„Enorm“ klingt natürlich sehr viel freundlicher als „fett“. Also dürfte sich der voluminös gebaute Junge Augustus Glupsch aus dem grotesk-schauerlichen Klassiker Charlie und die Schokoladenfabrik mit dieser Umschreibung bestimmt besser fühlen. Gleiches gilt für die zwergenhaften Arbeiter in den Produktionshallen. Sie, die „Umpa-Lumpas“, müssen nun nicht mehr auf „kleine Männer“, sondern lediglich auf „kleine Menschen“ hören. Und da man in Die Zwicks stehen Kopf (1980) zudem nicht mehr als „hässlich“ bezeichnet werden darf, während „bestialisch“ schon noch so geht, sind wir nun endlich gerettet und glücklich. Sind wir das? Denn warum „bestialisch
„bestialisch“ geht, das würde man zu gern aus tierethischer Sicht diskutieren. Wenn schon, denn schon.Wären diese und dem britischen Telegraph zufolge hunderte weitere Änderungen in den Neuüberarbeitungen von Roald Dahls Werken im Verlag Puffin Books, eine Abteilung von Penguin Random House, nicht schon selbst zum Lachen, müsste man eigentlich heulen oder sich Sorgen machen. Gemeinsam mit den nicht gerade lieblichen Märchen der Brüder Grimm und dem biedermeierlichen, für seine drakonischen Erziehungsszenen prominenten Struwwelpeter stehen viele Texte des 1990 verstorbenen britischen Erfolgsautors letztlich in einer Traditionslinie, insofern sie weder an inhaltlicher noch stilistischer Drastik sparen. Sie übertreiben und überzeichnen. Und Kinder mögen das.Aber was bleibt noch übrig nach diesen Eingriffen? Moralisches Versagen soll doch dadurch offensichtlich werden, um sodann das Gegenteil, das Richtige und Wahre, umso mehr aufschimmern zu lassen. So auch in Charlie und die Schokoladenfabrik (1964), das spätestens durch Tim Burtons Film eine ungemeine Popularisierung erfuhr. Hierin steht das „Dicksein“ für eine Wohlstandsdekadenz und Maßlosigkeit. Nur das aus ärmlichen Verhältnissen stammende, titelgebende Kind wird schließlich für seine Zurückhaltung mit dem Erbe der Fabrik belohnt, während die anderen im Laufe von deren Besichtigung auf grauenvolle Art sterben. Sicher beruhen alle Figuren dieser Parabel auf krassesten Stereotypen. Aber die braucht es eben in komischen Texten. Frei nach dem Motto: Das Ernste gibt es eben nur des Unernstes wegen.Sieht man allerdings von diesen genrephilosophischen Fragen ab, so erweisen sich die von sogenannten „sensitivity readers“ vorgeschlagenen Eingriffe auch aus pädagogischer Sicht nicht gerade als der goldene Weg. Sie sollen Schriften gezielt auf abwertende oder entwürdigende Stellen hin lesen und alternative Varianten dazu ins Spiel bringen. Richtig ist in der Causa Dahl: Dort, wo aus heutiger Sicht sprachliche Abwertungen und überkommender Diskursschrott deutlich wird, sollte man zurecht junge LeserInnen aufklären. Richtig ist aber ebenso, dass Streichung und Abmilderung dafür kein Sensorium schaffen.Bewusstsein für Klischees und VorurteileWer beispielsweise nie über Begriffe wie „fett“ stolpert, dem dürfte nie klar sein, warum sie überhaupt problematisch anmuten. Die literarische Erlösung, wie sie der Puffin-Verlag von unserer verkommenen patriarchalen, kolonialen, sexistischen Kultur anstrebt, muss scheitern, weil sie das wohl wichtigste Moment kindlicher und jugendlicher Lesesozialisation verhindert: den Dialog. Statt verletzende Stellen zu glätten, sollte man nämlich eher über sie ins Gespräch kommen. Nur so wächst auch ein historisches Bewusstsein für die Entwicklung von Vorurteilen und Klischees.Gegen „Bodyshaming“ protestieren? Geht doch besser, wenn man das Bewusstsein dafür hat. Umso mehr bei einem Autor wie Roald Dahl. Dass er rassistische und antisemitische Meinungen vertrat, ist kein Geheimnis und muss Bestandteil einer „aufgeklärten“ Lektüre sein. Manche mögen nun dafür plädieren, auch dessen Texte nicht mehr zu rezipieren. Doch VielleserInnen wissen: So manches Buch ist klüger als sein Autor und verändert auf verblüffende Weise seinen Gehalt im Lauf der Zeit. Diese Einsicht dürfte auch ökonomische Strategen der Filmindustrie geleitet haben. Pikant ist nämlich, dass die sprachliche Entkalkung seiner Werke nicht allein auf ein bloßes Interesse an seinem literarischen Schaffen zurückzuführen sein dürfte. Inzwischen besitzt nämlich Netflix Rechte an dessen Werk, das man ja nun auch profitabel vermarkten möchte. Ob man für dieses Ansinnen Dahl letztlich zu Everybody’s Darling machen muss, sei dahingestellt. Man sollte übrigens nicht jede Zuspitzung zugleich als generalisierten und entwürdigenden Angriff werten. Auch das ist eine Lehre dieses erneuten Auswuchses der „Cancel Culture“. Je hypersensibler wir werden, desto mehr nähern wir uns der Vorstellung einer unterschiedslosen Gesellschaft an. In ihr sind alle weder dünn noch dick, weder dumm noch schlau. Alterität schwindet dann zugunsten einer alles aufsaugenden Identität. Es herrscht die langweilige, profillose Mittigkeit. Nur wovon sollen wir uns dann noch erzählen und wollen wir wirklich ein Dasein anstreben, das nichts anderes als „gut“ ist? Bitte nicht, wahrscheinlich wäre dies die schrecklichste aller Welten.