Die Wende im Leben junger Männer

Deutsche Literatur Die beiden Romane "Stern 111" von Lutz Seiler und "Die Wende im Leben des jungen W." von Frederic Wianka im Vergleich.

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„Ein blendendes Weiß darunter, ein unendlicher Raum für frisch Gelerntes, für ständig Gehörtes, für die historischen Gesetzmäßigkeiten, für korrekt Phantasiertes, Platz für den zur Wissenschaft erklärten Mummenschanz – die Spekulation mit der Welt. Ich war gefangen an diesem Tisch, in diesem Raum, in dieser Welt, der einzigen, die denkbar war in diesem Moment, in dieser Zeit, in diesem Land.“

Frederic Wianka, „Die Wende im Leben des jungen W.“

„Die kleinen Unglücke summierten sich, eine feindliche Stimmung baute sich auf. Ein Glas ging zu Bruch, und sofort trat Carl mit bloßem Fuß in einen der Splitter. Ihn packte die Wut. Draußen fielen die Grenzen, und er saß in Gera-Langenberg fest. Verlassen von Gott und der Welt.“

Lutz Seiler, „Stern 111“

Vom Volkseigenen Betrieb Plastmaschinenwerk in Schwerin, materiell gesichert, im Jugendkollektiv geborgen, doch die Gedanken unfrei, zur prekären freien Künstlerexistenz in Berlin, malend wie ein Besessener, doch immer am Abgrund balancierend, außerhalb stehend, gescheiterte Beziehungen, zu viel Alkohol und zu wenig Begabung zur Freundschaft: DIE Wende, der Zusammenbruch des politischen Systems, sie markiert auch eine wesentliche Wende im Leben des Ich-Erzählers aus dem Debütroman von Frederic Wianka.

Der Zufall wollte es, dass ich kurz nach der Lektüre von „Stern 111“ von Lutz Seiler, der damit den Preis der Leipziger Buchmesse errang, zu diesem Roman griff. Beide Bücher sind eng verwandt und doch so unterschiedlich: Wenderomane, Berlinromane, Künstlerromane, Liebesromane. Beide Protagonisten lernen einen Handwerksberuf in der DDR, beide zieht es nach Berlin, beide leiden am Werther-Syndrom der einseitigen Liebe, beide wollen sich als Künstler ausdrücken, der eine als Poet, der andere als Maler.

Würde man einfache Vergleiche ziehen und zur Küchenpsychologie neigen, könnte man einen ebenso einfachen Schluss ziehen: Der eine meistert schließlich sein Leben und ringt sich, trotz aller Selbstzweifel, hervorragende Gedichte ab, weil die erste prägende Ebene in einem Menschenleben, die Beziehung zu den Eltern stimmig ist. Der andere jedoch, der kurz als Maler reüssiert, sich dann allerdings in einer Gedankenspirale über das eigene Ungenügen verfängt, der an seinen eigenen Ansprüchen scheitert, kommt aus unglücklichen Verhältnissen, unehelich geboren, einem emotional kalten Stiefvater ausgeliefert. Der junge W. wählt den Freitod.

„Ich habe Einzelheiten verdrängt und in einer selektiven Erinnerung gelebt, weil das komplettierte Bild mein Leben zeigt, als das, was es ist: von Beginn an eine Lüge. Und ein Selbstbetrug in vielem, was ich tat.“

Dennoch wäre dieser Rückschluss auf die Auswirkungen familiärer Geborgenheit beziehungsweise dysfuntkionaler Familien auf die Entwicklung eines Menschenlebens zu eindimensional. In beiden Romanen ist ein entscheidendes Moment tatsächlich die Wende, die die beiden jungen Männer in eine ganz neue Lebenssituation hineinwirft: Plötzlich frei. Und plötzlich von allen guten Geistern verlassen – der junge W. ohne Freunde, Familie, Bezugspunkte, der junge Carl plötzlich aus dem Nest geworfen, damit konfrontiert, dass seine scheinbar so angepassten Eltern unter den ersten Republikflüchtlingen sind mit Fernziel USA.

Wie umgehen mit dieser scheinbar grenzenlosen Freiheit, mit einem anderen Wertesystem, mit völlig anderen Koordinaten? Nach mehr als 30 Jahren deutscher Einheit machen die jüngsten politischen Entwicklungen deutlich, wie viele Illusionen geplatzt sind, wie viel Arbeit noch notwendig ist, um wirklich „zusammenzufügen, was zusammengehört“. In beiden Büchern, sowohl in „Stern 111“ und in „Die Wende im Leben des jungen W.“, geht es auch um das Scheitern von Utopien und Träumen. Die Wende, sie hätte ein Neuanfang für beide Teile des Landes sein können, doch siegt die Macht der Märkte, was Seiler am Beispiel der sofort einsetzenden Gentrifizierung in Berlin durchspielt, Wianka am Kunstmarkt.

Beide Romane haben deutlichen autobiografischen Hintergrund, beide Autoren sind in der ehemaligen DDR geboren und aufgewachsen: So sind diese Bücher auch Dokumente einer deutschen Geschichte, die im „Westen“ nicht wirklich so wahrgenommen wird. Und sie stehen trotz der Fiktionalisierung für Authenzität.

Zum Stilistischen:

Schon mit „Kruso“ tat ich mir streckenweise schwer. Seiler schreibt schön. Das ist nicht spöttisch gemeint: Er bietet Absätze, die funkeln, die von einer makellosen Sprache sind. Aber dann wiederum erscheint mir der Stil manches Mal auch etwas behäbig, zu verklausuliert-rätselhaft zudem – die surrealen Anklänge samt schwebender Ziege in „Stern 111“ nahmen mich nicht mit.

Der junge W. entwickelt einen eigenartigen Sog, Wianka schreibt eigenwillig und poetisch- bildhaft, auch wenn er sich manchmal in seinem Stil etwas vergaloppiert. Solche Satzkonstruktionen wirken zu gewollt, zu getragen: „Glaubenfrei und wissend sah ich Dich, als ich um die Abtei bog, gefestigt wir mir schien.“
Darüber kommt man jedoch, hat man sich in den Stil eingelesen, schnell hinweg, lässt sich hineinziehen in diese Lebensgeschichte.

Der Titel von Wiankas Roman drängt diesen Hinweis nun noch förmlich auf: Wer diese beiden Romane liest, der sollte, könnte auch wieder zu „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Penzdorf greifen. Der zeigt: Man scheitert nicht nur an der Liebe, sondern auch und vor allem an den Verhältnissen.

Informationen zu den Büchern:

Frederic Wianka
„Die Wende im Leben des jungen W.“
PalmArtPress 2020
Hardcover, 350 Seiten, 25,00 €
ISBN: 978-3-96258-050-6

Lutz Seiler
„Stern 111“
Suhrkamp Verlag 2020
Hardcover, 528 Seiten, 24,00 €
ISBN: 978-3-518-42925-9

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Birgit Böllinger

Journalistin + PR für unabhängige Verlage, Literaturjunkie mit eigenem Blog (birgit-boellinger.com/blog).

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