Späte Tränen im Kiez

Melancholie Ob der gute alte Kiosk stirbt oder die rauchige Eckkneipe: Wären wir bloß öfter hingegangen!
Ausgabe 43/2015
Ist das Bulettenbrötchen womöglich auch vom Aussterben bedroht?
Ist das Bulettenbrötchen womöglich auch vom Aussterben bedroht?

Foto: Jochen Tack/ Imago

Mit Erregung reagierten Teile der deutschen Öffentlichkeit jetzt auf eine Meldung aus den USA. Es ging nicht um Freihandel, Folter, Kriege, Banken – sondern um den Playboy. Das Fachmagazin für langohrig-erotische Unterhaltung kündigte an, bald keine Nacktfotos mehr zu veröffentlichen. Ein Playboy-Redakteur sagte, sein „zwölfjähriges Ich“ sei enttäuscht. Vielen hiesigen Lesern – vielmehr: Betrachtern – geht es genauso, wie man einschlägigen Internetkommentaren entnehmen kann. Sie fürchten, dass man ihnen das gedruckte Youporn wegnimmt. Auch wenn das Netz mit Pornografie vollgestopft ist: Diejenigen, die die Nacktheit auf Papier verteidigen, wollen „das Ende einer Ära“ verhindern. Ihr Monsterargument lautet: „Ein Stück Alltagskultur“ sei bedroht.

Beim Big Mac wird aktuell ähnlich laut geschluchzt. McDonald’s erwägt, das Big-Mac-Menü mancherorts in Europa von der Speisekarte zu streichen. Damit würde der Sparpreis für die Kombination aus Burger, Pommes und Getränk wegfallen. Prompt ploppten Schockreaktionen auf. Bei einer Schnellumfrage unter Freunden und Bekannten fiel erneut die Formel von einem „Stück Alltagskultur“. Genau darum handele es sich nämlich, wenn man an einem mittelmäßigen Tag im Gammellook zu McDonald’s schleiche, das besagte Menü bestelle und sich dabei „einfach fallen lassen“ könne. Zwar sei der letzte Big-Mac-Genuss schon eine Weile her, gaben viele zu, bei manchen sogar Jahre. Dennoch: Früher sei eben alles besser, schöner und leckerer gewesen.

Manche verteidigen also ein Gericht, das sie schon lange nicht mehr verdaut haben. Sie wollen sich aussuchen können, was sie eigentlich nicht (mehr) essen möchten. Sie wollen sie um jeden Preis bewahren: die ungenutzten Möglichkeiten. Fast wirkt das albern. Aber – Moment! Ähnliches kennen wir auch aus anderen Bereichen, etwa aus den Gentrifizierungsdebatten. Die gute alte Arbeiterkneipe: Vielerorts scheint ihr letztes Stündlein angebrochen zu sein. Gegen das Sterben proletarisch gepolter Eckkneipen werden Stadtteildemos und Petitionen auf die Beine gestellt – aber wer von den Protestierenden trank wirklich sein Bier in einem solchen Lokal?

In meiner Straße gab es einen Kiosk, der dank seiner Besitzerin ein Ort für politische Diskussionen und interessante Begegnungen war. Frau K. war so hilfsbereit, dass das ganze Viertel sie mochte. Aber sie machte Verluste und hielt den Laden letztlich nur mit ihrer Rente am Laufen. Es kaufte eben schon lange nicht mehr jeder Zeitungen, weder bei Frau K. noch sonst wo. Und die Brötchen besorgten die meisten sich auch nicht an Frau K.s Theke. Sondern bei einem der gewissen Backkonzerne.

Ist die Verteidigung der „Alltagskultur“ also auf breiter Front gescheitert? Nein. Noch nicht überall. Aber es wirkt bigott, wie manche sich im allerletzten Moment an Möglichkeiten festklammern, die sie selten oder nie genutzt haben. Wir Verbraucher haben Macht – und Verantwortung. Wir haben die Möglichkeit, den sozial engagierten Kiosk zu unterstützen, indem wir dort oft einkaufen, und am besten nicht zu knapp, die Gewerbemieten steigen bekanntlich enorm. Wer sich dafür immer zu fein war, aber kurz vor der Kiezkiosk-Schließung wegen des Verlusts „authentischer Alltagskultur“ theatralische Tränen weint, handelt, gelinde gesagt, unauthentisch. Übrigens: Der beste Burger ist noch immer das Bulettenbrötchen, und das gibt’s in jedem Kiez, sicher auch bei Ihnen um die Ecke – noch.

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Geschrieben von

Ben Mendelson

freier Journalist. Schwerpunkt: öffentliche Daseinsvorsorge und Privatisierungen. Wirtschaftshistoriker und Vierteljurist.

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