Demokratiegefährdung aus den eigenen Reihen

Bedrohung der Demokratie. Gibt es neben religiösen Fundamentalisten, Extremisten und autoritären Regimen auch Kräfte in den eigenen Reihen, die die demokratische Ordnung bedrohen?

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Nahezu täglich berichten Medien von einer Bedrohung der Demokratie durch religiöse Fundamentalisten, radikale Nationalisten und Kommunisten. Gewarnt wird ebenfalls vor Ländern mit starker Zentralgewalt wie Russland und China. Gibt es möglicherweise Kräfte in den eigenen Reihen, die eine vergleichbare Gefahr für die demokratische Ordnung darstellen?

1. Westliches Demokratieverständnis

Warum wurde keine effektive Regulierung des Finanzsektors umgesetzt, wie nach der letzten globalen Krise versprochen? Warum existieren weiterhin Steueroasen trotz Hinterziehung von Steuern in Billionenhöhe? Warum wird das Interesse der Bevölkerungsmehrheit an einem Abbau der Spannungen mit Russland ignoriert? Auch bei anderen aktuellen Fragen wie TTIP und CETA, dem Spardiktat für die Euro-Südländer, der Bewältigung der Flüchtlingsströme oder der Beteiligung an den Kriegen zwischen Libyen und Afghanistan gibt es in den EU-Staaten heftigen Widerstand und tiefes Misstrauen gegen die Regierenden.

Über die Motive der Entscheidungsträger in Politik, Medien und Gesellschaft herrscht unter Kritikern weitgehend Einigkeit. Genannt werden Unterwürfigkeit gegenüber den USA, Druck von Finanzlobby und Wirtschaftsverbänden, soziale Eingebundenheit in elitäre Kreise, Opportunismus, persönliche Vorteile. Zu letzteren bemerkt Sarah Wagenknecht, dass es „bequemer (ist), sich mit dem Wirtschaftssystem zu arrangieren, als es infrage zu stellen. Zumal bekannt ist, dass es für ausgeschiedene Politiker, die immer brav die Interessen der Wirtschaftsmächtigen vertreten haben, auch schöne Jobs bereit hält“. Hat unsere Elite also gesellschaftlichen Werten weitgehend den Rücken gekehrt?

Insbesondere sollte von Personen, die sich als „Putinversteher“ orten, eine vergleichbare Bereitschaft erwartet werden, sich mit den Beweggründen unserer Politikergarde vertraut zu machen. Tatsächlich unterscheiden sich Politiker und andere Personen in repräsentativen Positionen kaum vom Normalbürger, der ebenso seinen persönlichen Vorteil sucht und dabei Sachzwänge berücksichtigt. Doch wie diese folgen auch Vertreter der Herrschaftselite einem moralischen Impetus. Dieser mag unterschiedlich ausgeprägt sein, was sich jeweils in der Standhaftigkeit bei auftretenden Konflikten offenbart. Dennoch werden wir nicht von einem Klub von Psychopathen regiert, wie ein Artikel in der „Neopresse.com“ unterstellt. Welches sind nun die moralischen Werte unserer Spitzenpolitiker, auf was für ein Demokratieverständnis beruhen ihre Entscheidungen? Lassen sich Neoliberalismus und Demokratie überhaupt miteinander vereinbaren?

In diesem ersten Teil wird das herrschende Demokratieverständnis erläutert und dessen Neuausrichtung durch neoliberale Einflüsse problematisiert. Daraus leitet sich ein spezifisches Feindbild ab, dessen Projizierung auf andere Staaten im zweiten Teil thematisiert wird. Dass der Schulterschluss innerhalb der westlichen Gemeinschaft auf vielen fragwürdigen Prämissen beruht und angesichts konträrer Interessen und Sichtweisen recht brüchig ist, erläutert das darauffolgende Kapitel.

Im vierten Teil werden wirtschaftliche Interessenunterschiede angesichts des Tatbestands konstatiert, dass sich die Vereinigten Staaten und Großbritannien mithilfe des Finanzsektors erhebliche Vorteile verschaffen können. Dessen Abhängigkeit von einem ungebrochenen Zufluss anlagesuchenden Geldes hat Auswirkungen darauf, wie sich Staaten zum Problem der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich positionieren. Der letzte Teil beleuchtet die verheerenden Auswirkungen zunehmender Einkommensdivergenzen, in deren Folge das neoliberal gefärbte westliche Demokratieverständnis auf immer breitere Ablehnung stößt.

Übernahme des US-amerikanischen Demokratiebegriffs

Den USA gelang es mit Hilfe ihrer dominanten Stellung nach dem Zweiten Weltkrieg die eigenen Vorstellungen von Demokratie sukzessive nach Europa zu „exportieren“. Diese waren geprägt durch die Lebensumstände der Einwanderer während der Besiedelung des großen Landes, die vor mehr als 200 Jahren begann. Die Bürger waren zur Selbstorganisation gezwungen, und so gewöhnten sie sich an ein Maximum persönlicher Freiheiten. Die Zentralregierung wurde daher als mächtiger Gegenspieler mit eigenen Interessen empfunden, dessen Einfluss es einzuschränken galt.

Hingegen waren in der Bundesrepublik Deutschland soziale Aspekte und eine Kontrolle wirtschaftlicher Macht integrale Bestandteile des Demokratieverständnisses. Sie fanden Eingang sowohl ins Grundgesetz als auch in die Programme der Parteien. Allerdings verblassten sie allmählich zu verbalen Bekundungen, bis sie schließlich ganz in den Hintergrund gerieten. Derselbe Prozess vollzog sich in anderen Teilen Westeuropas, meist im Gleichschritt mit dem Machtverlust von Gewerkschaften und linken Organisationen.

Übrig blieb ein formaler Demokratiebegriff, dessen Eckfeiler Gewaltenteilung, Meinungs-, Religions- und Gewerbefreiheit sowie allgemeines Wahlrecht sind. Weitere wichtige Prinzipien sind Versammlungsfreiheit, das Recht auf Gründung von Parteien und Interessenverbänden, Minderheitenschutz und die Gewissensfreiheit gewählter Repräsentanten. Ganz oben im westlichen Wertekanon rangieren die individuellen Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Schutz privaten Eigentums.

Eine zentrale Aufgabe demokratischer Politik wird in der Parzellierung von Macht gesehen. Dadurch sollen Kritik, Transparenz und gegenseitige Kontrolle der Akteure gefördert werden. Den Hintergrund bilden neben US-amerikanischen Vorgaben die historischen Erfahrungen aus der NS-Zeit, die gleichsam bei der skeptischen Beurteilung von Basisdemokratie und Volksentscheiden Pate stehen. Der Urteilsfähigkeit einfacher Bürger wird misstraut, zu leicht lasse sich das Volk manipulieren. Als aktuelles Beispiel wird mancherorts die Brexit-Abstimmung genannt.

Neoliberalismus und die Beschränkung staatlicher Macht

Im Zuge der neoliberalen Wende während der 80er Jahre wurde das Konzept des schlanken Staates propagiert, der sich regulativer Tätigkeiten weitestmöglich entledigen sollte. Sogar in gesellschaftlich relevanten Bereichen wie dem Verkehrswesen, der Bildung sowie der Gesundheits- und Sozialfürsorge soll die öffentliche Hand das Feld privaten Akteuren überlassen und sich auf eine Weisungs- und Kontrollfunktion beschränken.

Zwar ist allgemein bekannt, dass Lobbyisten der Wirtschaftsverbände an Gesetzen mitschreiben. Dennoch sollte Politikern - trotz des vielfach berechtigten Vorwurfs einer auf Inkompetenz beruhenden Fahrlässigkeit - nicht pauschal unterstellt werden, sie würden absichtlich Beschlüsse zum Nachteil der Bevölkerung fällen. Zum einen glauben sie aufrichtig an die Effizienz freier Märkte. Zum anderen befindet sich die Privatisierung staatlicher Aufgaben im Einklang mit ihrem Demokratieverständnis, da Machtbefugnisse delegiert würden und somit einem Missbrauch von Macht vorgebeugt werde.

Neoliberalismus und das Bestreben, politische Macht einzuschränken, ziehen augenscheinlich am gleichen Strang. So wandte sich Margaret Thatcher vehement gegen eine zu große Machtfülle der zentralen Institutionen der Europäischen Gemeinschaft und kritisierte die Aufblähung des Brüsseler Haushalts. Auch ist Dwight D. Eisenhowers Warnung vor dem militärisch-industriellen Komplex, auf die aus dem linken Spektrum gerne verwiesen wird, durchaus als systemkonform anzusehen, geht es doch vorrangig um eine Entflechtung von Macht.

Nach dem Zusammenbruch der politischen Systeme Mittel-Ost-Europas bildete sich eine neue gesellschaftliche Elite, deren Mitglieder unter den Negativfolgen einer allzu großen Machtkonzentration gelitten haben. Im Gegensatz zu Politikern des „alten Europa“, die durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und die Protestbewegung der 60er und 70er Jahre geprägt waren, übernahmen sie das US-dominierte Demokratieverständnis nahezu kritiklos. Zur Gruppe jener, deren maßgebliches Kriterium die Abwesenheit diktatorischer Vollmachten ist, gehören auch Angela Merkel und Joachim Gauck.

Ihnen gesellt sich die junge Politikergeneration zu, die sich unter dem Einfluss neoliberalen Gedankenguts von den Werten ihrer Vorgänger großenteils verabschiedet hat. An die Stelle früherer Ideale ist technokratisches Denken und ein Streben nach Ad-Hoc-Lösungen getreten. So beklagt das SPD-Fortschrittsprogramm aus dem Jahre 2011, dass „der Mensch … zu einem Spielball von Märkten, technokratischen Notwendigkeiten und vermeintlichen Sachzwängen geworden“ sei, ohne allerdings die Einstellungen der eigenen Parteiführer kritisch zu beleuchten.

Ökonomisierung der Gesellschaft

Dass mit der Schwächung staatlicher Gewalt die Macht der Wirtschaftsgrößen gewachsen ist, wird zwar realisiert und auch zuweilen kritisiert, aber mit Blick auf vermeintliche Effizienzeffekte hingenommen. Zudem wird angemerkt, dass - im Gegensatz zu Politikern - willkürliche und unberechenbare Entscheidungen von Wirtschaftsbossen und Superreichen kaum zu befürchten seien, wollten sie ihre Position nicht gefährden.

Wie jeder Normalbürger müssten diese sich wirtschaftlichen Zwängen unterwerfen, was ihre Handlungsmöglichkeiten einschränke und gleichzeitig ihre Aktivitäten in eine gesellschaftlich erwünschte Richtung lenke. Die Folgen seien Produktivitätssteigerung und Wirtschaftswachstum, welches zu Beschäftigungseffekten und Prosperität führe. Die Aufgabe der Politik sei es, diesen Prozess durch flankierende Maßnahmen zu sichern. Da dies ebenfalls langfristig gelte, sind Auflagen etwa aus ökologischer Sicht zu befürworten, soweit diese keine Wettbewerbsnachteile verursachen.

Infolge des Rückzugs der Politik bei gleichzeitig steigendem Einfluss der Wirtschaft tritt an die Stelle gesellschaftlicher Werte Effizienzdenken, welches verstärkt Eingang in das alltägliche Leben der Bürger findet. Dieser Prozess gilt einerseits als erwünscht, da er für die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft dienlich ist. Andererseits wird der Trend zum Homo oeconomicus vielerorts kritisiert.

So bemerkt Tobias Pforr, dass ein „Unter-den-Tisch-Kehren der sozialen Grundlagen des wirtschaftlichen Handelns … zu bedauernswerten Konsequenzen führen“ kann. Letztlich seien „Fragen zur Wirtschaftlichkeit in Wirklichkeit oft Aufforderungen zur Annahme von bestimmten Wertvorstellungen. … Wird ein Problem erst einmal bezüglich seiner wirtschaftlichen Aspekte eingerahmt, so scheint es, als ob es eine eindeutige Lösung dafür geben müsse, als ob eine Art des Handelns die überlegenere sei. Fragen zu Wertevorstellungen zeichnen sich aber durch eine Multidimensionalität aus, die eine eindeutige Beantwortbarkeit von Grund auf ausschließt.

Im Zuge der Ökonomisierung der Gesellschaft werden zunehmend traditionelle Einstellungen und Verhaltensweisen hinterfragt. Ein Fernhalten vom Arbeitsleben, Zuzugssperren, eine Behinderung von Karrieren sowie Zensurtätigkeit in Wissenschaft und Gesellschaft gelten als dysfunktional. So werden die Emanzipation der Frauen gefördert und die Rechte von Kindern und Jugendlichen eingeklagt, wird Immigration befürwortet, Rassismus verurteilt und eine Gleichbehandlung sprachlicher, ethnischer und sexueller Minderheiten verlangt. Der Einfluss nationalistischen Gedankenguts wie auch der von Religionen, die sich nicht dem Zeitgeist öffnen, gilt als schädlich. Mitunter ist sogar ein Aufbrechen familiärer Strukturen erwünscht, soweit dies die Mobilität der Arbeitskraft erhöht.

Dieser Trend wird von linken und liberalen Kräften überwiegend unterstützt. Dagegen schafft er Unzufriedenheit bei jenem Teil der Bevölkerung, der tief von traditionellen Werten geprägt ist. Hier eröffnet sich ein Betätigungsfeld für Populisten mit national-konservativem Hintergrund, die über einen Aufbau von Drohkulissen auf Stimmenfang gehen. Gelangen sie in verantwortliche Positionen, dann zeigt sich meist recht bald, dass sie ihre Versprechen nicht einlösen können.

Die Probleme einer Konzentration wirtschaftlicher Macht werden von westlichen Politikern keineswegs geleugnet. So hat die Finanzkrise des letzten Jahrzehnts das Unvermögen offenbart, die Lage mit dem vorhandenen Instrumentarium in den Griff zu bekommen. Daraufhin wurden Konsequenzen gezogen, ohne dass Kritiker von deren Nachhaltigkeit überzeugt werden konnten. Ihren Einwänden wird entgegengehalten, dass Politik die Kunst des Möglichen sei und dass es divergierende Interessen gebe, die einen Kompromiss verlangten. Ungern wird eingestanden, dass die Finanzmarktakteure massiv Druck ausüben konnten, da sie infolge der vorangegangenen Deregulierungen zu mächtig geworden sind.

2. Haltung gegenüber Regimen mit Demokratiedefiziten

Westliche Politiker konstatieren mit Genugtuung, dass sich Wirtschafts- und Finanzkreise trotz ihrer immensen Macht bereitwillig dem jeweiligen Gesetzgeber unterordnen. Dadurch eröffnen sich gewisse politische Eingriffsmöglichkeiten, sodass die Lage als beherrschbar erscheint. Deshalb adressieren Medien und Opposition bei einem Missbrauch wirtschaftlicher Macht ihre Kritik erst einmal an die Regierungen, denen Unfähigkeit bei der Wahrung der Interessen der Bürger vorgeworfen wird.

Entschieden anders werden Machtkonzentrationen im politischen Bereich bewertet, zumal wenn eine ideologisch ausgerichtete Vereinigung oder eine eingeschränkt legitimierte, geringköpfige Herrscherelite am Machthebel sitzt. Hier werden unkalkulierbare Risiken identifiziert, die erst einmal die Bevölkerung des betreffenden Landes bedrohen, ebenso aber die internationale Gemeinschaft, falls es sich um einen mächtigen Staat handelt.

Bei der Beurteilung autoritär geführter Staaten bzw. solcher mit einem hohen Grad an Machtkonzentration wird dennoch differenziert. Soweit eine Regierung sich an globale Spielregeln hält und keinem Expansionsdrang folgt, erscheint eine Kooperation möglich. Damit einher gehen naturgemäß Infiltrationsversuche, auch gerade im Zuge kooperativer Tätigkeiten. Greift eine Regierung - gegebenenfalls als Reaktion auf äußere Einmischung - zu autoritären Maßnahmen zum Zweck der Machterhaltung, wird sie als undemokratisch attackiert.

Russland als perfekte Zielscheibe

Als vortreffliche Zielscheibe bietet sich gegenwärtig Russland an. So wird konstatiert, dass während Wladimir Putins Amtszeit eine Zentralisierung von Machtbefugnissen stattgefunden habe. Dadurch hat sich die Handlungsfreiheit der politischen Führung beträchtlich vergrößert, was unserem Demokratieverständnis zuwiderläuft. Mit seinem zurückgewonnenen Selbstbewusstsein agiert Moskau zudem resoluter in außen- und sicherheitspolitischen Fragen, wodurch die Ausdehnung westlichen Einflusses in östliche Richtung erschwert wird.

Die mit propagandistischen Mitteln geschürte Angst vor Russland trifft vielerorts auf einen fruchtbaren Nährboden. Wie es die Deutschen in der Nachkriegszeit erlebten, wird ebenso den Russen von ihren Nachbarn eine Kollektivschuld an der Jahrzehnte erfahrenen Unterdrückung zugeschoben. Im übrigen Europa kann an frühere antisowjetische Ressentiments nahtlos angeknüpft werden.

Der Argwohn sitzt derart tief, dass russische Friedensinitiativen als Täuschungsmanöver betrachtet und defensive Schritte zu offensiven uminterpretiert werden. Auch auf der Motivsuche wird man fündig. Der eine sieht revanchistische Absichten, die auf eine Wiederherstellung der Grenzen der Sowjetunion gerichtet sind, für einen anderen ist die russische Mentalität nicht mit demokratischen Idealen vereinbar. Ist erst einmal ein Feindbild geschaffen, dann bedienen sich Nutznießer jeder Art. Baltische Staatslenker steigern mit dessen Hilfe ihre Popularität, westliche Rüstungsfirmen wittern neue Aufträge und Stand-up-Komiker unterhalten ihr Publikum mit Putin-Anekdoten.

China als unbeugsamer Kontrahent

Im Gegensatz zu Russland schert sich China nicht um Attribute westlicher Demokratie wie Gewaltenteilung oder einem Vorrang individueller Freiheiten vor gesellschaftlichen Interessen. Gleichwohl ist China ein wirtschaftlicher Gigant, der sich anschickt, mit den USA gleichzuziehen. Weder ist der Westen in der Lage, die Stimmung in der Bevölkerung maßgeblich zu beeinflussen, noch ist zu beobachten, dass sich der Herrschaftsapparat westlichen Demokratievorstellungen öffnen würde.

Soweit die Gebietsansprüche in den anliegenden Gewässern nicht tangiert werden, vermeidet die chinesische Regierung eine Involvierung in internationale Konflikte, sodass schwerlich aggressives Verhalten unterstellt werden kann. Zudem zeigt Peking bislang keine Ambitionen, den gewachsenen wirtschaftlichen Einfluss mit politischen Zielen verknüpfen zu wollen. Weder werden andere Staaten unter Druck gesetzt, noch wirbt China fernab seiner Grenzen um Verbündete. Auch wird auf dem globalen wirtschaftlichen Parkett recht behutsam agiert.

Trotz fortwährender Dämonisierung kommen westliche Medien nicht umhin, die wirtschaftlichen Erfolge Chinas anzuerkennen. Diese werden den kapitalistischen Strukturen zugeschrieben, die jedoch ohne staatliche Lenkung kaum derart erfolgreich wären. So haben sich die von Zeit zu Zeit geäußerten Prophezeiungen eines wirtschaftlichen und politischen Kollapses des Riesenreichs bislang als Wunschdenken erwiesen.

Beim chinesischen Weg finden sich gewisse Parallelen zu Japan, wenngleich es sich bei diesem formell um eine Demokratie handelt. Während der ersten Jahrzehnte der Nachkriegszeit ermöglichten die unangefochtene Führungsrolle der Liberaldemokratischen Partei und die überragende Stellung des MITI eine Bündelung ökonomischer Kompetenz. Es entstand ein Machtkonglomerat, das sowohl im Landesinnern Druck ausübte als auch der Weltmarkteroberung diente.

Autoritäre Regime weltweit

Desgleichen wurde der wirtschaftliche Aufschwung der asiatischen Tiger-Staaten durch autoritäre Regime bewerkstelligt. Da sie zu Bollwerken gegen rotchinesische Einflüsse aufgebaut wurden, erschien es westlichen Politikern opportun, über undemokratische Zustände zu schweigen. Die Interessen der Elite jener Staaten waren mit jenen der US-amerikanischen Protagonisten weitgehend identisch, sodass die Kooperation voranschritt. Als es dann anlässlich der Asienkrise 1997 in den Beziehungen mächtig knirschte, weil westliche Investoren nach jahrelangen guten Geschäften ihre Gelder abzogen, war die Handlungsfähigkeit der Regierungen erheblich eingeschränkt. So blieb ihnen keine andere Wahl als westliche Staatsanleihen zu erwerben, um für eine künftige Krise besser gewappnet zu sein.

Bedeutende Demokratiedefizite gibt es nicht nur in Ost- und Südostasien. Gerade einmal eine Handvoll Staaten Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und Ozeaniens erfüllen die gewünschten Minimalkriterien. Dennoch ist Kritik außerhalb geschlossener Foren nur dann zu vernehmen, wenn sich Staatslenker als äußerst brutal gebärden oder als besonders widerspenstig erweisen. Zu den Letzteren gehören Saddam Hussein, Muammar Gaddafi und Baschar Al-Assad. Aber auch Verbündete wie die Türkei und Saudi-Arabien sind in die Schusslinie geraten, seitdem sie islamische Extremisten ohne Abstimmung mit der westlichen Führungsmacht unterstützen.

Die zaghafte und inkonsequente Haltung westlicher Politiker wird damit gerechtfertigt, dass die Durchsetzung demokratischer Prinzipien auf Hindernisse stoße, die historisch und kulturell begründet seien. Es gebe aber doch freiwillige Helfer, NGOs und staatlich finanzierte Entwicklungsprogramme, die demokratiefördernd seien. Dass die Kooperation mit den lokalen Eliten vor allem eigenen Wirtschaftsinteressen dient, wird dabei verschwiegen. In der Folge sind vielerorts traditionelle Strukturen vernichtet worden, sei es durch den Export subventionierter Lebensmittel, durch das Leeren der Fischereigründe mittels westlicher Trawler oder durch Landgrapping und die Errichtung von Monokulturen. Erst die Flüchtlingsdebatte hat das Augenmerk auf diese skandalösen Fakten gelenkt.

3. Konflikte innerhalb der westlichen Gemeinschaft

Der Zweck jedes demokratischen Disputs ist die Suche nach Kompromissen zwischen divergierenden Interessen. Solche sind der bereits thematisierte Zwist zwischen Wirtschaftsakteuren und Gesamtgesellschaft. Den Wünschen und Zielen beider Seiten wird eine Berechtigung zugesprochen, sodass von jedem Abstriche erwartet werden, denn Win-win-Situationen sind eher die Ausnahme als die Regel.

Innerhalb des Wirtschaftssektors stehen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegenüber. Erstere verfügen über quasi diktatorische Vollmachten, die sie auch maximal umsetzen würden, hätte ihnen Gewerkschaften nicht Kompromisse abgerungen und gäbe es keine gesetzlichen Schranken. Die alte APO-Losung „Die Demokratie endet am Fabriktor“ besitzt weiterhin uneingeschränkte Gültigkeit, ja sie wird durch die gegenwärtige Aushöhlung der Arbeitnehmerrechte in den EU-Ländern noch bekräftigt. Dass Unternehmen ein demokratiefreier Raum sind, wird von unseren Politikern nicht problematisiert, da sie Eigentumsrechten den Vorrang geben. Stattdessen verweisen sie auf veränderte Rahmenbedingungen globaler Konkurrenz, die neue Kompromisse zu Lasten der Arbeitnehmer verlangen.

Konfliktlösungen bedarf es in allen Bereichen der Gesellschaft. Deren Notwendigkeit resultiert aus Interessenunterschieden von Einzelpersonen, Gemeinschaften, Kommunen und schließlich Staaten. Für die Erörterung und Beilegung zwischenstaatlicher Kontoversen gibt es internationale Organisationen. Einige sind nur offen für Länder, die das westliche Demokratieverständnis teilen, wie die OECD, die NATO, die G7 und die EU. Jene Staaten, so wird fortwährend betont, verbinden gleiche Wertvorstellungen. Zwar wird eingestanden, dass manche von ihnen nur sehr begrenzt den gewünschten Kriterien entsprechen. Der erklärte Wille der Eliten sowie die Möglichkeit einer Einflussnahme von außen, meist über wirtschaftliche Instrumente, wird jedoch als ausreichend für die Verleihung des Demokratie-Siegels angesehen.

Von der Wertegemeinschaft zur Schicksalsgemeinschaft

Aus der Wertegemeinschaft wurde allmählich eine Schicksalsgemeinschaft, die Loyalität und Gefolgschaft verlangt. Falls erhebliche Meinungsverschiedenheiten bestehen wie etwa in der Frage des Angriffs auf den Irak im Jahr 2003, dann werden diese als „Dissens unter Demokraten“ abgehandelt. Wenn dagegen die russische Regierung dem erklärten Mehrheitswillen der Krim-Bewohner nachkommt und die Halbinsel Russland angliedert, wird ein aggressiver Akt registriert. In beiden Fällen sind Völkerrechtsverletzungen geschehen, doch dürfte außer Frage stehen, welche gravierender waren.

Bei der Beurteilung von politischen Äußerungen, Programmen und Aktionen ist maßgebend, ob deren Urheber als Repräsentant westlicher Wertvorstellungen akzeptiert ist. Erst im zweiten Schritt wird auf den Inhalt Bezug genommen. So werden Wladimir Putin trotz moderater Stellungnahmen unlautere Absichten unterschoben. Ob sich dagegen Medien über George W. Bushs markige Sprüche ärgern oder ihn verhöhnen, ändert nichts an der Tatsache, dass er dem demokratischen Spektrum zugeordnet bleibt.

Die strikte Trennung in Demokratiefreunde und -feinde trübt zuweilen den Blick für die Realität und nagt an der Glaubwürdigkeit westlicher Werteträger. So wird Russland dafür gescholten, dass Homosexuellen das demokratische Recht öffentlichen Auftretens untersagt wird. Wenn aber texanische Homosexuelle durch Therapie konvertiert werden sollen, bleibt es bei Appellen, ja es wird mancherorts um Nachsicht angesichts zugrunde liegender religiöser Motive gebeten. Sogar die Schikanierung ganzer Volksgruppen wie der Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten oder der russisch-sprachigen Minderheit im Baltikum wird stillschweigend geduldet. Werden die betreffenden Regierungen bei speziellen Anlässen ermahnt, dann wird häufig Verständnis angesichts vermeintlicher Bedrohungen geäußert.

Verhaltene Kritik an den USA

Begreiflicherweise stoßen gelegentliche Kapriolen der westlichen Führungsmacht in Europa auf Befremdung und Ablehnung. Allerdings bemühen sich die Leitmedien redlich um ein positives Image der USA, sei es durch Beschönigung, durch Verharmlosung oder durch Verschweigen unangenehmer Fakten. Dabei wird immer wieder die Wertegemeinschaft beschworen, die Europa mit Nordamerika verbindet. Da US-amerikanische Verantwortliche bereits zu Ende des Zweiten Weltkrieges die bedeutende Rolle der Medien erkannt haben, wurden keine Mühen gescheut, deren führende europäische Repräsentanten in transatlantische Think Tanks einzubinden.

Die Kritik von EU-Politikern an US-amerikanischen Vorgaben hält sich in Grenzen, wenn auch Interessendivergenzen konstatiert werden. Meinungsverschiedenheiten resultieren aus der unterschiedlichen geographischen Lage, ebenso sind sie historisch-ideologisch begründet. Zaghaftigkeit und Duckmäusertum auf Seiten der Europäer fordern indessen ihren Tribut. So setzen sich die USA überwiegend mit ihren Vorstellungen durch, wobei sie auf eine Unterstützung durch mittel-ost-europäische Staaten bauen können.

Dennoch orten sich unsere Politiker in einem Klub von Demokraten, die sich bei strategischen und taktischen Überlegungen unterscheiden mögen, aber doch nicht in ihren Werten. So besteht Konsens, dass Regierungen mit einem erheblichen Machtpotential wie etwa die russische oder die iranische eine latente Bedrohung darstellen, die einer Antwort bedarf. Die Präsenz US-amerikanischen Militärs in Europa wird daher auch von vielen Amerikaskeptikern als Schutzfaktor angesehen.

4. Angelsächsisches Schmarotzertum

Gelingt noch der Schulterschluss innerhalb der westlichen Welt in politischen Fragen, so gibt es bei wirtschaftlichen Themen tiefe Meinungsverschiedenheiten. Diese beruhen insbesondere auf der skrupellosen Art der US-Amerikaner, sich zu Lasten ihrer Verbündeten wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen. Das Resultat kann anhand der Entwicklung der Leistungsbilanz begutachtet werden.

Das Leistungsbilanzdefizit ist augenscheinlich seit jenem Zeitpunkt kräftig gewachsen, als die USA den Status der einzigen Weltmacht erlangten. Unter Ökonomen besteht weitgehender Konsens, dass die wirtschaftlichen Vorteile zu einem wesentlichen Teil in der Position des Dollars als Leitwährung begründet sind. So kann die Zentralbank unbeschränkt frische Dollar drucken, um internationalen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen.

„DiePresse.com“ weist in einem Artikel darauf hin, dass allein der Dollar-Bargeldbestand 500 Milliarden überschreitet. Dieser wie auch die US-Staatsanleihen befinden sich zu einem bedeutenden Teil in ausländischer Hand, sodass nicht einmal ein Wertverlust des Dollar die USA sonderlich tangieren würde, dafür die Gläubiger anderer Staaten desto mehr. Als Beispiel wird die achtprozentige Abwertung im Jahr 2007 erwähnt, durch die rund zwei Drittel des damaligen Leistungsbilanzdefizits de facto getilgt werden konnten.

Neben den USA ist deren engster europäischer Verbündeter, Großbritannien, von chronischen Leistungsbilanzdefiziten betroffen. Die Defizite im Außenhandel wuchsen mit dem Rückgang der Rohölförderung, die seit ihren Höchstständen zur Jahrtausendwende um mehr als die Hälfte absackte. Dennoch erholte sich das britische Pfund nach dem Tief während der Finanzkrise überraschend gut und konnte bis zum erneuten Einbruch infolge des Brexit das frühere Niveau erreichen. Das Vertrauen der Finanzmärkte ist offenbar unerschütterlich.

Vom Team der „Querschüsse.de“ wurde errechnet, dass im Jahr 2013 „die Netto-Auslandsschulden der englischen Volkswirtschaft sogar recht deutlich zurückgegangen (sind), obwohl auch in diesem Jahr wieder ein Leistungsbilanzdefizit bestand“. Es wird weiter ausgeführt, dass Großbritannien seit Anfang der 80er Jahre „fast 800 Milliarden Euro weniger Schulden angehäuft (hat) als es eigentlich qua seiner Defizite in der Leistungsbilanz haben sollte. Das sind gut 40 Prozent der Wirtschaftsleistung von 2013. Kein schlechtes Geschäft.“

Rettung durch Finanztransaktionen

Wie gelingt es den Angelsachsen beiderseits des Atlantiks, ihre Zahlungsbilanz angesichts immenser Defizite auszugleichen? Die zu schließende Finanzierungslücke wird als Kapitalbilanz bezeichnet. Sie besteht aus Direktinvestitionen, Wertpapieranlagen, Finanzderivaten und dem Kreditverkehr.

Während sich die in den USA getätigten ausländischen Direktinvestitionen zwischen 2000 und 2013 um 77 Prozent erhöhten, wuchs der entsprechende US-Bestand im Ausland um 136 Prozent. Dadurch entstand ein Nettoverlust für die US-amerikanische Volkswirtschaft, der sich bis 2013 auf 1415 Milliarden $ summierte. Angesichts dieses Mittelabflusses ist der Kompensationsbedarf zur Erzielung einer ausgeglichenen Zahlungsbilanz nochmals um einiges größer. Die gewaltige finanzielle Kluft wurde zu einem erheblichen Teil durch Verschuldung beim Ausland verringert.

Im Gegensatz zu den USA konnte Großbritannien im gleichen Zeitraum einen Nettozufluss durch Direktinvestitionen von 181 Milliarden $ verbuchen. Wird allerdings 2005 als Ausgangsjahr gewählt, schmilzt der Betrag auf 86 Milliarden $, und seit 1995 ist er sogar um 173 Milliarden $ rückläufig. Offenbar wurden die britischen Defizite durch Auslandsverschuldung mitfinanziert, wofür der Tatbestand spricht, dass zwischen 1995 und 2012 zusätzliche Verbindlichkeiten in Höhe von 67 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entstanden - bei einem um 18 Prozentpunkte niedrigeren Vergleichswert der Gesamt-EU. Den Rest der Finanzierungslücke stopften Geldanlagen bei britischen Finanzhäusern.

Trotz Direktinvestitionen fiel der Anteil des produzierenden Gewerbes an der Wertschöpfung auf 20 Prozent und befindet sich damit auf US-amerikanischem Stand, während der EU-Durchschnitt um fünf Prozentpunkte höher liegt. Tritt der Brexit-Fall ein, dann ist ausländisches Wirtschaftsengagement in Großbritannien gefährdet, da das Land gegenwärtig vielen Investoren als Exportplattform für die EU dient. Vor diesem Hintergrund und angesichts des geringen Anteils der Industrieproduktion am Bruttoinlandsprodukt erscheint der aktuelle Wertverlust des britischen Pfundes als gerechtfertigt.

Die wachsende Rolle des Finanzsektors

Die parasitäre Existenz der USA und Großbritanniens beruht nicht allein auf Kapitaltransfers. Angesichts der schwachen produktiven Basis ihrer Volkswirtschaften bedarf es Exportschlager außerhalb der Güterproduktion, mit denen sich Geld verdienen lässt. Solche sind Finanzdienstleistungen aller Art. Die bedeutende und tendenziell wachsende Rolle der Finanzwirtschaft beider Staaten dokumentiert ein in den NachDenkSeiten veröffentlichtes Schaubild, das einem Text der Forschungsabteilung der Deutschen Bank entnommen wurde.

In Bezugnahme auf den dort verwendeten Begriff „Bruttowertschöpfung“ merkt Albrecht Müller an, dass es sich bei dem Gros der Finanzdienstleistungen nicht um Werte, sondern um volkswirtschaftlich unnütze Tätigkeiten handelt. Er führt aus:

Die Spitzen der Finanzwirtschaft, die Investmentbanker, Broker, Börsen und Agenten haben entdeckt, dass sie mit dem Betrieb von Casinos, mit Spekulationen, mit Wetten und allerlei sonstigen neu erfundenen Finanzprodukten sehr viel mehr verdienen. Sie haben weiter entdeckt, dass sie mit ständigen Transaktionen von Vermögenswerten, von Aktienpaketen und ganzen Unternehmen auf leichte Weise um Potenzen mehr verdienen als mit der traditionellen Aufgabe des Kapitalmarktes, der Vermittlung zwischen Sparern und investierenden Unternehmen. Also haben sie ihre Energie auf den Casinobetrieb konzentriert und dabei Milliarden beiseite geschafft.

Das Geschäft mit Finanzprodukten ist deshalb besonders attraktiv, weil die Anleger das volle Risiko tragen. Bei den in Rechnung gestellten Leistungen sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. So werden Beratungs-, Vermittlungs-, Bearbeitungs- und Transfergebühren erhoben, Kauf-, Verkaufs-, Umschichtungs- und Aufbewahrungskosten verlangt sowie Provisionen, Sonderabgaben, Depotkosten, Kontogebühren und Aufwandsentschädigungen berechnet. Diese Liste lässt sich beliebig verlängern.

Die dominante Stellung der angelsächsischen Finanzplätze

Von den Einnahmen aus Finanzgeschäften profitieren allen voran die Londoner City und die Wallstreet als weltgrößte Finanzplätze. So lagen die USA 2011 mit 12,5 Billionen $ ausländischer Geldanlagen vorn, gefolgt von Großbritannien mit 7,6 Billionen $. Mit 4,4 Billionen $ befindet sich Deutschland abgeschlagen auf Platz drei. Gemessen an der Offshore Intensity Ratio stehen zehn Steueroasen gegenwärtiger oder ehemaliger britischer und US-Kolonien an der Spitze. Erst an 11. Stelle findet sich Luxemburg. Allein auf den Cayman-Inseln lagern ausländische Assets im Wert von 3,5 Billionen $, d.h. nur rund 20 Prozent weniger als in Deutschland. Da jene Ministaaten vollkommen auf die Gnade ihrer „Mutterländer“ angewiesen ist, kann getrost von Außenstellen des Finanzplatz-Spitzenduos gesprochen werden.

Die Interessendifferenzen lassen sich anhand der Reaktionen auf die Panama-Papers erkennen. Bei der Anschwärzung Putins und anderer in Ungnade gefallener Herrscher gab es noch den Schulterschluss. Bald zeigte sich aber, dass die Forderungen der Kontinentaleuropäer jenseits des Atlantiks kaum Gehör finden. Stattdessen locken US-amerikanische Steueroasen wie Delaware, Wyoming und Nevada Finanzinvestoren an, die bislang ihr Vermögen in Panama oder in der Schweiz in Sicherheit glaubten. Gleichzeitig hat sich das Thema „Panama-Papers“ wie durch eine unsichtbare Hand gesteuert aus der Medienberichterstattung weitgehend verabschiedet.

Bedeutende Finanzmetropolen finden sich nicht nur im Einflussbereich der USA und Großbritanniens. Auch Singapur gehört dazu, und anderswo unternehmen Länder und Städte Anstrengungen, um an den wachsenden Aktivitäten im Finanzsektor zu partizipieren. Deren Lebenssaft bilden anlagesuchende Geldmittel, die sich in der Hand von wohlhabenden Privathaushalten, bei institutionellen Anlegern sowie im Besitz von Staaten mit enormen Außenhandelsüberschüssen befinden. Steigende Vermögen sind daher der wichtigste Garant für einen andauernden Boom an den globalen Finanzplätzen.

5. Gefahren durch wachsende Einkommensunterschiede

Die unterschiedliche Interessenlage von Staaten, die auf die Finanzwirtschaft setzen, und dem Rest der Welt erweist sich als besonders gravierend bei der Beurteilung der wachsenden Einkommensschere. Da vermögende Privathaushalte in der Lage sind, ihre Konsumbedürfnisse maximal zu befriedigen, fließen zusätzliche Geldeinnahmen zwangsläufig in den Anlagebereich. Nutznießer sind vornehmlich Volkswirtschaften mit einem starken Finanzsektor. Deren Regierungen haben daher kein Interesse, Bemühungen um eine Verminderung der Kluft zwischen Arm und Reich zu unterstützen. Vielmehr werden Staaten, die wegen der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit des produzierenden Gewerbes um ihre globale Position fürchten müssen, derartige Initiativen blockieren.

Wachsende Einkommens- und Vermögensunterschiede sind nicht nur eine Frage sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Integrität, sondern sie haben auch beträchtliche Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung. Auf der einen Seite streben immer größere Geldbeträge in Anlageobjekte, auf der anderen bleibt die kaufkräftige Nachfrage nach Konsumgütern relativ zurück. Zunehmende Einkommensdisparitäten manifestieren sich bei vermögenden Haushalten als Anlagenotstand, während sich innerhalb der Konsumentenschaft Klagen über Wohlstandseinbußen mehren.

Die von der klassischen Ökonomie erwartete Korrektur durch ein Überangebot mit der Folge von Preiseinbrüchen, welche dann die Konsumenten begünstigen, tritt augenscheinlich nicht ein. Die Ursachen sind ein hoher Konzentrationsgrad in relevanten Wirtschaftszweigen und eine verbesserte Marktinformation, sodass gewinngefährdende Entwicklungen rechtzeitig erkannt und bereits im Vorfeld abgewendet werden können. Neuinvestitionen werden auf ein Minimum reduziert, Risiken an Zulieferer und Dienstleister outgesourct, Belegschaften und politische Entscheidungsträger unter Druck gesetzt.

Investitionstätigkeiten dienen angesichts zurückbleibender Endnachfrage vorrangig dem Zweck von Kosteneinsparungen. Dadurch wird aber das Kaufkraftniveau weiter abgesenkt, weil Lohnabhängige und Kleinunternehmer ihre Arbeit verlieren oder sich mit geringeren Einkünften begnügen müssen. Es entsteht ein Teufelskreis.

Der drohende wirtschaftliche Niedergang kann schließlich nur durch eine zunehmende Verschuldung der Konsumentenseite aufgehalten werden. Neben Privathaushalten gehören dazu kommunale und staatliche Instanzen, soweit deren Tätigkeit darin besteht, gesellschaftlich vermittelte Bedürfnisse der Bürger zu befriedigen.

Der Anteil der Schulden am Bruttoinlandsprodukt stieg OECD-weit sowohl bei öffentlichen als auch bei privaten Haushalten in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts um jeweils rund 25 Prozent. Damit wuchs der Schuldenstand deutlich schneller als die Wirtschaftsleistung. Offenbar wäre die globale Wirtschaft ohne diese Alimentation der Konsumenten bereits zu einem früheren Zeitpunkt zusammengebrochen. Da eine Rückkehr zu einem sich selbst tragenden Wachstum kaum möglich erscheint, kann angenommen werden, dass die Geldschleusen der Notenbanken weiterhin geöffnet bleiben.

Zunehmender Wettbewerb der Volkswirtschaften

Um nicht in eine Schuldenspirale zu geraten, die bei sinkender Bonität und wachsenden Verbindlichkeiten gegenüber Kreditgebern droht, bemühen sich die Regierungen um eine Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften. So wird bei öffentlichen Dienstleistungen gespart, um zusätzliche Finanzmittel für Infrastruktur-, Bildungs- und Forschungsprojekte verfügbar zu haben. Durch diverse Vorleistungen sollen wirtschaftliche Aktivitäten beflügelt werden. Darüber hinaus werden Unternehmen und Kapitalanleger direkt unterstützt, etwa durch Bürgschaften, Subventionen, Zuschüsse und Steuerermäßigungen. Tatsächlich hat sich die Begünstigung von potentiellen Investoren und Kapitaleignern mancherorts als erfolgreiche Strategie zur Erzielung von Wirtschaftswachstum, Beschäftigungszunahme und höherem Steueraufkommen erwiesen.

Dass ein solches Engagement auf längere Sicht zum Bumerang für die eigene wie auch für konkurrierende Volkswirtschaften wird, lässt sich durch das mathematische Modell des Gefangenendilemmas veranschaulichen. Es sei hier auf die Ausführungen in einem früheren Artikel verwiesen:

Auf Staaten angewandt soll eine Regierung betrachtet werden, die alle Hebel in Bewegung setzt, um einheimische Produzenten zu stärken und ausländische Investoren sowie Großsteuerzahler anzulocken. Die zu erbringenden Opfer sollen sich in einem überschaubaren Zeitraum auszahlen. Wenn andere Länder nicht mitziehen, dann geht die Rechnung tatsächlich auf. Aber auch für den Fall, dass anderswo vergleichbare Maßnahmen beschlossen werden, steht unsere Regierung besser da, als wenn sie untätig geblieben wäre.

Da sich aber alle Staaten in derselben Lage befinden, wird jede Regierung folgerichtig eine ähnlich gelagerte Wirtschaftspolitik betreiben. In diesem Fall kann aber kein Staat Vorteile erlangen. Alle erleiden Verluste im Umfang der gewährten Vergünstigungen.“

Offenbar bedarf es verbindlicher internationaler Regeln, um Alleingänge zu verhindern, die letztendlich allen zum Nachteil gereichen. Wenn jedoch der Schaden durch anderweitige Vorteile, die aus dem gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzsystem gezogen werden, mehr als kompensiert werden kann, wird ein Staat bemüht sein, entsprechende Beschlüsse zu verhindern oder zumindest zu verwässern.

Außerdem erscheint es opportun, den Druck durch eigenes Vorpreschen weiter zu erhöhen. Dies beabsichtigt aktuell die britische Regierung durch die Senkung der Steuerbelastung für Unternehmen von 20 auf 15 Prozent. Sollte die Londoner City nach erfolgtem Brexit deutlich Federn lassen, dann könnte sich diese Maßnahme als Eigentor erweisen.

Das Verlangen nach staatlichen Eingriffen

Große und finanzstarke Staaten können sich dem Konkurrenzdruck leichter entziehen. Ihre Volkswirtschaften sind für Privatinvestoren auch ohne Steuergeschenke und Vorleistungen interessant, soweit sie Rechtssicherheit garantieren und eine ausreichende Infrastruktur besitzen. Wenn sie zudem über eine starke Zentralgewalt verfügen, lässt sich die Tätigkeit privater Unternehmen auf eine Weise lenken, die Produktivität, Beschäftigung und Wohlstand erhöht.

Dies erzeugt verständlicherweise Unmut bei Regierungen, die vor dem Hintergrund eines neoliberal gefärbten Demokratieverständnisses eher eine Schwächung der Staatsmacht anstreben. Ihre Legitimationsbasis wird gegenwärtig schon dadurch ausgehöhlt, dass ein wachsender Bevölkerungsteil unter Einkommenseinbußen leidet und sich Zukunftsangst ausbreitet. Nun verliert obendrein das Postulat der Alternativlosigkeit neoliberaler Wirtschaftspolitik allmählich an Überzeugungskraft.

Aus der Sicht von Kritikern muss der Staat mehr Engagement zeigen und - falls nötig - seinen Kompetenzbereich erweitern, um negative Erscheinungen in der Wirtschaft erfolgreich bekämpfen zu können. Soll es nicht bei Flickschusterei bleiben, dann bedarf es eines dezidierten Programms für eine alternative Wirtschaftspolitik. Leider ignorieren auch die ausgereiftesten unter den gegenwärtig diskutierten Konzeptionen weitgehend globale Zwänge. Um sich diesen aber entgegenstemmen zu können, müssen notwendigerweise die staatlichen Machtbefugnisse ausgeweitet werden.

Dies scheint auch die politische Elite zu begreifen, weshalb sie sich skeptisch bis ablehnend positioniert. Wenn sich darüber hinaus noch Protestparteien der Rhetorik vom starken Staat bedienen und gleichzeitig liberale Errungenschaften in Frage stellen, wird die Bedrohung westlicher Werte beschworen und ein Zusammenrücken der Demokraten verlangt. Nun rächt sich, dass destruktives Treiben in den eigenen Reihen über Jahre kritiklos geduldet wurde.

Keine Demokratie ohne Sozialstaat

Hier schließt sich der Kreis. Durch die schrittweise Entmachtung staatlicher Instanzen, als Inbegriff von Demokratie verstanden, wurde eine Konstellation erzeugt, die über eine exzessive Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen zu Wohlstandsverlusten und schließlich zu Demokratieverdrossenheit geführt hat.

Maßnahmen, die notwendig wären, um diesen Trend zu stoppen, werden von „Freunden“ verhindert, weil diese vom gegenwärtigen System erheblich profitieren. Sie finden leicht Mitstreiter, da es überall und zu jeder Zeit tatsächliche oder vermeintliche Opfer politischen Machtmissbrauchs gibt. Mit Hilfe eines festen Standbeins in den Medien interpretieren sie Machtanhäufungen als Gefährdung der Demokratie. Einschüchterungen zeigen Wirkung, weil Politiker nicht riskieren wollen, ständigen Angriffen ausgesetzt zu sein.

Gefordert ist eine Rückbesinnung auf die politischen Ideale der ersten Jahrzehnte der Nachkriegszeit, als demokratische und sozialstaatliche Leitmotive noch als gleichrangig galten. Gleichwohl sei daran erinnert, dass der Kampf für demokratische Rechte ursprünglich dem Ziel diente, Instrumente zur Durchsetzung der sozialen und materiellen Interessen der Bürger zu erhalten. Wird der Demokratiebegriff auf ein Niveau reduziert, welches der Marginalisierung eines wachsenden Bevölkerungsteils Vorschub leistet, dann werden Werte aufgegeben, die zumindest auf gleicher Höhe anzusiedeln sind wie die Verhinderung allzu großer Machtzusammenballungen.

Dies schließt keineswegs Kritik an Staaten aus, in denen politische Macht übermäßig konzentriert ist und demokratische Freiheitsrechte eingeschränkt werden. Dennoch sollte genau hingeschaut werden, wer in der eigenen Reihe der Protestierenden steht. Kräfte, die eine Kontrolle wirtschaftlicher Macht und eine gerechte Einkommensverteilung ablehnen und in ihrer politischen Praxis hintertreiben, haben in der Front der Demokraten nichts zu suchen.

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