Ich bin links und von der Notwendigkeit der NATO überzeugt. Lassen Sie mich das erklären.

NATO, Ukrainekrise In der Ukrainekrise ist die Diskussion über die Rolle der NATO neu entfacht. Doch kann sie im 21. Jahrhundert überhaupt eine Berechtigung haben? Der Versuch einer Neu-Definition.

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Für viele ist das „westliche“ Verteidigungsbündnis NATO ein Reizthema, mir widerstrebt hingegen vor allem die Definition „westlich“. Denn sie reproduziert eine verzerrte, eurozentristische Sicht auf die Welt, welche weder die Welt noch die auf ihr bestehenden Verhältnisse korrekt wiederspiegelt und sie stammt – wie die NATO – aus einer vergangenen Zeit. Und aus Letzterem rührt auch vielerlei Ablehnung der NATO, wurde sie doch als US-geführtes, oft imperialistisches Verteidigungsbündnis gegründet, als Gegenspielerin zum Warschauer Pakt der Russland-dominierten Sowjetunion. Klar, dass viele die NATO darum bis heute mit dem Kalten Krieg verbinden. Einer Epoche, deren Überwindung ein historischer Gewinn ist, für den nicht zuletzt Linke und insbesondere Sozialdemokrat*innen mit einem Gegenentwurf gekämpft haben: Der Entspannungspolitik. Ein Militärbündnis ist kein diplomatischer Dienst, Bilder von Panzern und Einsatzstäben, die den Einsatz von – mitunter bewaffneten – Drohnen koordinieren sind unbequem. Und überhaupt: Wenn der Kalte Krieg vorbei ist, hat es sich dann nicht auch mit der Legitimation der NATO beendet?

Nicht „hirntot“, sondern gewollt

Frankreichs Präsident Emanuel Macron nannte die NATO im November 2019 unmittelbar vor ihrem 70. Geburtstag „Hirntot“. Es gebe "keinerlei Koordination bei strategischen Entscheidungen zwischen den USA und ihren NATO-Verbündeten". Gründe für seine Annahme gab es damals einige: Macron selbst nannte den Verfall der amerikanischen Demokratie unter Trump, der von dessen Anhänger*innen immerhin bis heute aggressiv vorangetrieben wird, und das unkoordinierte und illegitime Vorgehen des NATO-Mitglieds Türkei unter Präsident Erdogan in Syrien. Heute mag man unter anderem ergänzen: Den überhasteten und in dieser Form verantwortungslosen Abzug aus Afghanistan, die Tatenlosigkeit gegenüber der russischen Aggression gegen die Ukraine, die Sprachlosigkeit gegenüber chinesischen Aggressionen in Hongkong und gegen Taiwan, die Hilflosigkeit im Jemenkrieg, die Planlosigkeit gegenüber der chinesischen Expansionspolitik in Afrika und Südamerika, dem Ausgeliefertsein gegenüber den russischen Destabilisierungsversuchen und Cyberangriffen sowie die unsolidarischen (Nicht-)Waffendeals zwischen den USA, Frankreich und Australien. Wofür braucht man ein Verteidigungsbündnis aus dem 20. Jahrhundert, wenn es keinen Kompass für das 21. findet? Spricht das nicht auch dafür, dass die NATO wie der Warschauer Pakt mit dem Ende des Kalten Krieges hätte aufgelöst werden müssen?

Macron hat zumindest Gedankenspiele in diese Richtung befeuert als er 2019 andeutete, die Europäische Union müsse ihre geopolitische Verantwortung ausweiten, selbst ein internationaler Player werden: "Wenn Europa sich nicht als Weltmacht sehen kann, wird es verschwinden", warnte er. Dem gegenüber steht die Sehnsucht vieler Staaten selbst NATO-Mitglied zu werden: Nach dem Ende des Warschauer Paktes wurden dessen ehemaligen Mitglieder Polen, Tschechien und Ungarn (1999), Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien (2004), Albanien, Kroatien (2009), Montenegro (2017) und Nordmazedonien (2020) Mitglied des Bündnisses. Aktuell bewerben sich auch der Kosovo, Georgien und die Ukraine um eine Ausnahme. Übrigens – Und das ist wichtig zu erwähnen – aus eigenem Antrieb heraus: Alle Länder baten beziehungsweise bitten selbst um die Aufnahme, stießen dafür notwendige innenpolitische Reformen an und wurden nicht etwa angeworben, auch wenn Russland unter Wladimir Putin immer wieder diesen Narrativ bedient. Im Gegenteil lehnte die NATO manche Beitritte bisweilen aus Rücksicht auf Russland ab. Die NATO ist also bis heute Projektionsfläche für das Streben nach Freiheit und Demokratie und für die Verteidigung dieser Werte gegen äußere Angriffe. Aber es fehlt ihr an einem geostrategischen Leitbild und an Selbstbewusstsein. Warum ist das so und kann man etwas dagegen tun?

Die Probleme der NATO

First things first: Es liegt nicht am 2% der NATO beziehungsweise dessen Nichteinhaltung durch manche Mitgliedsländer – darunter auch Deutschland. Vielmehr liegt es daran, dass sich die gesamte NATO zu lange auf die Vordenkerinnenrolle der USA verlassen hat und wir nunmehr seit über einem Jahrzehnt, beginnend mit der Präsidentschaft Barack Obamas, eine zurückhaltendere US-Außenpolitik erleben. Mit dem Ende der Präsidentschaft Obamas und der Amtsübernahme von Donald Trump hat sich dieser Prozess nicht nur beschleunigt, vielmehr fielen die USA nun auch als Orientierungspunkt für eine freiheits- und demokratieorientierte Politik nach innen und außen vollständig aus und wurden in der Partnerschaft vollkommen unzuverlässig. Doch der Trend eines wiedererstarkenden Nationalismus, eines Nationalismus des 21. Jahrhunderts, beschränkte sich keineswegs auf die USA. Wesentlich für die Probleme der NATO ist – wie wir es auch in der Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union erleben – auch dass die NATO-Staaten untereinander teilweise gegenteilige Auffassungen über ihre nationalstaatlichen Entwicklungen haben. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Es ist nahezu unmöglich, mit der Regierung Victor Orbans für Liberalisierungsprozesse in der Welt einzutreten.

Hinzu kommen unterschiedliche geostrategische Auffassungen der Mitgliedsstaaten. Deutlich wurde dies zum Beispiel im Verlauf des arabischen Frühlings als Frankreich, auch aufgrund seiner Geschichte, deutlich aktiver eingriff und sich darüber hinaus auch intensiver im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus engagierte als dies unter den übrigen NATO-Staaten Konsens war. Aber auch Deutschland kann kaum glaubhaft an einer Politik gegen russische Aggression mitwirken und gleichzeitig die Inbetriebnahme der Pipeline Nordstream II feiern. Es ist also folgendes festzustellen: Alle Mitgliedstaaten haben eher im eigenen Interesse gehandelt statt an einer gemeinsamen Strategie orientiert. Für ein Bündnis auf historischer Sinnsuche ist das fatal.

Doch auch organisatorisch ist die NATO längst nicht mehr zeitgemäß aufgestellt. Ihre Führung gliedert sich in den politischen Generalsekretär und zwei leitende Militärs, einer ehemals zuständig für die militärische Führung in Europa, heute verantwortlich für die Einsatzgestaltung und einer ehemals zuständig für die militärische Führung in Übersee, heute verantwortlich für die Einsatzplanung. Die aktuellen Aufgaben der NATO aber sind auf diese Weise gar nicht mehr zu bewältigen, viele geopolitischen Fragen werden nicht militärisch beantwortet werden können und die, die kriegerischer Natur sind, erfordern eine komplexere Aufteilung der Führung als das enge Korsett, welches die NATO-Staaten ihrer Organisation gegeben haben, bevor der Begriff Cyberterror definiert war.

Unbequemes aushalten

Stellen wir uns aber auch den unbequemen Wahrheiten. Denn die NATO wird uns alle und uns Linke auch ganz grundsätzlich fordern. Nicht nur wenn wir über bewaffnete Drohnen oder Militärmanöver diskutieren. Es gibt seit Jahrzehnten offene Konflikte auch zwischen Demokratien und es wird auch in Zukunft keine vollkommene Einigkeit über ihre Ausgestaltung zwischen allen NATO-Partner*innen geben können. Man konnte schon lange vor Trump viel an der Innenpolitik der USA kritisieren und man muss verdammt viel an den politischen Entwicklungen Ungarns kritisieren. Ich persönlich halte die menschenfeindliche Politik Victor Orbans im Umgang mit Homosexuellen und Transpersonen kaum aus. Dennoch teilen wir mit den USA und Ungarn weit mehr grundlegende Werte als mit autoritären Regimen in aller Welt. Wir dürfen niemals aufhören, Kritik an Partner*innen zu üben, wir müssen dies immer auch in der jeweils gebotenen Deutlichkeit tun und dabei auch weitreichende politische Konsequenzen ziehen, aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass wir diese Partner*innen an anderen Stellen brauchen werden (und Orban dieses Jahr hoffentlich abgewählt werden wird).

Mit anderen Worten: Antiamerikanismus ist der falsche Weg, kritische Solidarität der richtige. Autoritäre Staaten haben es leichter untereinander Allianzen zu bilden oder sich zumindest geostrategisch zu unterstützen, denn sie haben kein Wertekorsett, an dem sie sich orientieren müssen. Wir dürfen unser Wertekorsett zwar keinesfalls lockern müssen aber verstehen, dass auch wir bündnisfähig sein müssen, weil wir den vielbeschworenen Wettstreit der Systeme sonst unwiederbringlich verlieren werden. Übrigens: Ein straffes Wertekorsett ist geopolitisch kein Nachteil, nicht nur, weil alles andere moralisch nicht zu rechtfertigen wäre, sondern weil ein Leben in Demokratie und Freiheit auch das beste Angebot ist, welches wir anderen Zivilgesellschaften in diesem Wettstreit machen können. Wichtige Sidenote: Freiheit muss dabei immer auch materielle Freiheit meinen, denn eine freie Wahl ist nichts wert, wenn man vor dem Wahllokal verhungert.

Wofür es die NATO heute braucht

Die Idee eines demokratie-orientierten Verteidigungsbündnisses ist daher keineswegs aus der Zeit gefallen. Russland beispielsweise stellt für den Balkan nach wie vor eine Bedrohung da, eskaliert gerade neuerlich den Konflikt in der Ost-Ukraine. Hinzu kommen fortlaufend Cyber-Angriffe auf demokratische Institutionen und systematische demokratiegefährdende Desinformationskampagnen. Aber ein modernes Verteidigungsbündnis darf sich im Zuge der fortlaufenden Globalisierung der Welt nicht auf die Bedrohungen durch Russland beschränken. Längst nimmt auch China zunehmend Einfluss auf NATO-Staaten, strebt durch das Seidenstraßen-Projekt nach Bedeutung in Europa und greift auch durch ähnliche Finanzierungsprojekte nach Macht in den USA. Doch ein Verteidigungsbündnis, das sich den Gefahren, die vom autoritären Regime Chinas ausgehen, entgegenstellt, muss dies auch ganzheitlich tun. Eine moderne NATO hat damit beispielsweise auch Verantwortung für Japan und Taiwan und für die überzeugten – und zumeist jungen – Demokrat*innen in afrikanischen Staaten, die nicht hinnehmen wollen, wie ihre Länder von China unterwandert und ihre Chancen auf ein Leben in Freiheit und Demokratie damit zermahlen werden.

Doch das zeigt eben auch, dass sich die NATO als Organisation grundsätzlich wandeln muss. Vom transatlantischen Verteidigungsbündnis hin zur globalen Arbeitsgemeinschaft für Freiheit und Demokratie. Das bedeutet nicht, dass militärische Fragen in den Hintergrund treten dürfen – im Gegenteil: Die NATO-Staaten werden weiter im Rahmen ihrer Möglichkeiten gut ausgestattete Armeen und Bereitschaft zum Einsatz brauchen. Fragen wie die Bewaffnung von Kampfdrohnen müssen von allen Partner*innen gleich beantwortet und gemeinsame Militärstützpunkte, Manöver und Einsätze gewollt und forciert werden. Das sind – gerade für uns Deutsche – unbequeme Punkte, die auch mein Gewissen belasten, aber Pazifismus bedeutet nun einmal auch gesellschaftliche Realitäten anzuerkennen und sich einerseits zeitgemäß oder andererseits so auf sie einzustellen, dass die eigenen Soldat*innen und alle Zivilist*innen bestmöglich geschont und geschützt werden können.

Gleichzeitig muss die NATO wachsen: Um den von China betriebenen Vormarsch des Autokratismus zu brechen, muss die internationale Kulturpolitik gestärkt werden. Die NATO muss Entwicklungspartnerschaften mit afrikanischen und südamerikanischen Staaten mit Initiativen zur Stärkung der Zivilgesellschaften vor Ort verbinden. China bietet Geld und Abhängigkeit, wir können Geld und Selbstbestimmung bieten. Die NATO-Staaten müssen dabei gemeinschaftlich über ihr eigenes individuelles Engagement hinaus in solche Projekte und die Förderung von Infrastruktur investieren. Mit Jens Stoltenberg hat sie aktuellen einen Generalsekretär an ihrer Spitze, der dafür glaubhaft und überzeugend einstehen könnte. Das muss natürlich auf Augenhöhe mit den betreffenden Staaten und Gesellschaften geschehen. Denn nur so macht sie das attraktivere Angebot als China und nur wenn es den NATO-Staaten gelingt, auch Entwicklungs- und Schwellenländer an sich zu binden, haben in Anbetracht der aktuellen Bevölkerungsentwicklung Freiheit und Demokratie Zukunft auf dieser Welt.

Außerdem muss die NATO in ihrer gesamten geostrategischen Arbeit anerkennen, dass digitale Sicherheit ebenso wichtig ist wie die analoge Unverletzlichkeit von Grenzen. Dabei könnte die NATO durch die Zusammenarbeit von parlamentarischer Versammlung und Mitgliedstaaten mit dem politischen Generalsekretär auch neue Standards für Datenschutz entwickeln.

Kurzum: Die NATO braucht neben dem politischen Generalsekretär und der militärischen Leitung in ihrer engsten Führung auch Verantwortliche für digitale Entwicklung und internationale Kulturpolitik. Gleichzeitig muss die parlamentarische Versammlung gestärkt werden, um dafür notwendige Debatten legitim führen zu können.

Nicht nur Osterweiterung

Doch all das kann der NATO nicht als reines transatlantisches Bündnis gelingen. Und das muss keine schlechte Nachricht sein, immerhin konzentriert sich die US-Außenpolitik ohnehin schon jetzt zunehmend und aus nachvollziehbaren Gründen auf den indopazifischen Raum. Vielmehr kann die NATO ein Bündnis, eine Arbeitsgemeinschaft, ein Thinkthank und eine Verteidigungsgemeinschaft aller demokratischer Staaten und freiheitlicher Demokratien werden. Alles andere ist schließlich in Anbetracht der sich veränderten Weltlage weder zeitgemäß noch ist der eurozentristische Blick auf die Welt respektvoll gegenüber vielen aufstrebenden Entwicklungs- und Schwellenländern.

Für die Europäer*innen bedeutet das, dass eine gemeinsame Mitgliedschaft der EU in der NATO angestrebt werden sollte. Denn die Europäische Union muss an Bedeutung gewinnen, um die allgemeinen politischen Fragen, die realpolitische Praxis im 21. Jahrhundert verantwortungsvoll gestalten zu können. Langfristig sollte sie sich hin entwickeln zu den Vereinigten Staaten von Europa oder gar einer europäischen Republik. Die NATO könnte für Europäer*innen und Amerikaner*innen ebenso wie für neue Partner*innen in Asien, Südamerika, Ozeanien und Afrika Instrument zur Förderung von internationalen Partner*innen und Wahrung von geostrategischen Interessen sein. Denn es ist im Interesse aller freiheitlichen Demokratien endlich ebenso koordiniert und engagiert für die eigenen Werte einzutreten wie es Russland und China für den Autokratismus tun.

Nur mit anderen Mitteln – Und das aus Überzeugung: Denn längst sind Russland und allen voran China imperialistisch-agierende Staaten, doch kann das eben nicht der Ansatz einer modernen NATO sein. Sie muss stets auf Augenhöhe und transparent agieren, muss bestehende zivilgesellschaftliche Strukturen aufgreifen und fördern und darf militärisch nur dort eingreifen, wo Demokratien bedroht sind oder diejenigen verfolgt und unterdrückt werden, die für Freiheit und Demokratie einstehen oder wo sie selbst angegriffen wird.

Besser als nichts

Ich weiß, dass das sehr weitgehende Reformforderungen sind. Es ist vielleicht sogar schon der Aufruf zur Neugründung der Organisation. So oder so wäre es ein Prozess der Zeit braucht. Bleibt die Frage, ob die NATO diese Zeit hat – Oder zumindest haben sollte. Emanuel Macron hat davon gesprochen, dass die NATO hirntot sei. Ich widerspreche, denn der Zustand des Hirntods wäre ein endgültiger. Aber die NATO befindet sich im Wachkoma. Doch es spricht aus meiner festen Überzeugung viel dafür, sie nicht aufzugeben. Weil der Patient zur retten ist und weil wir ihn brauchen werden. Denn ohne eine Allianz wie die NATO werden Freiheit und Demokratie in den nächsten Jahrzehnten zunehmend und letztendlich auch bei uns an den Autokratismus verloren gehen. Und das sollten wir um jeden Preis verhindern.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jan Bühlbecker

Jan Bühlbecker. Slam Poet, Jungsozialist & Sozialdemokrat. Liebt Queer-Feminismus, Fußball, das Existenzrecht Israels & Hashtags.

Jan Bühlbecker

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