Die Prothese -Inszenierung von Gottähnlichkeit (Teil 1)

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die Prothese - symbolische Inszenierung von Gottähnlichkeit (Teil 1)

Theorie

„Läßt sich die Stellung des Menschen in der Welt nicht viel zwangloser deuten, (…)wenn man die Tatsache seiner (biologischen) >Frühgeburt<, die ganze Insuffizienz seiner animalischen Wirklichkeit als Grundlage für seinen Hunger nach Realitätsveränderung betrachtet, (…) wenn man das Gefühl der Unerträglichkeit, das ihn beseelt,einfach als Waffe gelten läßt, (…) die es diesem schlecht ausgestatteten Wesen ermöglicht, sich durchzusetzen und zu überleben, dann zu siegen in einer feindseligen Welt?“1

Heilen wie die Heiden?

In Verleugnung der leicht verwundbaren körperlichen und seelischen Integrität des Menschen findet sich oft der Patientenwunsch, Krankheit könne durch Medizin-technik korrigiert werden wie ein defekter Kotflügel am Auto: Altes weg, neues dran, fertig. Die Kritik an der „Ersatzteilmedizin“ als solcher, wie sie vor dreißig Jahren geübt wurde, ist verstummt, auch findet sich kaum mehr Kritik an den „Halbgöttern in weiß“ Wir sind mittlerweile eher oft froh über das, was die Reparaturmedizin an Rehabilitation vermag. Dies sollte jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass es eine Grenze gibt, ab der Heilung nicht mehr als Instandsetzungsdienstleistung möglich ist. Theophrast von Hohenheim (Paracelsus) war der Auffassung, es gebe zwei Arten von Medizin: Die er ausübte, nannte er eine christliche Medizin unter Berücksichtigung der Naturgesetze, in Abgrenzung zur anderen Medizin, nach der die Ärzte heilen wollten wie die Heiden. Wenn wir unter Heiden auch etwas anderes verstehen als Theophrast, ist die Botschaft immer noch aktuell: Heilung wie mit einem Voodoo-Zauber herbeizuführen, mag zwar kurzfristig gelingen, hat aber ihren Preis. Vergleichbar führt die Apparatemedizin dazu, dass das Eingeständnis der Arzte, nicht mehr helfen zu können, weiter hinausgeschoben wird, schlussendlich aber doch kommt und der Patient mitunter dann in einem Zustand ist, in dem er nicht sein möchte und in dem er jedoch nicht mehr fähig ist, für sich zu sprechen.

Hirntod - Instrumentalisierung einer Definition

Die Entwicklung in der Transplantationsmedizin hat dazu geführt, dass die Hirntod-Definition, die ursprünglich eingeführt worden war, um intensivmedizinische Behandlungen begründet abbrechen zu können, sich zum Dreh- und Angelpunkt des Nachschubs an Transplantationsorganen entwickelt hat. Der Neurologe Alan Shewmon hat 175 Fälle von hirntoten Menschen dokumentiert, die mit intensivmedizinischer Betreuung noch Jahre lebensfähig wären. In dem Wissen, dass bewusstseinsgestörte Patienten

  • Schmerzreize wahrnehmen und Sprache erkennen, ohne dies nach außen vermitteln zu können,

  • Blutdruckschwankungen und Fieber bekommen können

  • bei Organentnahme ohne Sedierung sogar Reflexe auftreten

    zeigt sich die Dramatik der Organentnahmepraxis.

Das Selbstbestimmungsrecht, zentrales Element der bürgerlichen Gesellschafts- und Rechtsverständnisses, wird ad absurdum geführt, wenn sowohl die Frage nach der Bereitschaft zur Organspende als auch eine Widerspruchsregel an sich eine Nötigung zur Organspende darstellen, weil Mangel an Spenderorganen herrscht.

Ulrike Baureithel weist darauf hin, dass die 'Leben schenkende' Sozialge-meinschaft „nicht bereit ist zu reflektieren, weshalb der Organbedarf immer größer wird“, ein Umstand, der „in den funktionalen Denkhorizont des gesamten Transplantationssystems“ passe. (…) „Ärzte klagen vermehrt über mangelnde Disziplin transplantierter Patienten. Organversagen in Folge von Übergewicht, Drogen- und Medikamentenmissbrauch nehmen ebenso zu wie die Retransplantationsrate, wenn das Organ erneut versagt.“ Baureithel spricht sich dagegen aus, „dass die Betroffenen „in Schuldhaft für ihre Krankheit oder ihr Verhalten genommen werden sollen“, fordert jedoch: „Umgekehrt dürfen dann alle übrigen auch nicht zu poten-tiellen Organschuldnern gemacht werden.“ 2

Deutlich wird daran, dass die existenzielle Erfahrung von der Schwäche des Menschen der Natur gegenüber teilweise abgelöst worden ist von einer Haltung des „ich kann mir alles erlauben, die Ärzte werden es schon wieder richten-Mentalität“.

Sigmund Freud war der Auffassung, die menschliche Natur habe durch die tech-nische Entwicklung eine grundlegende Veränderung erfahren und prägte dafür den Begriff „Prothesengott“: Der Mensch benutze seine technischen Hilfsmittel als Prothese, um wie Gott sich die Natur untertan zu machen. Freud, der Atheist und Religionsfeind hat selbst erfahren, wie es ist, auf eine Prothese angewiesen zu sein, als er nach einer Krebsoperation im Gaumen eine Epithese und Zahnersatz benötigte. Der Prothesengott kann seine zentrale Schwäche nur als „Gott auf Zeit“ (Nikolaus Cusanus) vorübergehend überblenden. Verhindern können, dass ihn die Schwäche wieder einholt, ewige Jugend, wäre die wahre göttliche Natur. Nicht zuletzt deswegen wollen wir heute fast alle zwar alt werden, aber jung bleiben und räumen der Apparate-Medizin fast alle erdenkliche Vollmacht ein, uns mit technischen Tricks am Leben zu halten, während das Abschalten der Technik im Angesicht des Todes als unanständig empfunden und zu Recht Gegenstand eingehender Debatten über die Ethik in der Medizin wird.

Die atheistische Naturwissenschaft etablierte mit dem Glauben an ihre Problemlösungsfähigkeiten die siamesischen Drillinge Transplantation, Implantation und Chemotherapie als Heil- , Opfer- wie Folterritual, wie unter dem Zwang ihrer materialistischen Heilsversprechungen ohne zu realisieren, dass dieses Tun den Beginn des Zeitalters einer neuen Religion setzte, der Prothesengott-Religion.

Ob künstliche Gelenke, Zähne oder autologe oder xenogene Spenderorgane: So dankbar jemand auch sein wird, wenn er durch medizinische Technik dieser Art seine Lebensqualität verbessert findet oder dem Tod von der Schippe gesprungen ist - als Massenphänomen sind Ersatzteile ein- und verpflanzende Chirurgen Zeichen und Manifestation der atheistischen Ersatzreligion der Neuzeit, bei der der Mensch sich selbst als gottähnlich empfindet und Zeremonien der Selbstinszenierung seiner Gottähnlichkeit im Alltag rituell wiederholt. Die Verdinglichung des Glaubens an den Prothesengott ist die medizinische Ersatzteil- und Prothesenbe-schaffungsindustrie mit ihren Produktions-, Marketing-, Vertriebs- und Anwendungsstrukturen.

Ein Gott, an den nicht gedacht wird, an den keine Wünsche und Gebete adressiert werden und dem nicht geopfert wird, wäre keiner. Und so denkt der Mensch, mit der Krücke der naturwissenschaftlichen Erkenntnis sein Leben verlängern zu können, hofft und wünscht seinesgleichen nichts mehr als Gesundheit und langes Leben und ist bereit, viel Geld auszugeben, um das zu gewinnen, was er unter Gesundheit versteht, wobei jeder nach einem anderen Rockzipfel des langen Lebens langt. Angesichts des nahenden Lebensendes werden alle finanziellen Besitztümer zu liquiden Mitteln gemacht, um Arztrechnungen bezahlen zu können, ungeachtet eventueller Erben, die berechtigterweise Ansprüche geltend machen könnten, sich dies im Banne dieser Religion jedoch tabuartig verbieten.

Hinter dem muntergeschäftigen instrumentellen Allmachtsgehabe, das den spät-modernen Alltag zu beherrschen scheint, sind dennoch die dahintersteckende Schwäche der Objektbeziehungen, die Destruktivität und die damit zusammen-hängenden Schuldgefühle und Tendenzen der Selbst-„Herabsetzung“ nicht vollends zu verbergen. Sind nämlich die produktiven, kreativen Mitwirkungsmöglichkeiten von Einzelnen in einer Gesellschaft gering, stoßen also ihre Bemühungen, sich durch Handeln, durch Interaktion in ihr einzurichten, von früh an nicht auf das nötige Echo, wächst die Gefahr destruktiver Entgleisung, destruktiven Ausbruchs aus dem sozialen Gefüge. (…)

Die Situation der spätmodernen Gesellschaft am Ausgang des 20. Jahrhunderts ist nun von einer diesbezüglichen Verschärfung gekennzeichnet. Die kulturell be-nötigten Aggressionsventile werden immer rarer; auf innersoziale Aggressionsab-fuhr (etwa in Form von Hass gegenüber Minderheiten) zu setzen, wäre ein gefähr-liches Spiel mit dem Feuer, durch das der Zusammenbruch der spätmodernen Zivilisation drohen würde. Wir stehen vor der Alternative, entweder neue Möglichkeiten der Aggressionsentladung aufzutun oder besser: die sozialen und kulturellen Bedingungen aggressionsmindernd zu verändern. Im Zusammenhang mit dieser Zuspitzung hatte ich mit „Unbehagen zweiten Grades“ einen Schuldzusammenhang angesprochen, den unsere in den letzten Jahrzehnten zunehmende ökologische Destruktivität heraufbeschwört. Da sich aufgrund der hiermit verbundenen ubiquitären, globalen Risiken Destruktivität und Autodestruktivität kaum mehr unterscheiden lassen, schien mir dieses Handeln besonders gut den aus einer depressiven Grundstimmung herrührenden selbstzerstörerischen Aspekt zu verdeutlichen. Was in der individuellenBiographie den Suizid zur Folge hat, kann in der Geschichte des kulturellen Kollektivs zum Homizid führen: Indem wir jeder für sich – sinnbildlich gesprochen - am Ast sägen, auf dem wir alle gemeinsam sitzen.“3

Durch Stress gereizt fangen wir reflexhaft an, entweder zumindest verbal aggressiv werden und anderen dabei die Zähne zeigen oder sie stumm zu fletschen und uns zurückziehen: Welche alternativen Möglichkeiten der „Aggressionsentladung“, wie H.J. Busch sie sich wünscht, haben wir denn, wenn wir nicht gleich unser soziales und kulturelles Umfeld umkrempeln können, bevor wir dem Stress im Burn-Out zum Opfer werden?

1Amery, Carl (1974),Das Ende der Vorsehung – Die gnadenlosen Folgen des Christentums, Rowohlt, HamburgS. 23

2Baureithel, Ulrike: Entnahme am lebenden Menschen. Die Organspende-Debatte erlebt ein politisches Revival. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse spielen dabei keine Rolle. In: Freitag Nr. 10,10.März 2011; Vgl. auch: Baureithel, Ulrike, Bergmann, Anna ( 1999): Herzloser Tod. Das Dilemma der Organspende, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1999; Stoecker, Ralf (2010): Der Hirntod. Ein medizinethisches Problem und seine moralphilosophische Transformation. Alber, Freiburg/München

3Aus: Busch, Hans-Joachim: Das Unbehagen des Prothesengotts. Sozialpsychologische Anmerkungen zur umweltschädlichen Destruktivität in der spätmodernen Gesellschaft (Dieser Text hat einem Vortrag auf dem Kongress der Dt. Vereinigung f. Politische Wissenschaft in Kiel, im Arbeitskreis Politische Psychologie, am 24.9.2009 zugrunde gelegen)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

bertamberg

Xundheit! Salut! o! genese! Aufs Ganze gehen, bei Erkennen & Tun, Diagnose & Therapie. Alles ist vollkommen, "wenn das nötige gemacht ist." (Goethe)

bertamberg

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden