Vom selben Verein

Schein und Sein Nichts geht über die effektvolle Inszenierung

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Was habe ich eigentlich gegen diese Bilanzfotos, die manche Leute alljährlich im großen Stil zu Weihnachten oder Neujahr verschicken?

So peinlich berühren sie mich, dass ich sie meistens sofort wegwerfe.

Üblicherweise sind vielköpfige Familien darauf abgebildet, um den letztjährigen Weihnachtsbaum gruppiert oder auch mal auf der sommerlichen Gartenterrasse. Was soll das sein? Familienaufstellung à la Hellinger? Gruppenbild mit Entscheidungsträger?

Vor mir liegen zwei brandaktuelle Bilanzfotos: Das erste zeigt ein Baby in albernem, rotem Weihnachtsmannkostüm. Letztes Jahr, daran erinnere ich mich, trug die gesamte, drei Generationen umfassende Herkunftsfamilie genau die gleichen albernen, roten Kostüme plus Knollnase im Gesicht. Die Leute scheinen weder Kosten noch Mühen zu scheuen. Nur die Botschaft zählt. Auf dem anderen, dem Gartenfoto, tragen alle normale, sommerlich leichte Kleidung. Und alle heben die rechte Hand zum Gruße. In abgeknickter Armhaltung, um Missverständnissen vorzubeugen. Die Gesichter über den Winkehänden spiegeln engagierte Zuversicht. Im Klartext: Ungefähr zehn Personen strecken mir ihre rechten Hand entgegen, von denen ich, wenn ich genau hinschaue, gerade mal drei kenne: Meine ehemalige Schulfreundin, ihren Ehegatten und ihre älteste Tochter. Aus der einen Tochter sind im Laufe der Jahre drei geworden, und alle drei haben offensichtlich inzwischen Partner gefunden: Junge, aufstrebende Männer in Businesshemden und mit Nerdbrillen im Gesicht hocken im Garten ihrer Schwiegereltern und winken auf Kommando los. Der eine Weiße-Hemd-Träger stemmt ein Kind in die Luft wie eine Siegestrophäe:

Welt, sieh her! Gemeinsam sind wir –

Warum tun die das? Warum sitzen die da wie eine eingeschworene Gemeinschaft, und warum denken die schon im Sommer an das im Winter fällige Bilanzfoto? Der Ehegatte meiner ehemaligen Schulfreundin wollte sie in einem unglücklichen Lebensabschnitt finanziell ruinieren. Dafür hatte er den schärfsten Hund unter den Fachanwälten seines Vertrauens beauftragt. Der ist nach wie vor ein Freund der Familie, und seit die Krise überwunden ist, setzt meine ehemalige Schulfreundin ihm wieder ein bis zweimal pro Jahr Speise und Trank vor und übt sich in der Kunst des Smalltalks. Dass ihre Töchter oft wochenlang nicht mit ihr reden, dass einer der Schwiegersöhne arbeitslos ist, dass sie mit den Abgründen ihrer familiären Vergangenheit nicht klar kommt und darüber schon mehrere Therapeuten verschlissen hat, – all das, all diese ganz und gar menschlichen, alltäglichen Sorgen, die jeder kennt, lässt das Bilanzfoto aus.

Und die Weihnachtsmann-Family – ach, egal. Viel mehr interessiert mich meine eigene Reaktion darauf. Bin ich neidisch? Und wenn ja, warum? Auch ich habe mit meinen Lieben zusammen Weihnachten gefeiert. Dieses Jahr, letztes Jahr, Jahr für Jahr. Ach, verdammte Axt!, auch diesmal hab ich kein Beweisfoto geschossen. Habe einfach nicht dran gedacht. War zu beschäftigt, Weihnachten zu dem zu machen, was es für mich war und was es immer ist: Essen, gemeinsam Musizieren, Geschenke auspacken, sich alles mögliche erzählen …

Es sind die Weihnachtsmannkostüme! Es sind die zehn Winkehände, die mich fertig machen. Es ist dieses: Hallo, wir sind alle vom selben Verein.

Und wir sind ja auch nicht alle vom selben Verein. Eine Patchworkfamilie ist zwei Vereine. Patchworkfamilie bedeutet: im Leben aller beteiligten Personen hat mindestens schon ein Mal eine Katastrophe stattgefunden. Wir versuchen unser Bestes. Mehr geht nicht.

Steigerung der Bilanzfotos sind Bilanzrundbriefe. Überflüssig zu erwähnen, dass es sich auch hierbei ausschließlich um Erfolgsbilanzen handelt, Rundbriefe verbitte ich mir inzwischen strikt. Ich weiß meistens zu gut Bescheid: Über die Hintergründe derer, die da vorgeführt werden oder sich selbst vorführen. Auch meine Eltern pflegten eine Zeitlang diesen Brauch, und ich war eine zwar kindliche, nichtsdestotrotz staunende Zeugin, wie easy sich Katastrophen in Heldentaten ummünzen ließen. Rundbriefe verabscheute ich von derselben Sekunde an.

Von keinen Heldentaten, von keinen Kindern und von einer Ehe, die nicht so ganz in der Spur läuft, berichtet eine andere Freundin: Ihr Mann ist alkoholabhängig. Aus der gemeinsamen Wohnung ist sie ausgezogen. Jeden Abend, wenn sie von der Arbeit kommt, geht sie bei ihm vorbei, kocht etwas, und dann essen sie zusammen. Danach geht sie nach Hause. Sie ist Gynäkologin und hat eine gut gehende Praxis im Ruhrgebiet. Sie besitzt eine schöne Wohnung, trägt gerne schönen Schmuck und sammelt Kunstwerke. Davon erzählt sie nur auf Nachfrage. Sie ist keine Angeberin. Sie stellt nichts zur Schau, obwohl auch bei ihr einiges gut läuft, weshalb sie sich ganz objektiv nicht hinter den Weihnachtsmann-Winkewinke-Familys verstecken müsste.

Der Gedanke an neidvolle Vergleiche ist ihr fremd. Ich glaube, dazu ist sie zu klug. Über offene Wünsche, Enttäuschungen, Pleiten, Pech und Pannen kann ich mit ihr ohne Schere im Kopf quatschen. Kein verschwurbelter Wille zur Selbstdarstellung zwingt mich in eine Rolle. Keine Wertung drängt mich in die Defensive. Wir können uns sagen, was gesagt werden muss.

Die Bilanzfotos dagegen landen unbeantwortet im Papierkorb. Sie laden mich zu nichts ein. Sie sind Bilder, die im Brecht’schen Sinne nicht produktiv werden. Sie schlagen mir die Tür vor der Nase zu. Sie sind so uninteressant und langweilig, weil sie nichts erzählen. Sie wollen nur etwas von mir. Sie wollen, dass ich ihnen glaube. Und letztlich wollen sie meine Bewunderung.

Bilanzfotos sind keine Schnappschüsse, sondern Inszenierungen. Sie zeigen gewünschte Lebensentwürfe. Genauso möchten die darauf abgebildeten Personen wahrgenommen werden, indem sie die Allgemeingültigkeit einer ganz besonderen Situation suggerieren und für sich in Anspruch nehmen.

Ich glaube nicht, dass ich neidisch bin. Vielleicht ein bisschen traurig. Bilanzfotos, in ihrer – gewollten – Einseitigkeit, heben die eigenen biographischen Brüche deutlicher hervor. Aber jede Biographie hat Brüche, und jedes Kalenderjahr hat ab und an seine Ein-Brüche. Misserfolge, Rückschläge, Scherben, die manchmal auch nicht mehr zu kitten sind. Sie gehören zum Bild dazu. Ich bitte da um mehr Ehrlichkeit. Dann, und nur dann, könnte ich mich vielleicht doch mal zu einer Antwort aufraffen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

C. Juliane Vieregge

Autorin, Bloggerin. Am 13. März 2019 ist ihr neues erzählendes Sachbuch "Lass uns über den Tod reden" im Ch. Links Verlag, Berlin, erschienen.

C. Juliane Vieregge

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