Thüringer Landtagswahl 2024: It’s the economy, stupid!

Schuldenbremse Wer Wahlen gewinnen und politisch gestalten will, muss Antworten auf die Fragen der Zeit geben. Die Thüringer CDU gräbt sich bei Windenergie und Schuldenbremse tief in dogmatische Schützengräben hinein.

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CDU-Spitzenkandidat für die Landtagswahl 2024: Mario Voigt
CDU-Spitzenkandidat für die Landtagswahl 2024: Mario Voigt

Foto: Maja Hitij/Getty Images

Der Spitzenkandidat der Thüringer CDU für die Landtagswahl 2024, Mario Voigt, ist erklärtermaßen ein US-Wahlkampf-Nerd und deshalb können wir davon ausgehen, dass ihm der Ursprung des Slogans „It’s the economy, stupid“ („Es ist die Wirtschaft, Dummkopf“) bekannt ist.

Geprägt wurde der Spruch 1992 von Bill Clintons Wahlstrategen James Carville. Auf ein Schild schrieb er in der Wahlkampfzentrale drei Botschaften, auf die sich die Mitarbeiter konzentrieren sollten: (1) Change vs. more of the same, (2) The economy, stupid und (3) Don't forget health care. Am Ende wurde die Economy-Botschaft zum wichtigsten Slogan der Wahlkampagne Clintons. Schon bald wurde dem Spruch "it's" beigefügt.

Knapp dreißig Jahre später hat sich am Wahrheitsgehalt der Phrase nicht viel geändert. Wer Wahlen gewinnen, vor allem aber wer den Anspruch erhebt, ein Land regieren zu wollen, muss Antworten auf die ökonomischen Fragen der Zeit geben können. Für die Thüringer CDU und ihren Spitzenkandidaten trifft dies nicht zu.

Thüringen – von der Nachwendegesellschaft zum kommenden Wandel

Eine Generation nach der Friedlichen Revolution und der deutschen Wiedervereinigung haben die hiesigen Verhältnisse nur noch wenig mit den frühen Nachwendejahren gemein. Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch gelang in Ostdeutschland eine Reindustrialisierung. Seit Mitte der 1990er Jahre wächst der ostdeutsche industrielle Sektor wieder überdurchschnittlich rasch. Knapp ein Viertel der Bruttowertschöpfung des Thüringens wird inzwischen in der Industrie erarbeitet. Mit 81 Industriearbeitsplätzen je 1.000 Einwohner liegt unser Freistaat deutlich über dem Bundesdurchschnitt.

Es war ein langer Weg aber erfolgreicher Weg von der „gekränkten“ Thüringer Arbeitsgesellschaft bzw. den „ostdeutschen Arbeitsspartanern“ der frühen 90-iger Jahre zur inzwischen niedrigsten Erwerbslosenzahl in Ostdeutschland und der zweithöchsten Beschäftigungsquote aller Bundesländer.

Zwar wird die traumatisierende Erfahrung von Massenarbeitslosigkeit und Deindustrialisierung nach 1990 auf lange Zeit Bestandteil der kollektiven ostdeutschen Erinnerung bleiben, doch sind neue Erfahrungen hinzugetreten. Denn zwischen 2010 und 2022 ging die Zahl der Arbeitslosen von 117.000 auf 58.000 zurück, die der Langzeitarbeitslosen halbierte sich ebenfalls nahezu. Das Selbstbewusstsein der lohnabhängig beschäftigten Thüringerinnen und Thüringer wächst erkennbar. Zunehmend mehr Beschäftigte fordern bessere Arbeitsbedingungen ein und tragen so zu einer hohen Lohndynamik im Freistaat bei.

Strukturwandel der Wirtschaft unterstützen, nicht behindern

Unsere Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen, dass die Thüringer Wirtschaft stärker ist als die Demographie. Die Lage unseres Landes in der Mitte Deutschlands ist und bleibt ein Standortvorteil. Genauso nutzen wir den bereits jetzt schon hohen Anteil erneuerbarer Energien an der eigenen Stromherstellung in Thüringen. Die sauberen Energien sorgen für rund zwei Drittel des in Thüringen erzeugten Stroms.

Auch innerhalb der Wirtschaft, die bisher auf die Verbrennung fossiler Energieträger setzte, ist die Überzeugung gewachsen, dass Alternativen genutzt werden müssen. Das Ifo-Institut untersuchte, wie stark sich der durch die Energiewende induzierte Strukturwandel auf einzelne Regionen auswirkt. Ein höherer Anteil der Beschäftigten in energieintensiven Industrien bedeutet eine höhere Betroffenheit für den Strukturwandel. Thüringen ist mit einem Anteil von 9% der Beschäftigten in energieintensiven Industrieren über dem Bundesdurschnitt und auf Platz 1 vor den Ländern Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und dem Saarland.

Thüringer Unternehmen wie z.B. Wiegand-Glas planen die dezentrale und regionale Grünstromerzeugung. In einer Stellungnahme erläutern die Eigentümer: „Ein Standbein soll hierbei die Windstromerzeugung in räumlicher Nähe zu den Standorten darstellen. […] Um jedoch unsere Produktionsstandorte zu dekarbonisieren und somit diese langfristig in Thüringen erhalten zu können, ist der Zubau mit Windkraftanlagen generell, aber insbesondere im Wald, zwingend notwendig.“

Während energieintensive Industrieunternehmen Anstrengungen zur Dekarbonisierung unternehmen und damit die Zukunft des Industriestandorts Thüringen und dessen Arbeitsplätze sichern, führen die Thüringer CDU in Tateinheit mit FDP und AfD einen Feldzug gegen die Windenergie generell und die Nutzung von Wind im Wald im Besonderen.

Am 27. September 2022 erklärte das Bundesverfassungsgericht diejenige Änderung des Thüringer Waldgesetzes für ungültig, mit der jegliche Windenergieerzeugung auf Thüringer Waldflächen ausgeschlossen wurde. Statt diese Verfassungsgerichtsentscheidung zu respektieren, unterstützt die CDU gemeinsam mit der AfD einen Gesetzentwurf der FDP, der darauf abzielt, dass auch auf sogenannten Kalamitätsflächen (d.h. Flächen, die durch Naturereignisse geschädigt sind und auf denen keine Bäume wachsen) keine Windkraftanlagen errichtet werden dürfen. Das ist nicht nur verfassungsrechtlich problematisch, weil auf diesem Wege das Bundesverfassungsgericht umgangen werden soll. Es ist wirtschaftspolitisch schlecht. Für die Dekarbonisierungsprojekte der Industrie und für diejenigen Besitzer von Waldflächen, die einerseits den Wald klassisch bewirtschaften wollen und andererseits ökonomische Alternativen für die Flächen suchen, auf denen auch langfristig keine Bäume aufgeforstet werden aber Geld verdient werden muss und mit der Windenergie kann.

Den Wandel gestalten mit Zukunftsinvestitionen

Die rot-rot-grünen Koalitionspartner in Thüringen eint die Überzeugung, dass der ökonomische und gesellschaftliche Wandel kein unabänderliches Naturereignis ist, sondern gestaltet werden kann und muss. Wer den nächsten großen Wandel zum Fortschritt machen will, muss in die Zukunft investieren.

Niedersachsens rot-grüne Koalition hat einen Vorschlag für einen staatlich garantierten, bei maximal 7ct/kWh gedeckelten Transformationsstrompreis vorgelegt, der bei regelmäßiger Überprüfung und mit Blick auf die Angemessenheit Planungssicherheit für 10 Jahre bieten soll. Die Thüringer rot-rot-grüne Regierung befürwortet die Zielrichtung des Vorschlags, statt einem pauschalen Industriestrompreis, die Unternehmen in der industriellen Transformation konkret zu unterstützen.

Angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung des Verarbeitenden Gewerbes für Thüringen wollen wir die Chancen der Dekarbonisierung nutzen und die industrielle Basis Thüringens stärken. Dafür sind Innovationen ebenso unverzichtbar wie starke Sozialpartnerschaften und beste Qualifikationen der Beschäftigten. Dafür braucht es massives Engagement in der Privatwirtschaft und zusätzlich öffentliche Investitionen auf allen Ebenen – von der Europäischen Union bis zu den Gemeinden.

Leitlinie unserer rot-rot-grünen Haushalts- und Finanzpolitik ist seit 2014 der Dreiklang aus einer stabilen Investitionsquote, finanzieller Vorsorge und konsequenter Schuldentilgung. Die langanhaltende Phase stark gestiegener Steuereinnahmen boten den optimalen Rahmen dafür, offensiv in die Modernisierung der Infrastruktur, Bildung und Wissenschaft sowie den Klimaschutz zu investieren und gleichzeitig Staatsschulden zu tilgen bzw. zur Senkung von Zinsausgaben umzuschulden. Dieses vorausschauende Handeln trug zum Werterhalt öffentlicher Infrastruktur bei, schuf den Rahmen dafür, im Rückgriff auf die gebildeten Haushaltsreserven der Vorjahre noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie 560 Mio. EUR für kommunale Investitionen freizugeben und mit einer Kreditaufnahme von 1 Mrd. EUR für das Corona-Sondervermögen handlungsfähig zu bleiben. Der imperialistische Angriffskrieg Putins auf die Ukraine und die erfolgreich umgesetzte Unabhängigkeit von russischem Billiggas erforderten, die Corona-Hilfsmittel zur Bewältigung der Energiekrise umzuwidmen – verfassungskonform.

Seitdem das Bundesverfassungsgericht den Bundeshaushalt für 2023 als nichtverfassungskonform einstufte, ist eine hitzige Debatte über die Schuldenbremse im Grundgesetz entbrannt. Endlich! Denn die gegenwärtige Situation erfordert ein Umdenken. Je eher wir klug investieren, je besser. Das erfordert Mut und Bewegung raus aus den ideologischen Gräben rein in die Debatte über eine Schuldenbremse 2.0, die mit einem Update für Zukunftsinvestitionen aktualisiert wird. Wir können, anders als Konrad/Schäpitz 2010 suggeriert haben, nicht einfach beim Mantra „Schulden ohne Sühne?“ stehen bleiben. Unser grüner Koalitionspartner treibt diese Debatte engagiert voran.

Der christdemokratische Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, hat dies verstanden. Er führte leicht verständlich aus: „Jeder, der ein Haus baut, jeder Unternehmer, der bspw. in neue Maschinen investiert, weiß: Natürlich sind Kredite für langlebige Investitionen sinnvoll“ und fährt fort: „Eine Straße, über die 30 Jahre gefahren wird, kann natürlich mit Krediten über diese Dauer bezahlt werden. Eine Schule, in der 20 Jahre unterrichtet wird, kann natürlich mit Krediten über diese Dauer bezahlt werden. Diese Selbstverständlichkeiten aus dem Privat- und Wirtschaftsleben müssen auch im staatlichen Haushalten möglich sein.“

Sein Parteifreund, der CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt, widerspricht mit markigen Worten: „Wer an der Schuldenbremse rüttelt, erschüttert die Garantie an unsere Kinder, auch in Zukunft auf einen handlungsfähigen Staat bauen zu können.“ Die Debatte zeige, dass „Links-Grün nicht mit Geld umgehen kann“. Man kann sich vorstellen, wie Kai Wegner im Roten Rathaus den Kopf über diese ökonomische Kurzsichtigkeit schüttelt.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung hat 2020/2021 bereits Vorschläge vorgelegt, die umgesetzt werden könnten. Dessen langjähriges Mitglied, der Wirtschaftsweise Peter Bofinger bedankte sich für die Aussagen von Kai Wegner ausdrücklich. Zu Recht, denn die Anpassung der Schuldenbremse im Grundgesetz, die in ihrer bestehenden Form eine Zukunfts- und Investitionsbremse ist, kann nur durch eine verfassungsändernde Mehrheit im Bundestag und Bundesrat geändert werden. Hierfür braucht es einen Konsens der Vernünftigen über die Parteien hinweg. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, der bereits 2009 die Einführung der Schuldenbremse im Bundestag kritisierte, wäre zu einem solchen Konsens mit Kai Wegner bereit.

Kai Wegner und Bodo Ramelow wissen aber auch: „It’s the economy, stupid“.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

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