Die Union hat ihren Markenkern verloren

Corona-Pandemie Früher standen CDU und CSU für Krisenfestigkeit, heute sorgen vor allem die Verantwortlichen der Union für die größten Probleme in der Pandemiebekämpfung.

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Ich glaube, in einer Pandemie muss man versuchen, das Positive zu sehen: Nach dem gestrigen Stopp der Impfungen mit Astra Zeneca kann sich nun zumindest jede*r sicher sein, dass die Kontrolle der Impfstoffe und ihrer möglichen Nebenwirkungen in Deutschland wie in Europa super engmaschig und extrem vorsichtig verläuft. Spätestens jetzt sollte uns allen damit klar sein: Man kann sich mit einem guten Gefühl impfen lassen, nicht nur, dass alle Impfungen sicher sind, nein, sie schützen uns auch verlässlich vor den Gefahren des Coronavirus‘.

Aber – und so ehrlich sollten wir auch sein – den Impfstopp hätte es dennoch ziemlich sicher nicht gebraucht. Bei sieben Patient*innen ist in Deutschland eine Thrombose nach der Astra Zeneca-Impfung aufgetragen, bei 1,6 Millionen bereits erfolgter Impfungen mit dem Präparat. Ein Vergleich zeigt eindrucksvoll, dass dieses Risiko in der gegenwärtigen Situation vertretbar ist: Denn bei der Pille tritt eine vergleichbare Nebenwirkung bei 10 von 10.000 Nutzer*innen auf. Und trotzdem wird sie allein in Deutschland millionenfach bedenkenlos verschrieben.

Die Entscheidung steht symbolisch für die fehlende Entschlossenheit und Standhaftigkeit Jens Spahns im Kampf gegen die Pandemie, für die fehlende Stabilität und Sicherheit, die er ausstrahlt, obwohl das Gegenteil gerade so wichtig wäre. Seine Krisenkommunikation, gipfelnd in seinem aktuellen Abtauchen, ist seit Tag eins katastrophal und mit für die aktuelle Verunsicherung der Bevölkerung verantwortlich. Dennoch ist der Impfstopp für mich der kleinste politische Fehler in der gegenwärtigen Krise, viel schwerer wirkt für mich:

  • Dass es die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen (CDU) nicht geschafft hat, Impfstoff für ganz Europa in ausreichender Menge zu bestellen,
  • Dass es Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bis heute nicht geschafft hat, Schnelltests (für den Hausgebrauch) kostenlos und in ausreichender Menge zur Verfügung zu stellen und eine #NotSchnelltestWirtschaft wie eine #NotImpfstoffWirtschaft stattdessen stur blockiert,
  • Dass Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) die Probleme der Studierenden seit Monaten ignoriert und weder das Bafög für alle öffnet noch echte Soforthilfen bereitstellt,
  • Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) mehrfach (!) viel zu lange gebraucht hat, bis die von Olaf Scholz (SPD) organisierten Wirtschaftshilfen für Kleinunternehmer*innen und Künstler*innen dann auch ausgezahlt werden konnten und
  • Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) seit gestern und damit auch zu der nun wirklich nicht mehr nachvollziehbaren Verschiebung des Impfgipfels schweigt.

Die Pandemie zeigt – und das nicht erst durch die unentschuldbare Korruptionsaffäre der Union – dass CDU und CSU etwas verloren gegangen ist, von dem viele lange glaubten, dass es diese Parteien auszeichnen würde: Ihre Krisenfestigkeit. Während Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) das Kurzarbeitergeld gestärkt und Werkverträge in der Fleischindustrie gestoppt hat, Außenminister Heiko Maas (SPD) im letzten Jahr die große Rückkehraktion für Deutsche im Ausland gestaltete und die SPD-Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans mit ihrem Kanzlerkandidaten und Finanzminister Olaf Scholz gleich zweimal einen Kinderbonus für alle Familien durchsetzen, entstehen immense Probleme überall da, wo CDU und CSU Verantwortung tragen. Übrigens gilt das nicht nur für die Europa- und Bundespolitik: Denn das größte Impfzentrum steht im rot-rot-grün regierten Bremen und die höchste Quote an bereits durchgeführten Zweitimpfungen weist das ebenfalls rot-rot-grün regierte Thüringen auf, während die höchsten Fallzahlen wechselnd entweder in NRW (CDU und FDP) oder in Bayern (CSU und Freie Wähler) ermittelt werden, in NRW läuft derweil übrigens auch die Terminvergabe am schleppendsten.

Was aber machen mit dieser Analyse? Ganz konkret muss Astra Zeneca wieder freigegeben werden, und zwar für alle Impfwilligen, gereiht nach ihrer jeweiligen Impfpriorisierung. Und dann sollten wir akut zumindest auf Bundesebene darüber sprechen, ob Jens Spahn seiner aktuellen Aufgabe, immerhin der schwersten, der sich ein Gesundheitsminister in der Bundesrepublik bislang stellen musste, noch gewachsen ist.

Zugegeben: Einen Kreativpreis werde ich für den folgenden Vorschlag nicht gewinnen, aber er ist ja nun einmal auch deswegen so naheliegend, weil er einfach richtig ist. Karl Lauterbach hat nachweislich schon im Mai 2020 darauf hingewiesen, dass der Staat sich um die Impfstoffproduktion kümmern muss, er hat gefordert, die Versorgung der Bevölkerung mit Selbststest sicherzustellen und darauf gedrängt, in allen Klassenzimmern Lüftungsgeräte zu installieren, die 90% der Viren aus der Luft filtern können. Eine Investition, die der Bund übrigens aufgrund einer Grundgesetzänderung, welche die SPD durchgesetzt hat, tätigen könnte. Und er hat sich auch gestern wieder sehr klar und differenziert zu Astra Zeneca geäußert. Er sollte jetzt für die Pandemiebekämpfung in die Bundesregierung eintreten dürfen.

Und im Herbst liegt es dann an uns allen, dass Krisenmanagement der Bundesregierung differenziert auszuwerten und auf Basis dieser Analyse bei der Bundestagswahl für eine Bundesregierung zu sorgen, die zumindest mit den Spätfolgen der Corona-Krise besser klarkäme, als eine Union, die jetzt, wo wir in den sozialen Zusammenhalt investieren müssten, an Hartz IV festhalten möchte und die Notwirtschaften verhinderte während die Koalitionspartnerin für Rekordinvestitionen ins Gesundheitssystem plädiert.

Ich freue mich darauf – Genauso wie auf meine Impfung, wenn ich denn irgendwann einmal an der Reihe bin, gerne dann übrigens auch mit Astra Zeneca.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jan Bühlbecker

Jan Bühlbecker. Slam Poet, Jungsozialist & Sozialdemokrat. Liebt Queer-Feminismus, Fußball, das Existenzrecht Israels & Hashtags.

Jan Bühlbecker

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