Ungelebtes Leben fordert Opfer und macht Mörder

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Erich Frommhat als zentrale psychische Disposition des modernen Menschen den “autoritären Charakter” als eine gemeinsame Wurzel für die Entwicklung sadistischer und masochistischer Charakterzüge benannt. Sein Verhalten ist gekennzeichnet von einem zwanghaften Verhalten, um einer als unerträglich empfundenen Situation (typischerweise Einsamkeit bzw. Ohnmacht) zu ent­fliehen:

Die Strebungen tendieren in einer Richtung, die nur scheinbar eine Lösung darstellt. Tatsächlich ist das Resultat dann genau das Gegenteil von dem, was der Betreffende erreichen möchte. Aber der Zwang, ein unerträgliches Gefühl loszuwerden, war so stark, dass es dem Betreffenden unmöglich war, sich für eine Handlungsweise zu entscheiden, die zu einer wirklichen Lösung, und nicht nur zu einer scheinbaren geführt hätte.” 1

Fromm unterscheidet zwei Fluchttendenzen: Die Flucht ins Autoritäre, in eine aktive oder passive Symbiose mit einer Person (als eher sadistisch geprägtes Verhaltensmuster) und die Flucht ins Destruktive (eher masochistisch beeinflusst), in die Beseitigung des als Bedrohung empfundenen Realitätsanteils:

Mir scheint, dass der Grad der Destruktivität beim einzelnen Menschen in einem direkten Verhältnis dazu steht, wie sehr ihm die Entfaltungsmöglichkeiten in seinem Leben beschnitten wurden. (...) Menschen und gesellschaftliche Bedingungen, die das Leben zu unterdrücken suchen, erzeugen ein leidenschaftliches Verlangen nach Zerstörung, das sozusagen das Reservoir bildet, aus dem sich die jeweiligen Tendenzen nähren, die sich entweder gegen andere oder gegen sich selbst richten.” 2

Als extremes Beispiel für die Konstellation von Befindlichkeit, von der Fromm schrieb, kann der Kriminalfall Jürgen Bartsch gelten, der in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts Aufsehen erregte.

Durch betont strenge Erziehung, emotionale Vernachlässigung und Demütigungen im Pflegeelternhaus als auch durch harte körperliche Strafen und seelische Misshandlung einschließlich homoerotischer Übergriffe von Seiten des Lehrkörpers im Internat erweckte er schon als 11-jähriger den Eindruck „ er könnte den anderen Kindern aus lauter Rachsucht etwas antun. Von Jürgen ging etwas Furchterregendes aus. Er hatte bereits als 11-jähriger eine tiefe Wut in sich, die man nicht ganz erklären konnte.“ 3 Das Gutachten der Jugendgerichtshilfe ließ erkennen, dass Jürgen Bartsch bei seinen Taten die Wärme und Nähe seiner Opfer gesucht hat. „Dieser Schluss liegt nahe, denn es sind Dinge, die ihm in seinem bisherigen Leben gefehlt haben.“ führte Bartschs Verteidiger Möller an.4 Das Fazit des Jugendgerichtshelfers Wilke, dass Bartsch „vom ersten Tage seines Lebens an und in jeder weiteren Entwicklungsphase von seiner sozialen Umwelt zu dem gemacht wurde, was er später war“ ist unbefriedigend, vor allem weil undeutlich bleibt, in welcher Weise es zu einer „gestörten frühkindlichen Entwicklung“ kam.

Nicolette Bohn referiert zu den Hintergründen von Jürgen Bartschs Biographie: Die Mutter litt während der Schwangerschaft im Jahr 1946 an Lungentuberkulose. Jürgens Vater versuchte aus Mangel an Medikamenten, die Schwindsucht seiner Freundin mit Hundefett als Heilungsmittel zu heilen. Er fing Hunde, tötete und schlachtete sie vor ihren Augen und hängte die geschlachteten Tiere am Bett auf. Die Nachbarin Frau P.: „Wir sagten ihr immer, der grausige Anblick der geschlachteten Hunde schade ihrem Baby. Aber sie hörte nicht darauf.'“ 5 Die Mutter wurde von ihrem Freund sitzen gelassen, verschwand einige Tage nach Jürgens Geburt, ein Jahr später starb sie. Jürgen war elf Monate in der Kinderklinik, wuchs in dieser entscheidenden Lebensphase ohne feste Bezugsperson auf, ein klassischer Fall von Hospitalismusstörung. Die Pflegemutter war emotional „unterkühlt“ , sachlich orientiert auf Reinlichkeit und Ordnung, deren Einhaltung mit aller Strenge und körperlichen Züchtigungen eingefordert wurde. Jürgen bekam zwar viele Spielsachen, aber seine Eltern haben mit ihm nicht gespielt, er hatte auch keine Spielkameraden. Auf Wunsch seiner Pflegeeltern machte er eine Ausbildung zum Metzger, obwohl er viel lieber ein Zauberkünstler geworden wäre.

Das, was wir mittlerweile wissen über die Prägung, die ein Embryo im Mutterleib erfährt und die frühkindlichen Erfahrungen bis zum vierten Lebensjahr, ist Hinweis dafür, dass Jürgen Bartsch fast darauf hin programmiert worden ist, sich dafür zu rächen, wozu er den Umständen zufolge geworden ist.

Dominierend in der Psychoanalyse war die Todestriebhypothese Freuds, derzufolge die menschliche Destruktivität einer angeborene Neigung des Menschen entstamme. Wenn auch z. B. Jonathan Lear, André Glucksmann, oder Hans M. Enzensberger jeweils unterschiedliche Facetten von Freuds Hypothese in den Vordergrund stellen: Befriedigende Erklärungen gibt es noch nicht genug, und mehr als Fatalismus hat die Psychoanalyse nicht zu bieten.

Erich Fromms Auffassung mutet mir konstruktiver an:

Das Ausmaß der Destruktivität weist in unserer Kultur nicht nur bei einzelnen, sondern auch in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen erhebliche Unterschiede auf. (...) Mir scheint, dass der Grad der Destruktivität beim einzelnen Menschen in einem direkten Verhältnis dazu steht, wie sehr ihm die Entfaltungsmöglichkeiten in seinem Leben beschnitten wurden. Ich meine damit (...) die Vereitelung des gesamten Lebens, die Blockierung der Spontaneität, des Wachstums und des Ausdrucks der sinnlichen, emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten. Das Leben hat seine eigenen Dynamik, es hat die Tendenz zu wachsen, sich Ausdruck zu verschaffen, sich zu leben. Wird diese Tendenz vereitelt, dann scheint die auf das Leben gerichtete Energie einen Zerfallsprozeß durchzumachen und sich in Energie zu verwandeln, die auf Zerstörung ausgerichtet ist. (... ) Destruktivität ist das Ergebnis ungelebten Lebens.“6

Was wir wissen über die Kindheit Jürgen Bartschs, die Kindheit Adolf Hitlers und andererer Diktatoren (www.freitag.de/community/blogs/sven/francisco-franco-geliebte-kinder-werden-zu-diktatoren-; www.freitag.de/community/blogs/sven/gewalt-gegen-kinder-hat-keine-folgen; www.kriegsursachen.blogspot.com/) deutet darauf hin, dass Erich Fromms Auffassung Relevanz hat. In besonderem Maße ist Fromm aktuell, weil er den Begriff der Energie in einer frappierenden Art und Weise ins Spiel bringt, die sich mit alten naturheilkund­lichen als auch neuen energiemedizinischen Theorien ergänzt.

Nach den Erfahrungen von psychologischen bzw. medizinischen Fachleuten wie Gerda Boyesen, John Pierrakos, Jordan Weiss oder Reimar Banis lässt sich feststellen, „dass emotionale Konflikte in der Aura abgelagert werden und dort als Energieblockaden wirken. Weil solche Energiestörungen die Versorgung der Gewebe und Organe beeinträchtigen, kann es im Lauf der Zeit zu ernsthaften Krankheiten kommen“.7

Dies ist eine Sichtweise, die den Fatalismus konterkariert, der davon spricht, dass alle Religion und Wissenschaft die Frage nach dem Grund des Bösen in der Welt nicht beantworten können, sondern als Geheimnis unangetastet lassen müsse. Denn die Diagnose „Energiestörung“ bedeutet, dass eine spezifische Therapie möglich ist. Es mag als Simplifizierung erscheinen, wenn blockierte Energie am Bösen in der Welt schuld sein soll. Pragmatisch gesehen führen jedoch Hunger und Sauerstoffunterversorgung ebenso wie emotionale Misshandlungen zu blockiertem Leben wie vieles Andere. Warum nicht nach Details suchen, die zu diesem kleinsten gemeinsamen Nenner passen?

„Lebt euer Leben aus, ringt Furcht und Elend nieder, schießt nicht auf eure Brüder in diesem Erdenhaus.“ (Boris Vian)

1 Fromm, Erich (2006): Furcht vor der Freiheit, dtv , München , 13. Auflage, S. 115f.

2 ebd. S. 136.

3 Bohn, Nicolette (2004): Anwalt des Teufels, Militzke Verlag, Leipzig, S. 60.

4 Ebd., S. 120.

5 Ebd., S. 29.

6 Fromm, Erich (2006) , S. 136 .

7 Banis R. (2004) Durch Energieheilung zu neuem Leben, Via Nova, Petersberg, S. 142.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

bertamberg

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