Will ich das?

Das bürgerliche Unbehagen Wenn die Teilnahme an politischen Prozessen ausbleibt, fühlen Menschen sich überflüssig

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Unser allseits beliebter Außenminister Heiko Maas behauptet gebetsmühlenartig, Deutschland betreibe „eine wertebasierte Außenpolitik“. Doch ich frage mich, wie Big Deals mit Saudi Arabien (Menschenrechte) oder mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (Scharia bes. in familienrechtlichen Angelegenheiten) dazu passen? Und wie passt die Tatsache, dass die militärischen Übergriffe Erdogans in der Öffentlichkeit immer wieder heruntergespielt werden, bloß weil die Türkei NATO-Mitglied ist?
Probebohrungen nach Erdgas im Meer vor Nordzypern, Kampfjet- und Drohnenangriffe auf Armenien, Leugnung des Völkermords an Armeniern, die Verschickung von Söldnern/IS-Kämpfern nach Armenien und Syrien, überhaupt Erdogans Nähe zum IS … Die Wertebasiertheit der deutschen Außenpolitik kommt ganz hübsch ins Schlingern.
Darüber hinaus gibt es in Armenien eine russische Luftwaffenbasis sowie eine Vereinbarung über die Lieferung russischer Waffen und die Sicherung der Grenzen durch russische Truppen: Grund genug, von deutscher Seite von Armenien abzurücken – ungeachtet der Tatsache, dass 90 % der armenischen Bevölkerung orthodoxe Christen sind, aber Religion und Werte scheinen nach außenpolitischen Maßstäben nur in marginalem Zusammenhang zu stehen.
Moralische Werte sind in der kapitalistischen Wettbewerbs-Gesellschaft gleichbedeutend mit ökonomischen Werten, die ihrerseits im vernetzten globalen System von geopolitischen Interessen determiniert werden. Was da nicht passt, wird passend gemacht: z.B. die Umtitulierung von IS-Terroristen in „gemäßigte Rebellen“, weil diese gewaltstrotzenden, blutige Macheten schwenkenden Mannen des selbsternannten Gottesstaates Putinfreund Assad bekämpfen – ja, immer noch!
Dass Assad weg muss, darüber waren sich die Länder Europas und die USA lange Zeit einig. Inzwischen ist das Thema ein wenig aus der Agenda gefallen. Unser wichtigster Freund, die USA, verlangt Gefolgschaft: In den aktuellen Konflikten um Nord Stream 2, bei den Sanktionen gegen Iran und beim Ausschluss von Huawei aus der Telekom zeigen die Amerikaner uns, wo sie uns haben wollen, zur Not mit Druck und Erpressung. Eine souveräne deutsche Außenpolitik ist da eher unerwünscht.

Wie denkt die bundesdeutsche Bürgerin über den wiederauflebenden Kalten Krieg, über das Machtgehabe und militärische Rasseln der Großmächte? Die antirussische Propaganda zeigt längst Wirkung. Niemand wundert sich, dass der russische Regimekritiker Alexei Anatoljewitsch Nawalny, der sich zur Zeit in der Berliner Charité von einem Giftgasanschlag erholt, von Kanzlerin Merkel am Krankenbett besucht wurde. Die Tatsache, dass Nawalny sich in seinem Kampf gegen Korruption als radikaler Nationalist und Rassist entlarvt hat, für den die Arbeitsmigranten das brisanteste Problem Russlands und Menschen aus dem Kaukasus Kakerlaken sind, weshalb er besonders bei Neonazis auf große Gegenliebe stößt, scheint den deutschen Medien-Mainstream nicht weiter zu beschäftigen.
Anstatt sich zu gerieren, als gäbe es in Deutschland keine politische Morde – an der Stelle sei an das rasante Zeugensterben im NSU-Prozess und an die verblüffend gehäuften Todesfälle der involvierten V-Männer in selbigem Zusammenhang erinnert – könnte deutsche Außen- bzw. Symbolpolitik sich doch auch mal von der humanen Seite zeigen. Wie wäre es mit einem Krankenbesuch bei Julian Assange? Oder gibt es Politiker*innen, die sich ernsthaft für ein deutsches Asyl für Edward Snowden aussprechen?
Die bundesdeutsche Bürgerin stellt sich viele Fragen und findet wenig Antworten. Zum Teil sogar wenig Informationen (s. oben). Sie fragt sich, ob sie eigentlich noch so weit weg vom Gefühl eines mittelalterlichen Bürgers ist, der sich dem politischen Geschehen genauso ausgeliefert sah wie einem Naturereignis. Das Verhältnis zwischen Staat und Individuum ist gestört. Zwischen den beiden Ebenen scheint keine Verbindung mehr zu existieren. Irgendwelche Großunternehmen, Banken und ganze Staaten werden gerade gerettet, die Kultur dagegen, kleine Betriebe und Start-up-Unternehmen liegt am Boden, und manche, wie der rheinland-pfälzische Autozulieferer ATW, werden von Elon Musk als Deus ex Machina des zeitgenössischen, internationalen Wirtschaftsdramas übernommen. Will ich das? Oder kann ich es wenigstens nachvollziehen mittels Vernunft und Einsicht, Autonomie und Erkenntnis, um hier mal die Werte der Aufklärung, auf die wir uns so viel einbilden, ins Spiel zu bringen?
Indem die Innenpolitik den Argumenten des Lobbyismus folgt und die Außenpolitik geopolitischen Strategien, fühlt der Bürger sich bedeutungslos. Nein, das war nicht immer so! Eine echte Opposition gibt es auch nicht. Die Parteien unterscheiden sich kaum, Grüne und CDUler hängen in denselben Think Tanks ab bzw. schweigen einvernehmlich in denselben entscheidenden Punkten. Und das war auch nicht immer so! Die Menschen verziehen sich in ihre Wohnungen, an ihren PC, in Videospiele, in irrelevante gesellschaftliche Ereignisse, in Verschwörungstheorien. Dahin, wo sie am wenigsten Ärger machen. Die sich in selbstverschuldete Unmündigkeit begebenden Bürger*innen waren schon immer die bequemsten Bürger*innen. Wenigstens Heiko Maas weiß, auf welche Werte er sich stützen kann.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

C. Juliane Vieregge

Autorin, Bloggerin. Am 13. März 2019 ist ihr neues erzählendes Sachbuch "Lass uns über den Tod reden" im Ch. Links Verlag, Berlin, erschienen.

C. Juliane Vieregge

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