Zeugnis und Warnung

NS-Prozess in Münster Anlässlich des Prozesses gegen den KZ-Aufseher Johann R. stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit. Doch auch wenn er zu spät kommt, ist dieser Prozess richtig

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Johann R.
Johann R.

Foto: Friedemann Vogel - EPA-EFE/Pool/Getty Image

Gegen Ende eines langen Lebens holt Johann R. die Vergangenheit doch noch ein. Mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Holocaust und fast ein ganzes unbehelligtes Leben später muss sich der 94-jährige Greis doch noch vor einem deutschen Gericht für die Taten verantworten, die er als KZ-Aufseher mutmaßlich begangen hat. Die Anklage lautet auf Beihilfe zum Mord in hunderten Fällen.

Sofort taucht sie wieder auf, die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines solchen Prozesses. Ist es nicht Zeit- und Ressourcenverschwendung, einen alten Mann Jahrzehnte nach Begehung der ihm vorgeworfenen Taten vor ein deutsches Gericht zu stellen? Hat man den richtigen Zeitpunkt nicht verpasst, um über seine Rolle im NS-Schreckensregime zu urteilen?

Die Antwort fällt ambivalent aus. Ja, man hat den richtigen Zeitpunkt verpasst, um Johann R. den Prozess zu machen. Fast 70 Jahre hat die Bundesrepublik verstreichen lassen, ehe an diesem Dienstag vor dem Landgericht Münster die Anklage verlesen wurde. Fast 70 Jahre hätte der Staat, der sich als Gegenentwurf zum NS-Regime versteht, Zeit gehabt, den Opfern aus dem Konzentrationslager Stutthof Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das zeitliche Versäumnis zeigt sich nicht zuletzt in der Paradoxie, dass sich ein heute 94-jähriger Mann vor der Jugendkammer verantworten muss.

Aber nein, es ist keine Zeit- und Ressourcenverschwendung, wenn Johann R. nun der Prozess gemacht wird.

Die Monstrosität und Einmaligkeit des Holocaust allein würden schon genügen, um die Strafverfolgung heute zu rechtfertigen. Der Respekt vor den Opfern der Nazis gebietet es, die damaligen Verbrechen zumindest anhand von Einzelfällen weiter aufzuarbeiten – dafür ist es nie zu spät.

Gerade in der heutigen Zeit, in der die Erinnerungen an den Holocaust verblassen, ist ein solcher Prozess wichtiges Zeugnis eines der dunkelsten Flecken der Geschichte der Menschheit. Dieser Prozess ist auch ein Prozess gegen das Vergessen. Er ist Mahnung und Erinnerung zugleich.

Wie der Angeklagte mutmaßlich über Jahrzehnte mit dem Wissen gelebt hat, an diesem Massenmord mitgewirkt zu haben, darüber lässt sich nur spekulieren. Vielleicht hat er die Erinnerungen erfolgreich verdrängt – ein Privileg, das Millionen von Opfern nicht zukam.

Ziel dieses Prozesses ist in erster Linie nicht, Johann R. hinter Gitter zu bringen. Ziel muss vor allem sein, die Frage zu beantworten, inwieweit Johann R. eine Mitverantwortung am Mord hunderter unschuldiger Menschen hatte. Und dadurch zugleich einen alten Mann in die Situation zu bringen, seine eigene Rolle von damals aufzuarbeiten.

Der Prozess ist aber auch eine Warnung an all diejenigen, die derzeit in den Kriegs- und Krisengebieten weltweit Morde verüben in dem Glauben, hierfür niemals zur Verantwortung gezogen zu werden. Gut möglich, dass sie unbescholten davonkommen – so wie unzählige NS-Täter nie vor Gericht gestellt wurden. Ebenso gut möglich aber, dass sie eines Tages – und sei es erst in einigen Jahrzehnten – vor ein deutsches Gericht gestellt werden. Für nichtdeutsche Staatsangehörige erlaubt es das Weltrechtsprinzip, dass über ihre Taten in Deutschland geurteilt wird.

Und Mord verjährt nicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin Scholz

Jurist, freier Journalist & Vorstand einer gemeinnützigen Organisation zur Unterstützung benachteiligter Menschen in Indien

Benjamin Scholz

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden