Russland realer Verlust durch Annexionen

Ukrainekrieg Die Einverleibung großer Teile der Ukraine ist ein Ziel der Invasion des Nachbarlandes durch Russland. Außerhalb der patriotischen Blase der russischen Politik stößt sie selbst im eigenen Land auf Ablehnung

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Im Falle eines für Russland erfolgreichen weiteren Kriegsverlaufs in der Ukraine ist damit zu rechnen, dass relativ zügig der Moment kommt, im dem die russische Regierung nach dem Muster der Krim 2014 weitere Gebiete der Ukraine dem eigenen Staatsgebiet „hinzufügen“ möchte.

"Muster Krim" in komplett anderer Lage

Die Wahrscheinlichkeit ist dabei relativ hoch, dass das formelle Verfahren nach dem Muster der Krim abläuft. Krim-Politiker wie der Vertreter der Halbinsel bei Putin Georgy Muradow betonen sogar, dass es zu dieser Vorgehensweise gar keine Alternative gäbe. Die Krim erklärte erst die Unabhängigkeit von der Ukraine, führte ein Referendum durch und trat dann der Russischen Föderation bei. Weder Referendum noch Beitritt wurden vom größten Teil der Welt oder der Ukraine anerkannt - sie kämpft im Krieg nach wie vor auch für eine Rückgliederung der Halbinsel. Nach westlicher und ukrainischer Lesart fand eine einseitige Annexion der Krim durch Russland statt.

Ähnliche Prozesse sind in den Donbassregionen Donezk und Lugansk sowie in der von Russland eroberten südukrainischen Region Cherson zu erwarten. Dass hier bisher außer Ankündigungen von prorussischen Politikern nichts geschehen ist liegt vor allem daran, dass die ukrainischen Regierungstruppen noch größere Teile der Gegend um Donezk und auch kleinere bei Lugansk und Cherson hart verteidigen und somit weder Referendum noch „Beitritt“ wirklich in der ganzen Region vollzogen werden würden.

Die Legitimation solcher Referenden wäre noch wesentlich zweifelhafter als 2014 im Falle der Krim, wo man zumindest wirklich davon ausgehen konnte, dass damals die Mehrheit der dortigen Bewohner den Wechsel von der Ukraine nach Russland wünschte. Durch den Krieg sind der Donbass ebenso wie die Region Cherson teilweise entvölkert und vor allem die vielen Flüchtlinge in Richtung ukrainischem Regierungsgebiet, also von den russischen Invasoren weg, sind wohl kaum gewillt, ihre Heimat der russischen Regierung zu überantworten. Und hier handelt es sich um einen erheblichen Teil der bisherigen Bevölkrung. Von einem Referendum in ihrer früheren Heimat, die sie nicht freiwillig verlassen haben, wären sie zwangsweise ausgeschlossen.

Kein Refendum weil keine Mehrheit?

Dennoch wäre eine reale Mehrheit der verbliebenen Bewohner für eine Angliederung nach Russland insbesondere in der Region Cherson nicht zu erwarten. Die Gegend war vor dem Einmarsch nicht einmal mehrheitlich russischsprachig und auch nach der Eroberung durch russische Truppen machte sie vor allem Schlagzeilen durch proukrainische Demonstrationen trotz Unterdrückung durch die Besatzer. Die Spitzen der kollaborierenden Verwaltung mussten von außen durch die Besatzungstruppen eingesetzt werden, die gewählten Regionalfunktionäre waren nur in seltenen Fällen prorussisch.

Nur eine massive Manipulation der Abstimmung könnte in so einem Umfeld eine Mehrheit für Russland erzeugen. Das ist auch der mit den Russen verbundenen Kollaborationsverwaltung bewusst, deren stellvertretende Chef in Cherson Kiril Stremousow denn auch pflichtschuldig eine Eingliederung seiner Heimat ohne Referendum durch einfachen Erlass Putins vorschlug. Als formelles Argument nannte er, dass auch das Krim-Referendum 2014 „von der Weltgemeinschaft nicht akzeptiert worden" sei.

Vor allem nach Stremousows Vorstoß beeilte sich jedoch Kremlsprecher Peskow im Bezug auf eine Stellungnahme, dass mit den eroberten Gebieten der Ukraine nichts geschehe, was die Bevölkerung nicht wolle. Nur eine Schirmherrschaft russischer Regionen gegenüber russisch besetzten in der Ukraine sieht Peskow aktuell positiv.

Das kann als eine Absage an eine Annexion ohne Referendum gewertet werden, bedeutet aber nicht, dass es vor einem Wechsel nach Russland zu fairen Abstimmungen kommen wird. Denn auch bei Wahlen in Russland selbst haben Offizielle kein Problem damit, mit Schummeleien wie zusätzlichen Stimmzetteln, Mehrfachabstimmungen von Regierungsanhängern oder manipulierten Onlinewahlergebnissen den Ausgang zu ihren Gunsten zu frisieren. Das wird jedoch umso schwerer, je kleiner die reale Gruppe der Unterstützer des eigenen Kurses vor Ort ist, die Manipulationen decken und durchführen muss.

Keine Begeisterung bei russischsprachigen Ukrainern

Im Donbass gab es immerhin vor dem Krieg eine weit überwiegend russischsprachige Bevölkerung, von denen viele damals noch mehr Sympathien nach Russland als zur Euromaidan-Folgeregierung in Kiew hatten. Von dieser heißt jedoch außerhalb des ehemaligen Rebellengebietes den russischen Überfall auf die Ukraine kaum jemand gut.

Denn dieser führte zur kriegerischen Zerstörung der eigenen Heimat, zu entvölkerten Städten und zahlreichen zivilen Opfern. „Die Einstellung der Menschen dort hat sich bereits geändert und das ist kein großes Geheimnis mehr“ gab hier sogar die Krim-Ikone und frühere russische Dumaabgeordnete Natalja Poklonskaja gegenüber dem Freitag zu. Russland selbst hat sich durch seinen Einmarsch bei den russischsprachigen Ukrainern diskreditiert. Auch Sympathien in den vorherigen Rebellengebieten, die durch Beschuss von ukrainischer Seite gegen das eigene Land oft sehr aufgebracht waren, sind zurück gegangen, seit die aus Russland gesteuerte Rebellenarmee für den Krieg vor Ort Zwangsrekrutierungen unter den jungen Männern in Donezk oder Lugansk durchführt.

Wenn im Donbass noch verbliebene Bewohner für eine Unabhängigkeit oder einen Anschluss nach Russland votieren, dann bis auf Ausnahmefälle weder aus Überzeugung noch aus Begeisterung. Es ginge ihnen dann um die Aussicht, durch innenrussische Finanzhilfen einen Wiederaufbau ihrer zerstörten Heimat zu erreichen.

Kein Begeisterung bei vielen Russen selbst

Genau hier liegt ein Grund, warum eine Annexion all dieser Gebiete auch bei vielen Russen nicht auf Gegenliebe stößt. Und das, obwohl sie im Bezug auf den Donbass bereits durch Straßenumbenennungen in allen russischen Regionen und Terminen Putins mit Rebellenvertretern vorbereitet werden. Die nicht unbedingt oppositionelle Moskauer Zeitung Kommersant führte unter ihren Lesern eine Umfrage durch, ob sie die Annexion neuer Gebiete durch Russland unterstützen. Unter den über 4.000 Teilnehmern äußerten sich nur 36 % dafür - 64 % lehnten Gebietseinverleibungen ab, obwohl diese ja von der eigenen Regierung, zumindest was den Donbass angeht, schon so gut wie in Aussicht gestellt werden. Wen das angesichts offizieller Umfrageergebnisse zur Unterstützung des russischen Ukrainekriegs wundert, sollte sich zum Zustandekommen solcher Ergebnisse genauer informieren, die von führenden russischen Soziologen und Politologen stark angezweifelt werden.

Unter der Abstimmung erläuterten zahlreiche Teilnehmer unter Nutzung der Anonymität, warum sie von solchen „Gebietsgewinnen“ auf Kosten anderer Staaten, die Teile ihrer politischen Elite begrüßen, nicht begeistert sind. So schrieb ein User „warum brauchen wir mehr Land voll von Bomben, Granaten und zerstörten Städten? Das Geld für den Wiederaufbau wird uns aus der Tasche gezogen“, ein anderer verweist auf schlimme wirtschaftliche und außenpolitische Folgen der russischen Annexionspolitik, ein Dritter mahnt, man müsse erstmal an die eigenen Gebiete denken, bevor man sich mit solchen Annexionen beschäftigt.

Zur Ablehnung von Annexionen durch viele Russen trägt bei, dass insbesondere die Ukraine in Russland schon vor dem Krieg den Ruf eines „Fasses ohne Boden“ hatte. Das gilt auch für russische Experten. Der Politologe und Programmdirektor des Waldaj-Clubs Iwan Timofejew sah bei einer Analyse Ende Januar den Vorteil eines russischen Kurses, der die Ukraine dem Westen überlässt darin, dass die Institutionen im Land korrupt seien und Hilfe in dunklen Kanälen verschwinde - Hilfe, die im Falle einer prorussischen Ukraine Russland zu leisten habe. Hierdurch und durch Krieg und Sanktionen würde die Leistungsfähigkeit Russlands überfordert.

Zusammenfassend ist damit festzustellen, dass Russland mit einer offensiven Annexionspolitk nicht nur den Westen und die Ukraine weiter gegen sich aufbringen würde - hier ist beim aktuellen kriegerischen Verhältnis ohnehin nicht mehr viel zu verlieren. Vielmehr stößt der harte Kurs der in der russischen Politik nun mächtigen „Superpatrioten“ auch auf beträchtlichen Widerstand in den Gebieten, um die es geht und in der eigenen Bevölkerung, aufgrund von realen Befürchtungen, das Land übernehme sich mit den Folgen komplett. Der scheinbare Gewinn Russlands durch neue Gebiete in der eigenen Föderation würde dadurch mehr als zunichte gemacht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Bernhard Gulka

Politischer Osteuropablogger

https://berndgulka.wordpress.com

Bernhard Gulka

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