Zeitenwende interpretiert

Aufrüstung und Moral Wer Panzerfäuste für die Ukraine fordert, ist ein besserer Mensch

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Mit seinerZeitenwende-Redehat Bundeskanzler Scholz dem alten Wort neue Bedeutung eingetrichtert: Zeitenwende heißt in seinem Kontext Aufrüstung.
Pazifistische Modelle gelten als überholt in Zeiten, in denen unser Wirtschaftsminister einen tiefen Diener beim Emir von Katar hinlegt, dass man ihm an liebsten tröstend über den Kopf streicheln möchte ob dieses “realpolitisch notwendigen Schrittes”, und in denen unsere grüne Außenministerin die Lieferung von Kampfflugzeugen an eine Kriegspartei fordert. Selbige Außenministerin teilt am 18. März der staunenden deutschen Öffentlichkeit mit:Bei Fragen von Krieg und Frieden, bei Fragen von Recht und Unrecht kann kein Land, auch nicht Deutschland, neutral sein.
Echt? Wieso nicht? Die Sache scheint so kloßbrühenklar, dass auf Begründungen verzichtet werden kann. Debattenkultur ist ebenso gestrig wie Pazifismus bzw. Neutralität. Angesagt ist, wer sich emotional reinschmeißt. Die modische Militärbegeisterung hat nicht nur die Medien, sondern auch die Menschen auf der Straße ergriffen (während sie mit ihren Einkaufstüten durch die Fußgängerzonen schlendern und sich selbst und ihre Kinder in Sicherheit wissen). Der auferstandene Militarismus schweißt “uns” zusammen, so im Sinnewir gegen Putineinschließlich der kuscheligen Empörungskultur gegen alles Russische. Als gäbe es keine deutsche Vergangenheit, die uns Besseres lehren müsste. Noch schlimmer: Als wäre der neue Militarismus Voraussetzung für eine Zeitenwende gemäße Moral!
Wer Panzerfäuste, Flugzeuge, Drohnen für die Ukraine mit Daumen hoch abnickt, ist ein besserer Mensch. Wer immer noch Friedensbotschaften hinterherhinkt, ist nicht nur oldschool, sondern verwerflich.*
Ich fühle mich weder militär- noch energietechnisch mental oder faktisch dazu verpflichtet, für die Ukraine in den Krieg zu ziehen. Der tägliche Dauerbeschuss mit Forderungen nach Waffen und Flugzeugen, nach Sanktionen gegen Russland inklusive Gasausstieg des ukrainischen Oberhäuptlings bestürzt mich: Sanktionen haben politisch noch nie Wirkung gezeigt, und Bomben noch weniger. Auch bin ich nicht in der Lage, die Sympathieverschiebung in Richtung Katar/Saudi Arabien/VAE nachzuvollziehen. Skrupellose Mörderstaaten, die ihre Bevölkerung und besonders Frauen in sklavenähnlicher Abhängigkeit halten, um sich und ihre Klans zu bereichern, widersprechen massiv der vorgeblich “wertebasierten, feministischen Außenpolitik” unserer Regierung.
Habecks tiefer Diener beleidigt mich persönlich.
Ich habe mich zu derlei parteinehmenden Verpflichtungen auch nicht motiviert gesehen, als die USA völkerrechtswidrig in den Irak eingefallen sind. Die neudeutsche Konsensgesellschaft übrigens auch nicht, die gab es ja so in den Jahren 2003 ff noch nicht, trotz der moralbeanspruchenden “Allianz der Willigen” – Schröder sei ausdrücklich Dank!
Wer mir / uns erzählt, noch mehr Waffenlieferungen an die gerechte Kriegspartei beenden den Krieg, der lügt mich / uns an. Es gibt keinen gerechten Krieg, Krieg ist immer unrecht. Und jede Partei, die sich daran beteiligt, beteiligt sich am Unrecht, nicht am Recht. Selenskij in seinem symbolträchtigen NATO-T-Shirt befeuert allmorgendlich & allabendlich die Weltöffentlichkeit mit kriegstreiberischem Getrommel, ehrenvoll sei es, für das Vaterland zu sterben. Wer das so sieht, soll es tun, aber nicht andere Länder auf der Moralschiene reinziehen. Wer das nicht so sieht, hat das Recht, sich an dem Kriegsgetrommel nicht zu beteiligen.
Ach ja – Zeitenwende zeitgemäß interpretiert heißt m.E.: Alle Kraft, Geld und Energie in pazifistische politische Modelle zu investieren. Alles andere redet der Doppelmoral das Wort.

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*Off Topic, Ummünzung Moral in Militarisierung: Am 26. Mai 1932 sah sich die Kirchenpartei der “Deutschen Christen” in ihrenRichtlinienvor die wahrlich schräge Aufgabe gestellt, nationalsozialistische Werte mit christlichen Werten auf einen Nenner zu bringen. Volkstum, Vaterlandsliebe, Nation standen ganz oben auf der Werteskala, Pazifismus war pfui bäh.
Dabei entstanden so abstruse Sätze wie diese: “Wir wollen, daß unsere Kirche in dem Entscheidungskampf um Sein oder Nichtsein unseres Volkes an der Spitze kämpft. Sie darf nicht abseits stehen oder gar von den Befreiungskämpfern abrücken . [..]
Wir wollen eine evangelische Kirche, die im Volkstum wurzelt, und lehnen den Geist eines christlichen Weltbürgertums ab. Wir wollen die aus diesem Geiste entspringenden verderblichen Erscheinungen wie Pazifismus, Internationale, Freimaurertum usw. durch den Glauben an unsere von Gott befohlene völkische Sendung überwinden.”

Ich hoffe nur, dass wenigstens unsere Kirchen sich in der aktuellen Situation zum urchristlichen Wert des Pazifismus bekennen …

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

C. Juliane Vieregge

Autorin, Bloggerin. Am 13. März 2019 ist ihr neues erzählendes Sachbuch "Lass uns über den Tod reden" im Ch. Links Verlag, Berlin, erschienen.

C. Juliane Vieregge

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