Gesellschaftstheoretische Wurzeln einer emanzipativen Pädagogik (1)

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Vorbemerkung
Die jüngste FREITAG-Debatte zur deutschen Bildungspolitik und notwendigen Unterrichtsreform, ausgelöst durch den Beitrag von Christian Füller „Lasst die Schulen los“, erzeugte weitere Artikel und Blogbeiträge und hunderte, meist sehr engagierte Kommentare. Der gute Lehrer - ein Phantom, Selbstreflexionen eines Lehrers, Auslese mal anders, Ein kleines Reformkonzept für die Schule stehen stellvertretend dafür.
Die Debatte drohte mehrfach zu scheitern, weil wechselseitig, meist unausgesprochen, von sehr unterschiedlichen empirischen Annahmen und gesellschaftstheoretischen Hintergründen ausgegangen wurde. Ein gemeinsames pädagogisches Selbstverständnis existiert weder im FREITAG geschweige denn in der Gesellschaft insgesamt.
Aus meiner Sicht erscheint es deshalb sinnvoll, dass sich ein Projekt kritisch-emanzipativer Pädagogik seiner gesellschaftstheoretischen Wurzeln besinnt und diese mit den beiden anderen Hauptströmungen - geisteswissenschaftliche Pädagogik und empirisch-analytische Erziehungswissenschaft in Beziehung setzt. Der Versuch, die Vielfalt pädagogischer Strömungen, ihre Überlappungen, Geltungsansprüche, Selbst- und Fremdverständnisse auf nur drei zu fokussieren, ist zweifellos ein fragwürdiges Unterfangen, dennoch scheint mir dadurch die notwendige Konturierung und Orientierung realisierbar.

Was jemand unter einer bestimmten Pädagogik versteht, ist jeweils nur unter den ausgewiesenen Gebrauchsweisen und historisch-situativen Kontexten nachzuvollziehen. Als Faustregel kann gelten: Sag mir, welcher philosophisch-wissenschaftlichen Schule du angehörst und ich kann (mit hoher Wahrscheinlichkeit) verstehen, was du mit den verwendeten Begriffen, Satzkonstruktionen und Argumentationsfiguren meinst. Umgekehrt funktioniert die Faustregel aber auch: Ich betrachte mir den Begriffsapparat und die dadurch konturierte und interpretierte „Wirklichkeit“ und schließe auf den philosophischen Implikationszusammenhang.

Ein Projekt kritisch-emanzipativer Pädagogik, das an die ‚Kritische Theorie‘
(Frankfurter Schule) notwendigerweise anknüpft, steht mindestens vor einer doppelten Schwierigkeit:
Erstens gibt es keine einheitliche „Kritische Theorie“ – die Differenzen zwischen
Horkheimer, Adorno, Marcuse, Habermas, Pollock, Löwenthal, Fromm etc.
sind beträchtlich trotz ausgewiesener gemeinsamer kategorialer Fundamente – und
zweitens sind die Transferleistungen für eine pädagogische Theorie und Praxis, die auf Konkretionen und Spezifizierungen angewiesen sind, zum Teil unbefriedigend gelöst – trotz vieler erhellender Beiträge von Heydorn, Koneffke, Mollenhauer, Lempert, Hoffmann etc.
Das Erzeugen einer ‚kritischen pädagogischen Supertheorie‘ scheint wie eine einheitliche „Kritische Theorie“ eine Chimäre zu sein.
Trotzdem bleiben einige kategoriale Bezugspunkte für kritische Bildungstheorien und Bildungspraxen unverzichtbar. Kategorien als grundlegende allgemeinste Begriffe in diesem Sinne sind:

  • Dialektik und Aufklärung
  • Kritik der Ideologien und Rituale
  • Gesellschaftstheorie und Erkenntniskritik
  • Selbstreflexion und Emanzipation
  • Interaktion und kommunikatives Handeln
  • Entfremdung und Ich-Identität

Kritische Bildungstheorie will über einen naiven Aufklärungsbegriff hinaus, die Entzauberung der Welt vom Mythos genügt nicht; vielmehr ist die Aufklärung selbst als Mythos, als Selbstzerstörung zu begreifen. Die Destruktionspotenziale der Aufklärung (formalisierte technologische Rationalität und blinde Herrschaft, Naturbeherrschung schlägt um in Naturzerstörung) erfordert eine „Kritik der instrumentellen Vernunft“( Horkheimer) als Korrektiv. Aufklärung bedarf der Unterscheidung in subjektive und objektive Vernunft, in instrumentelle und kommunikative Vernunft. Kritik einer subjektiven/instrumentellen Vernunft ist nur dialektisch möglich in der Aufklärung der Widersprüche ihres eigenen Entwicklungsgangs. Als Pointe heißt dies: Die Aufklärung muss über sich selbst aufgeklärt werden (selbstreflexiv) oder anders formuliert:
Bisherige Aufklärung war noch keine wirkliche Aufklärung. Bildung wäre Wiederherstellung umfassender humaner Handlungsfähigkeit, Kritik der herrschenden Ideologien und Verblendungszusammenhänge; sozialisierte Halbbildung dagegen die „Allgegenwart des entfremdeten Geistes, Geist der Kulturindustrie“ (Adorno). Bildung steht immer in der Gefahr funktionalistisch verkürzt zu werden, zum „Geschwätz des Verkäufers“, zur „Halbbildung“ zu verkommen. Halbbildung ist der „Todfeind der Bildung“. Bildung ist im Kern widerständiger selbstreflexiver Aneignungsakt der Welt, „Eingedenken der Natur im Subjekt“ (Adorno), im Glücksfall aufscheinende Ich-Identität. „In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts. Wenn die Verschränkung unterbrochen wird, erstarrt das Ich. Geht es positivistisch, im Registrieren von Gegebenem auf, ohne selbst zu geben, so schrumpft es zum Punkt, und wenn es, idealistisch, die Welt aus dem grundlosen Ursprung seiner selbst entwirft, erschöpft es sich in sturer Wiederholung. Beide Male gibt es den Geist auf. Nur in der Vermittlung (...) wird die kranke Einsamkeit überwunden, in der die ganze Natur befangen ist. Nicht in der vom Gedanken unangekränkelten Gewissheit, nicht in der vorbegrifflichen Einheit vonWahrnehmung und Gegenstand, sondern in ihrem reflektierten Gegensatz zeigt dieMöglichkeit von Versöhnung sich an. Die Unterscheidung geschieht im Subjekt, das die Außenwelt im eigenen Bewusstsein hat und doch als anderes erkennt. Daher
vollzieht sich jenes Reflektieren, das Leben der Vernunft, als bewusste Projektion."(Horkheimer/Adorno)

Letztlich fußt ‚Kritische Theorie‘ meines Erachtens auf zwei Grundannahmen:
a) der natürlichen Mitleidfähigkeit und natürlichen Solidarität von Menschen, ihrem Glücksverlangen (abgeschwächt: Vermeidung von Unglück), sobald sie vom
nackten Überlebenskampf entbunden sind (anthropologische Komponente) und
b) dass Vernunft und Wahrheit in der Sprache eingelassen sind. In der kommunikativen Vernunft, im tatsächlichen kommunikativen diskursiven Handeln (Habermas), konvergieren die drei unterschiedlichen Geltungsansprüche – Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit in einem einzigen: Vernünftigkeit.
Der Erkenntnis- und Ideenreichtum der ‚Kritischen Theorie‘ ist für kritische Bildungstheorien, die sich dem Projekt der „Aufklärung und Emanzipation“ verpflichtet wissen, noch lange nicht ausgeschöpft.

Teile einer sich selbst definierenden kritischen Pädagogik, insbesondere
in ihrer vulgarmarxistischen Variante der 70er und 80er Jahre, waren sicher ‘Säbelzahntiger’, aufgrund unvorteilhafter Mutation (Erstarrung in eigener Ideologieproduktion) zum ‚Aussterben‘ verdammt. Doch wer sagt, dass nicht neue ‘intelligente Tiger’ nachkommen können, berechtigte alte Fragestellungen aufgreifend und nach neuen gesellschaftspolitischen und pädagogischen Lösungen suchend? Normativ positionierte Kämpfe, in denen entschieden wird, welche Interessen und Bedürfnisse in einer Gesellschaft tatsächlich artikuliert und realisiert werden , beziehen das gesellschaftliche Feld der Pädagogik immer mit ein. Pädagogik ist keine ‘Insel der Glückseligen’ in einer krisengeschüttelten Moderne.

In Teil 2 will ich Karl Marx in einer von mir verdichteten ‘Textmontage’ ausführlich zu Wort kommen lassen. Textuell beziehen sich alle kritischen ErziehungswissenschaftlerInnen auf Marx und/oder die Kritische Theorie, insbesondere Jürgen Habermas. Beide gehörten in den 60er und 70er Jahren zu den meist zitiertesten Autoren in der Pädagogik.

www.freitag.de/community/blogs/bildungswirt/gesellschaftstheoretische-wurzeln-einer-emanzipativen-paedagogik-2

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Geschrieben von

Bildungswirt

Bildungsexperte, Wissenschaftscoach, Publizist, Müßiggänger, Musiker

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