Psychosomatik in der spezialisierten Medizin Teil 1

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You got unrightous doctors dealing drugs that'll never cure your ills.“ 1


Begriffsklärung

Wenn Gesundheit der Krankheit nicht so folgt wie der Krimi der Tagesschau, heißt es oft, es sei psychosomatisch und impliziert, dass der Patient selbst schuld ist, wenn es ihm nicht besser geht, der Therapeut aber am Ende seiner Zuständigkeit. Was ist Psychosomatik?

Nach Bernd Hontschik lassen sich vier Konzepte unterscheiden. Die historisch älteste Auffassung ist eine eigen­ständige Krankheitstheorie, wonach es „echte“, d.h. ausschließlich psychogen bedingte Krankheiten gäbe wie z. B. das Asthma bronchiale, die Colitis ulcerosa oder das Ulcus duodeni. Hontschik: „Dieses Konzept ist längst überholt; Dennoch sitzt diese Vorstellung bis heute fest in den Köpfen der Patienten und auch der Ärzte, zumindest meiner Generation.“ 2 Erfahrungsberichte, dass eine langjährige Colitis durch eine Ernährungsumstellung und Substitution ortho­molekularer Substanzen binnen kurzem abklang, sind geeignet, die Un­haltbarkeit dieses Konzeptes zu bestätigen.3

Die zweite Variante der Psychosomatik beschäftigt sich mit den Krankheiten ohne organische Ursache“, früher gebrauchte man den Begriff „funktionelle Krankheiten“, heute hat es sich eingebürgert, von „somatoformen Störungen“ zu sprechen und das ICD-Diagnoseraster anzuwenden. Hontschik kritisiert, dass dieses Konzept unter anderem die „historische Dimension von Diagnoserastern“ ignoriere, es sei also mehr ein Verlegenheitsbegriff, der ein Sammelsurium verschiedenster Diagnosen umfasse, deren organisches Korrelat nicht bekannt sei. Es sei aber davon auszugehen, dass „Liebe und Hass, Scham und Trauer, Depression und Freude, Ekel und Begeisterung irgendwo im menschlichen Körper (...) auch eine organische Grundlage haben“ müsse. 4

Als drittes sei der Begriff Psychosomatik in Sinne einer primär psychischen Behandlungs­notwend­igkeit gebräuchlich. Psychotherapie werde dabei wie die Chirurgie als ein Handwerk aufgefasst, diese Auffassung sei von einer ausgeprägt dualistischen Denkweise geprägt: „Die Seele sitzt in dem einen Stockwerk und macht den Körper, der sich in einem anderen Stockwerk befindet, krank.“ 5


Viertens könne man Psychosomatik auch als eine „ärztliche Grundhaltung“ beschreiben, bei der ein Arzt mit der Zielsetzung handelt, „den Patienten nicht in Körper und Seele aufgeteilt, in einzelne Organe zerlegt wahr[zu]nehmen und seine Krankheit nicht abschnittsweise und desintegriert [zu] behandeln. (...) Unter diesem Blickwinkel ist der Psychosomatiker ein Facharzt für ärztl­iche Grundhaltung.“ 6

Aus dem Umstand, dass heute Psychosomatik als eigenständiges medizinisches Fach etabliert ist, deduziert Hontschik als fünfte Definition: „Psychosomatik ist das institutionelle Outsourcing des Menschen aus der Schulmedizin.“

Diese Entwicklung ergibt sich nach Hontschik aus folgenden Prämissen: „Die Schulmedizin denkt mechanistisch, ihr Menschenbild ist dualistisch, zweigleisig , und möglicherweise ist das erwünscht (...) Mit Einzelfällen, mit individuellen Arzt-Patienten-Beziehungen, mit Narrativen und Fallbesprechungen lässt sich aber keine Gesundheitsindustrie aufbauen und profitabel unterhalten. (...) Psychosomatik ist (...) die Notlösung der Schulmedizin für all jene Probleme, die sich bei der Ausübung der Heilkunst aus der scharfen Trennung zwischen Körper und Seele ergeben.“ 7

Diese Definitionen mögen geeignet und gedacht sein als Anregung zu mehr begrifflicher Klarheit und zum Widerspruch herausfordern, kommen jedoch aus einer Wirklichkeit, die von 400 Facharztdisziplinen mit scheuiklappenmäßig reduzierten sektoralen Zuständigkeiten geprägt ist. Dies um so mehr, als HontschiksVorstellungen einer „inte­grierten Medizin“ (in Anlehnung an Thure von Uexküll) blass bleiben, auch die praktische Umsetzung nur angedeutet wird. Die Vorstellung, eine Verbindung von Konstruk­tivismus, Semiotik und Systemtheorie lasse keine Wünsche mehr offen, ist nur ein Schritt in die richtige Richtung.

Voraussetzung dazu ist ein anderes Kommunikationskonzept , welches besser geeignet ist, zu einer gelingenden Be­ziehung zwischen Arzt und Patient beizutragen.

Hontschik skizziert dies in Kombi-nation mit einem dreigliedrigem, nicht-trivialen Modell (im Gegensatz zum zweigliedrigen Ur­sache-Wirkungs-Mo-dell der Schulmedizin) von Krankheit. Die Sichtweise von Krankheit als Be-standteil einer individuellen Le­bens­konstruktion eröffnet eine neue Art, Krankheitsbilder individuell in ihrer Sinnhaftigkeit zu erfassen und zum Gegenstand des Therapiegesprächs zu machen. Die Verknüpfung mit der Semiotik von Charles Sanders Peirce als kategorisierendes Werkzeug unterstütze eine auf den Anspruch der Nachvoll­ziehbarkeit nicht verzichtende therapeutische Tätigkeit .8

Mag dieses Konzept auch theoretisch brillant sein, eine erhebliche Schwierigkeit dürfte die Umsetzung in den Praxisalltag darstellen. Offen bleibt bei diesem Konzept auch, wie die Basis der Heilkunde, ihre vieltausendjährige Geschich­te, ihre ethnologisch stark unterschiedliche Ausdifferenzierung, die dennoch oft Verbindendes erkennen lässt, mit einzubeziehen wäre. Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) ebenso wie der Ayur­veda sind die ältesten datierbaren, heute noch vitalen Traditionen, ebenso wie der auf allen Kontinenten mündlich tradierte Schamanismus in seinen unterschiedlichen Formen. Sind dies per­spektivisch gesehen Sackgassen in der Medizingeschichte, eines Tages medizin­historisch von vergleichbarem Stellenwert wie die Entwicklung und das Verschwinden des Neandertalers 9 in der menschlichen Kulturgeschichte?

1Dylan, Bob (2005), S. 786, aus: „When You Gonna Wake Up? „Ihr habt unredliche Ärzte, die mit Drogen handeln, die eure Krankheiten niemals heilen werden.“


2Hontschik, B: Körper, Seele, Mensch – Versuch über die Kunst des Heilens, Frankfurt am Main 2006, S. 12f


3Kasuistiken zum Heilungsprozeß von Colitis-Patienten vgl. z.B. : Volkmann, P.-H. (2002): Ökosystem Mensch – Gesundheit ist möglich, co'med Verlag Sulzbach ;


4 Hontschik, B: S. 127


5 ebd. S. 128


6 ebd.


7ebd. S. 130f


8Peirce (1839-1914), ein US-amerikanischer Philosoph, gilt als Begründer der pragmatischen Erkenntnistheorie und der modernen Semiotik. Nach Sir Karl RaimundPopper ist Peirce der „wichtigste Denker der neuzeitlichen Erkenntnistheorie“. Er unterschied sämtliche existierenden Zeichen in drei „Universalkategorien“, nämlich die ikonische (basale körperbezogene Erfahrungen wie Hunger, Durst, Schmerz. Lust), die indexikalische ( Zeichen, die Verbindungen herstellen oder Vorstellungen und Erfahrungen über Ursache und Wirkung enthalten, d. h. Kausalitätszu­sammenhänge, sensorisch-motorische Kompetenz und Raum- und Zielvorstellungsvermögen) und die symbolische (abstrakt-logische Zeichen, Repräsentanzen wie Ausdruck von Gefühlen über Sprache, nötig um die eigene Individualität auszu-drücken und Sinnzusammenhänge herzustellen).


9Neueren Forschungen zufolge haben Gene des Neandertalers überlebt und tragen 4% zum Genpool des modernen Menschen bei.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

bertamberg

Xundheit! Salut! o! genese! Aufs Ganze gehen, bei Erkennen & Tun, Diagnose & Therapie. Alles ist vollkommen, "wenn das nötige gemacht ist." (Goethe)

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