Nicht nur zur Weihnachtszeit: Gefühle kommen hoch. Warum?

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Als Mensch, als Subjekt erfahren wir uns

am ehesten über Gefühle und Empfindungen,

weniger über Intellekt und Rationalität.

Gefühle trügen nicht, in ihnen – viel mehr

als in dem, was wir wollen oder intendieren –

empfinden wir uns am intimsten, am unverwechselbarsten.“ 1

Was ist der biologische Sinn von Gefühlen? Hat nur der Mensch Gefühle? Wie entstehen Gefühle? Wäre es nicht eine bessere Welt, in der Gefühle ausgeschaltet sind und wir „kopfgesteuert“ leben? Zur Beantwortung müssen wir in die Urzeit unseres Planeten zurückgehen:

Während der ersten drei Milliarden Jahre des Lebens auf dem Planeten Erde gab es nur einzellige Lebewesen wie Bakterien, Algen und Protozoen. Diese Einzeller lernten, durch Signalmoleküle miteinander zu kommunizieren und bildeten die Fähigkeit aus, ihr Verhalten zu koordinieren. Schließlich bildeten sie primitive Gemeinschaften, wie z. B. die Schleimpilz-Amöben. Wenn diese nicht mehr genug Nahrung finden, geben sie ein Stoffwechselprodukt namens cAMP 2 ab. Wenn diese sich mit den cAMP-Rezeptoren anderer Schleimpilz-Amöben verbinden, ballen sie sich zusammen zu einem so genannten Fruchtkörper. Dieser dient der Reproduktion: In der Hungerphase wird die Zell-DNS geteilt, es bilden sich inaktive Sporen. Nahrungsmoleküle bilden später das Signal zur Aktivierung der Sporen und eine neue Generation von Einzellern beginnt ihr Dasein. Diese Signalmoleküle sind Botenstoffe wie die Hormone, Neuropeptide, Zytokine und Wachstumsfaktoren, die z.B. das Hormonsystem und Stoffwechselabläufe beim Menschen steuern.

Als Kommunikationsprinzip ist also festzuhalten: Umweltsignale bewirken über die Berührung an der Zellmembran in lebenden Zellen eine Bewegung von Protein-Bausteinen, die zu bestimmten lebenserhaltenden zellulären Reaktionen und Funktionsabläufen führen. Die Zellmembran funktioniert als „Gehirn“ der Zelle. Sie öffnet und schließt Zellmembrankanäle und führt den Austausch mit der Umgebung durch.

Erst vor ca. 700 Millionen Jahren bildeten sich Pflanzen und Tiere. Auch sie reagieren auf Signalmoleküle. In primitiven Mehrzellern ohne Nervensystem, stellen diese Signalmoleküle eine Art elementaren „Denken“ dar, indem sie Information zwischen den Zellen koordinieren. Jede Zelle nimmt Reize der Umgebung wahr und stimmt ihr Verhalten darauf ab. Mit der Entwicklung von komplexeren Tieren entwickelte sich aus diesen Strukturen das Nervensystem mit einer zentralen Verarbeitungsstelle, dem Gehirn, das die höchsten Wahrnehmungsinstanz darstellt und das Verhalten der Körperzellen kontrolliert.

Der entscheidende Punkt ist, dass die An- oder Abwesenheit der Signalmoleküle nicht mehr direkt von den einzelnen Zellen des Lebewesens wahrgenommen wurde, sondern indirekt über spezialisierte Zellen des allmählich herausgebildeten Nervensystems. Diese kommunizierten durch An- und Abschaltung von regulatorischen Signalen mit den von ihnen verbundenen Zellen. Diese „neuen“ Signale wurden für die Wahrnehmung zu einer von allen Körperzellen verstandenen „neuen Kommandosprache“. Im Bewusstsein des Lebewesens wurden diese Signale als Emotionen gespürt. Emotionen sind also die übergeordnete Sprache, die jeder Zelle verständlich signalisiert, wie es dem Gesamtorganismus geht, ob es Gelegenheit ist, sich wohlzufühlen, oder ob es aufgrund einer Stresssituation notwendig ist, sich auf das Überleben zu konzentrieren.3

Schockierend für die verbreitete Vorstellung des Menschen als „Krone der Schöpfung“ sind die Erkenntnisse von Candace Pert 4 . Sie fand heraus, dass das menschliche Gehirn parallel wie das zelluläre Gehirn des Einzellers funktioniert. „Neurale“ Rezeptoren finden sich in fast allen Körperzellen. Experimentell konnte sie zeigen, dass der menschliche Geist nicht nur im Kopf sitzt, sondern durch Signalmoleküle im ganzen Körper verteilt ist.5 Emotionen entstehen als Antwort auf Informationen, jedoch kann der menschliche Geist über das Gehirn auch „Gefühlsmoleküle“ erzeugen und verteilen, quasi eine emotionale Grundhaltung einnehmen. Dies ist die Grundlage, auf der das Bewusstsein Gesundheits- wie Krankheitsprozesse beeinflussen kann, zum Besseren oder zum Schlechteren.

Vor dem Hintergrund dieser biologischen Funktion von Gefühlen eröffnet sich ein neuer Blickwinkel auf unsere Zeit, in der es verpönt ist, zur Unzeit Emotionen zu zeigen, wie z. B. der Dalai Lama schrieb:

Wir haben, so erlebe ich es jedenfalls, eine Gesellschaft geschaffen, in der es den Menschen immer schwerer fällt, sich gegenseitig ihre wahren Gefühle zu zeigen. (...) doch das psychische und emotionale Leid, das im Westen so verbreitet ist, spiegelt wahrscheinlich weniger ein kulturelles Manko wider als eine dem Menschen innewohnende Tendenz.“ 6

Dies ist nichts, was eine Erscheinung jüngeren Datums ist, schon Hermann Hesse formulierte als Wahrnehmung:

„Der Mensch besteht, nach der alten, bildhaften und schönen Vorstellung aus Körper, Seele und Geist. Meistens sind zwei dieser Elemente miteinander verbündet und das dritte wird vernachlässigt. (...) Unsere Zeit ... übertreibt sowohl die Körperkultur wie die des Verstandes, beides auf Kosten der Seele.“7

Die meisten biologischen Fehlfunktionen beginnen auf der Ebene der zellulären Moleküle und Ionen, daher die Notwendigkeit für eine Biologie, die den Newton'schen und den quantenphysikalischen Ansatz vereint“.8

Die Quantenphysik hat die Voraussetzungen geschaffen, dass Fernsehapparate, Computer, Raketen und Mobiltelefone erfunden wurden, sie hat jedoch in der Medizin nicht die Bedeutung bekommen, obwohl die Gesetze der Quantenphysik vor allem auf molekularer und atomarer Ebene gelten, im Gegensatz zu den Newtonschen Gesetzen, die für höhere Organisationsformen, für Menschen oder Bevölkerungen gelten:

„Der Prozess, der eine [Krebserkrankung] ausgelöst hat, begann auf der molekularen Ebene der betroffenen Zellen.“ 9

Wir wissen, dass ein australischer Ureinwohner tief unter dem Sand Wasser spüren kann, und dass Schamanen aus dem Amazonasgebiet mit ihren Heilpflanzen kommunizieren. Diese hypersensorischen Fähigkeiten sind bei „zivilisierten Menschen“ in der Regel verkümmert, wie ein musikalisches Talent, das nicht weitergebildet wurde. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass diese Fähigkeit im Laufe der Zeit verkümmert ist, weil sie im Prozess der Kulturentwicklung an Bedeutung verlor. Zudem bedeutete die Entwicklung von Sprache und Kommunikation, dass das „Spüren“ von Informationen zunehmend überflüssig wurde. Intuitiv wissen wir jedoch:

„Alle Organismen, auch Menschen, nehmen ihre Umgebung durch Energiefelder wahr und kommunizieren durch sie.“ 10

Wenn Panksepp Recht damit hat, dass Gefühlen evolutionär bedingte neuronale Mechanismen zugrunde liegen 11 wäre es eine menschenbildnerische Herausforderung, zivilisatorische Errungenschaften dazu zu benutzen, den Gefühlshaushalt zu equilibrieren statt einzelne Gefühle zu unterdrücken, dem höheren Bewusssein ein Primat über das primäre Bewusstsein zu erkämpfen. Unsere vier basalen emotionalen neuronalen Netzwerke, die sich auf der Grundlage eines rudimentären „emotiven Organsystems“ in Reaktion auf Umweltreize hin gebildet haben (die zugehörigen Emotionen sind in Klammern angefügt): SEEKING (Begehren, Hoffnung, Erwarten), RAGE (Hass, Wut), PANIC (Einsamkeit, Trauer, Trennungs-Disstress) und FEAR (Angst, Alarmierung, Schrecken). Als sozialfördernde Emotionen gebe es neuronale Entsprechungen für LUST (Lustempfindung), CARE (Fürsorge) und PLAY (Spieltrieb).

Nach G.M. Edelmann gehört zu den höheren Hirnfunktionen Wahrnehmungskategorisierung, Gedächtnis und Lernen.12 Diese Funktionen sind untrennbare Aspekte einer individuellen geistigen Leistung, die zwar dem Bewusstsein unzugänglich sein kann, die jedoch im Unbewussten abgespeichert wird. G.M. Edelman spricht dabei von Karten und reziproken Schaltkreisen. „Karte“ meint: Die wiederholte Aktivierung eines bestimmten Neuronennetzes durch eine bestimmte Wahrnehmung (Perzeption) bewirkt eine Verstärkung dieses Neuronennetzes.13

Die Verbindungen verschiedener Neuronennetze und ihre ständige Kommunikation miteinander bezeichnet Edelman als „reziproke Kopplung“. Diese neuronale Tätigkeit wird wieder als Perzeption aufgezeichnet, als „Wahrnehmungskarte“. In dieser ist quasi vermerkt, wenn ein bestimmtes Signal wahrgenommen wird und die Aktivierung eines bestimmten Neuronennetzes zur Folge hat. Dieser Akt stellt den ersten Schritt der psychischen Entwicklung dar, dem die Entwicklung des Bewusstseins, des Geistes und der sprachlichen Benennung folgen. Zunächst entstehe ein „primäres Bewusstsein“, in dem man sich ohne Zeitgefühl der Dinge in der Welt geistig bewusst ist. Aus diesem könne dann das höhere Bewusstsein wachsen, das eine Ergänzung, jedoch kein Ersatz für das primäre Bewusstsein sei. Es wachse mit der Evolution von Sprache als Symbol für nicht anwesende Wirklichkeit, als Mittel des kulturellen Austauschs und der Entwicklung der Fähigkeit zur Verallgemeinerung und Reflexion.

Die körperliche Basis des primären Bewusstseins ist der Hirnstamm in Verbindung mit dem limbisch - hedonischen System, das unser affektives und sexuelles Verhalten wie auch die Verteidigungmuster bestimmt.

Das höhere Bewusstsein hat seine Basis im vielkernigen thalamokortikalen System, das über sensorische und zerebrale Signale in Verbindung mit dem Cortex agiert. Dieses Bewusstsein sei eine Form der Bewusstheit hinsichtlich Dingen und Ereignissen und daher ein Prozess und keine Substanz.

Ob man dieses Bewusstsein nun Aufklärung oder Zivilität nennt, Gewissen oder Es, emotionale oder soziale Intelligenz, Schwarmintelligenz oder Traditionspflege: Wer sich über seine Gefühle nicht im klaren ist und wer über Gefühle nicht kommuniziert, fällt immer wieder in eine selbstgegrabene Grube.

Was machen Sie, wenn Ihnen demnächst etwas schwant?

FN:

1Rimpau, Wilhelm (2008): Viktor von Weizsäcker - Warum wird man krank? Ein Lesebuch, Suhrkamp Frankfurt/M., S. 293

2cAMP = zyklisches Adenonin-3',5'-monophosphat ist ein Signalmolekül, das beim Abbau von ATP zur Energiegewinnung entsteht und zentrale Bedeutung im Stoffwechsel der Katecholamine (Adrenalin und Noradrenalin) hat.

3Lipton, Bruce (2008): Intelligente Zellen – Wie Erfahrungen unsere Gene steuern, Koha-Verlag , Burgrain, S. 129

4Pert, Candace (2001): Moleküle der Gefühle – Körper, Geist und Emotionen, Rowohlt, Reinbek

5Hans Werner Woltersdorf verweist darauf, dass die materialistisch orientierte Naturwissenschaft bislang keine brauchbare Definition der Tatsache von kompliziertem Instinktverhalten z. B. von Insekten oder auch der Wachstumsprozesse von Pflanzen liefern konnte, da Verhaltensweisen gentechnisch nicht angeboren sein können. Instinktverhalten als „Denken ohne Gehirn“ ist auf der Grundlage einer Biologie, wie sie von Lipton beschrieben wird, auch rational nachvollziehbar. Woltersdorf kommt schlüssig zu der These, dass „Geist“ als Medium zu sehen ist, „welches das Zusammenwirken von Materie und Energie ebenso sinnvoll wie unsichtbar organisiert,“ sowohl das individuelle pflanzliche und tierische Leben als auch die Schöpfung als kosmischen Entwicklungsprozess, den er als „Akt der geistigen Ordnung und Anordnung der Dinge und Geschehnisse“ definiert.Vgl.: Woltersdorf, Hans Werner (2008): Das Rätsel der Instinkte. Denken ohne Gehirn. Co'med, Hochheim, S. 177.

Nachtrag: Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels war mir nicht bekannt, dass Woltersdorf ein ehemaliger SS-Mann zu sein scheint, von dem 1992 ein Buch erschien, das mittlerweile indiziert ist. Insofern scheint es wahrscheinlich, dass W. immer noch nazistische Positionen vertritt, die mir z.Z. nicht bekannt sind und von denen ich mich vorsorglich distanziere. Ich belasse vorläufig den Hinweis auf diese Publikation hier. Was den Zusammenhang von Materie, Energie undGeist betrifft, erscheint mir das obige Zitat nicht spezifisch nazistisch. Wenn sich in der Diskussion Anhaltspunkte ergeben, die dies nahelegen oder belegen, wäre es eine Klärung, die mir zur Weiterentwicklung meiner Position hilfreich wäre, die ich dann hier auch dokumentieren würde.

6Dalai Lama (2007): Das Buch der Menschlichkeit. Eine neue Ethik für unsere Zeit, Lübbe Verlag Bergisch Gladbach, S. 17 f

7Hesse, Hermann (1971) : Lektüre für Minuten, Suhrkamp Frankfurt /M., S. 181

8Lipton, a.a.O., S. 108f

9ebd.

10ebd. S. 119

11Panksepp J (1998/2005): Affective neuroscience: the foundations of human and animal emotions. New York

12Edelmann Gerald M. (1995): Göttliche Luft, vernichtendes Feuer. Wie der Geist im Gehirn entsteht – die revolutionäre Vision des Medizin-Nobelpreisträgers. Piper München/Zürich, S. 147

13Edelmann Gerald M. (1989): Remembered Present: A Biological Theory of Consciousness, Basic Books

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

bertamberg

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