegung differenzierte, zeigt Keßler in kompetenter und spannender Form. Er bleibt dabei freilich auch hier den überwölbenden sozialistischen und kommunistischen Organisationen verbunden. Die zionistischen wie die nicht-zionistischen Organisationen sind zwar Gegenstand des Erkenntnisinteresses, bleiben aber dennoch nachrangig. Dieses Verhältnis umzudrehen, die Sichtweise zu verändern, hätte beispielsweise bedeuten können, die Erzählung von der Poale Zion ausgehen zu lassen. Nachdem sich 1901 der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund gegen den Zionismus ausgesprochen hatte, entstanden in russischen Städten eine Vielzahl zionistischer Zirkel. Sie führten in der Folge zu gleichartigen Gründungen in anderen Ländern mit jüdischen Exilgemeinden, so Palästina und den USA. In Den Haag führte Poale Zion 1907 ihren ersten Weltkongress durch und erhob den Anspruch einer eigenständigen Rolle. Jüdische Parteien und Organisationen wiederum waren bemüht, in der internationalen Arbeiter:innenbewegung als eigene (nationale) Sektionen anerkannt zu sein – entgegen der Mehrheitsauffassung der sozialistischen und kommunistischen Parteien und in ihr organisierter Jüdinnen und Juden. Eine solche Darstellung wäre möglicherweise dem Anspruch des Untertitels des Buches „Zur Judenfeindschaft und ihrer Bekämpfung“ besser gerecht geworden.

[1] Im VSA-Verlag erschienen ist bereits 2015 der von Mario Keßler gemeinsam mit dem Historiker Wladislaw Hedeler herausgebrachte und dem undogmatischen Kommunisten Theodor Bergmann, gewidmete Sammelband „Reformen und Reformer im Kommunismus“, in denen sich weitere und ausführlichere Darstellungen finden. Zusätzlich erschien von Mario Keßler 2022 im Dietz-Verlag herausgegeben: „Leo Trotzki oder: Sozialismus gegen Antisemitismus“, eine Textsammlung, die Trotzkis Antisemitismus-Analyse in den 1930er Jahren in den Mittelpunkt stellt.

Mario Keßler: Sozialisten gegen Antisemitismus. Zur Judenfeindschaft und ihrer Bekämpfung (1844-1939). VSA Verlag, Hamburg 2022, ISBN 978-3-96488-144-1.

Verwendete Literatur:

Blum, Leon: Beschwörung der Schatten. Die Affäre Dreyfus. Einleitung von Joachim Kalka. Berenberg Verlag, Berlin 2005, ISBN 978-3-937834-07-8

Conrad, Sebastian: "Kulis" nach Preußen? Mobilität, chinesische Arbeiter und das Deutsche Kaiserreich 1890-1914, in: COMPARATIV 13, 2003, S. 80-95.

Keßler, Mario (Hrsg.): Hrsg. Leo Trotzki oder: Sozialismus gegen Antisemitismus. Dietz, Berlin 2022, ISBN 978-3-320-02395-9.

Keßler, Mario/Hedeler, Wladislaw (Hrsg.): Reformen und Reformer im Kommunismus. Für Theodor Bergmann. Eine Würdigung. VSA-Verlag, Hamburg 2015, ISBN 978-3-89965-635-0

Massing, Paul W.: Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Herausgegeben und mit einem Nachvort von Ulrich Wyrwa, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2021, ISBN 978-3-86393-123-0

Der Autor ist Beauftragter für jüdisches Leben in Thüringen und die Bekämpfung des Antisemitismus. Der Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit Johannes Häfner.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

Benjamin-Immanuel Hoff

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