Trauer – die Permanenz des äußeren Unglücks im Inneren

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In Erinnerung an Mia (*1990), tödlich verunglückt am 5.1.2010

Es [gibt] wenige Zufälle, welche die Menschen lebhafter rühren [als] Kinder durch einen gewaltsamen Tod [zu verlieren].“ 1

Wer je den Verlust eines geliebten, nahestehenden Menschen zu beklagen hatte, ist nach Holmes' und Rahes Untersuchung 1 zur Bedeutung psychosozialer Stressfaktoren in höchstem Masse einer erstrangigen Stressbelastung ausgesetzt. Der Tod eines Familienangehörigen wird mit 63 von maximal 100 Stresspunkten bewertet, der Tod des Ehepartners mit 100 Stresspunkten. Der Tod eines nahen Freundes wiegt dagegen nur 37 Stresspunkte. Eine eigene Verletzung oder Krankheit wird nur mit 53 Stresspunkten bewertet. Es ist unverständlich, dass Holmes und Rahe keine Differenzierung machen, wie stark der Tod eines Kindes die Eltern belasten kann.

Vor allem Menschen in der Lebensmitte sind durch solche Ereignisse gefährdet, da in dieser Phase die Tatsache von Verlusten deutlich macht, dass es keine Möglichkeit auf einen Ausgleich eines Verlustes gibt oder aber die Chancen geringer sind als gedacht. Wer als Mutter im Alter von 50 Jahren den Verlust eines geliebten Kindes durch einen Unfall oder ein Verbrechen erleiden muss, kann sie dies biologisch nicht ausgleichen, sondern bleibt mit seinen Erinnerungen allein. Als Reaktionen können sowohl depressive Erkrankungen auftreten, Ängste können anfangen, das Leben zu dominieren, es kann ein Drang nach Ablenkung vom Leid mit Tendenz zu Hyperaktivität auftreten oder aber ein zwanghaftes Verhalten zur Bewältigung dieses Verlustes entstehen.

Der Tod eines Kindes (…) ist für Vater und Mutter wohl immer eine Katastrophe, löst einen unerträglichen Schmerz aus. Die Verlassenen fallen ins Bodenlose und lernen nur langsam, wieder Fuß zu fassen. (…) Frauen neigen eher zu Selbstanklagen, sie werden von Schuldgefühlen heimgesucht, dass sie etwas versäumt haben könnten, erinnern sich an Augenblicke, in denen sie das Kind nicht verstanden haben, ungerecht, lieblos oder nur ermüdet auf dessen Fragen und Forderungen reagierten. (…) Bei Männern handelt es sich eher um Anklagen. (…) Wenn Anklagen und Selbstanklagen im Laufe der Jahre keine Milderung erfahren, wird Trauer zur Trauerkrankheit. Das führt bei beiden Geschlechtern zur Unfähigkeit, sich einem anderen Menschen zuzuwenden (…). Der äußere Tod verursacht den >>inneren Tod<<, der Wille zum Leben, das Interesse am Mitmenschen schwindet. (…) Wenn Trauer zur Trauerkrankheit wird, (…) führt der Tod eines Kindes nicht selten zur Auflösung einer ganzen Familie.“ 2

Die Säuglingssterblichkeit des 19. Jahrhunderts ist verschwunden, um dem Kriegstod von unbeteiligten Zivilisten im 20. Jahrhundert Platz zu machen, weiter verbreitet als je zuvor in der Geschichte der Menschheit, ein Phänomen, das zugleich anscheinend ein gesellschaftliches Tabu darstellt, das nicht nur Holmes und Rahe nicht zu brechen wagten. War Abraham noch bereit, seinen Sohn Isaak zu opfern, um seinem Gott gehorsam zu sein, so stoßen seit der Atomtoderfahrung Politiker auf immer weniger Gehorsam, wenn sie von den untergebenen Soldaten erwarten, ihr Leben für Kriegsziele zu opfern. Der Tod im Krieg ist nur im Film gut erträglich, oder wenn andere nach dem Sankt-Florians-Prinzip sterben.

Bei Unfällen wird üblicherweise aus psychosomatischer Sicht betont, dass der Unfall zu verstehen ist als Weigerung, selbst Verantwortung in die Hand zu nehmen. Dahlke sieht z.B. bei Unfällen als gefordertes Einlösungsprinzip „den eigenen Lebenslauf spannender, abwechslungsreicher und lebensgefährlicher gestalten“, oder bei Verkehrsunfällen die Aufforderung, das eigene Lebenstempo zu drosseln oder „freiwillig neue Wege [zu] gehen, statt sich aus der Bahn werfen zu lassen.“ 3 Louise Hay gibt als mögliche metaphysischen Grund bei Unfällen an, es könnte ein Unvermögen vorliegen, für sich selbst einzutreten, oder eine Auflehnung gegen Autorität oder aber der Glaube an das Mittel der Gewalt sich manifestieren. 4

Ohne Kenntnis der näheren Umstände ist dies rein spekulativ. Von Belang dürfte sein, ob ich allein für einen Unfall veranwortlich bin oder mit jemandem anderen in einen Unfall verwickelt bin. Ein Unfall mit Todesfolge kann in gleichem Maß als Appell an die Überlebenden verstanden werden, dafür Sorge zu tragen, dass Umstände entschärft werden, die solches möglich machen.

Mitunter übersteigt dies das was machbar ist und bleibt ein existenzieller Schicksalsschlag, der nur ohnmächtig ertragen werden kann, wie das Beispiel des Unfalltodes von Alexandra Freund am 21. Juni 2001 deutlich macht: Ein lebensmüder Geisterfahrer rammte auf der Autobahn frontal ihren Wagen, die 34-jährige war sofort tot, auch der Geisterfahrer. Für die Mutter, die TV-Moderatorin Petra Schürmann stand das Leben still. Sie schrieb ein Buch, um sich „das Grauen und den Kummer von der Seele zu schreiben“, musste aber erleben, wie der Tod ihrer Tochter ihr die Stimme raubte. Sie litt an einer „psychoreaktiven Sprechstörung“ und konnte sich nur noch schriftlich über Handy und Computer artikulieren, verlor auch die Fähigkeit, zu laufen. Über den Täter sagte sie: „Mein Hass ist maßlos. Er hat mein Glück zerstört.“5 Petra Schürmann starb nach langer Krankheit am 13.1.2010. Ihr Leiden an dem Unfalltod der Tochter scheint zwei wesentliche Ursachen zu haben: Ein schon fast symbiotisch zu nennende Mutter-Tochter-Beziehung, die durch keine Generationskonflikte getrübt wurde und sich auch darin zeigte, dass die Tochter beruflich in die Fußstapfen der Mutter trat. Der ungemilderte Hass auf den Unfallverursacher könnte zurückgewirkt haben, mitverursachend, dass die in der Symbiose schon zum Ausdruck kommende Unfähigkeit, für sich selbst allein zu sprechen noch deutlicher sich offenbarte. Geschluckter Zorn, die Weigerung, sich zu ändern (statt zuzulassen, dass die Phase der Symbiose im Laufe der Entwicklung zwar langsam aber unweigerlich zu Ende gehen wird) wurde symbolisch im Versagen der Stimme deutlich. Vielleicht ist es auch für jemandem, dem die Sympathie der Öffentlichkeit ein Leben lang galt, besonders schwer, einen Verlust wie diesen zu verschmerzen.

Doch fast jeder Trauernde kommt in die Situation, zu sagen: „Es gibt keinen Trost. Trost, das gilt nicht für den Tod.“ 6 Trauer ist in Deutschland, dem Land der Unfähigkeit zu trauern, etwas tendenziell Unnormales. Nach Dahlke gilt: Trauer ist ein lebenslanger Prozess. Unterdrückte Trauer macht jedoch nicht nur körperlich krank, sondern auch seelisch unheil. 7 Dennoch wäre es lebenswidrig, sich dem Weg zurück, in Erinnerung an empfundenes Glück, zu verweigern, selbst wenn der Trauerstachel nach 25 Jahren schmerzt wie am ersten Tag.

1 Holmes Th und Rahe R.: The social readjustment rating scale. Psychosomat. Res. 11 [1967],

2 Mitscherlich, Margarete (2010): Die Radikalität des Alters. Einsichten einer Psychoanalytikerin, Fischer, Frankfurt/M., S. 215ff.

3 Dahlke, Ruediger (2000): Krankheit als Symbol. Handbuch der Psychosomatik. Bertelsmann, München, 14. Aufl. S. 536 und S. 544.

4 Hay, Louise (1989): Heile Deinen Körper, Alf Lüchow, Berlin, 46.Auflage 2000, S. 42.

5 Antonioni, Marina u. Treichel, Inge: Zerbrochen am Verlust der Tochter. In: Taunus-Zeitung vom 15.1.2010.

6 Schaefer, Barbara (2009): Das Mädchen, das gehen wollte. Diana Verlag München, S. 142.

7 Dahlke, Ruediger (1995),: Lebenskrisen als Entwicklungschancen. Zeiten des Umbruchs und ihre Krankheitsbilder, Bertelsmann, München, S. 345.

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Geschrieben von

bertamberg

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