Vielen Dank für die Fragen

Bücherkalender Kay.Kloetzer genießt Sibylle Bergs Blick auf die Welt - weil er pessimistisch, witzig, klar ist

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Es ist nicht einfach, Fan von Sibylle Berg zu sein. Es ist anstrengend. Sie ist anstrengend. Darum freue ich mich jede Woche auf ihre S.P.O.N.-Kolumne, in der sie gegen Dummheit schreibt, gegen Scheinheiligkeit, gegen das, was sie und uns alle umgibt. An diesem Samstag geht es um Frauen, die sich Männern unterwerfen oder andienen, die "einen an der Waffel" haben. In der vergangenen Woche ging es um "Menschen mit Angst und solche ohne" und gab es wieder einen Satz, den man sich ausschneiden möchte oder auf ein Transparent malen oder als Geschenk verpacken: "Der Sozialstaat geht unter, weil alle sich demokratisch auf eine Regierung geeinigt haben, die den nicht regulierten Kapitalismus forciert und den sozialen Gedanken der Demokratie langsam untergräbt."

Was Sibylle Berg schreibt, ist nicht immer neu, aber immer deutlich. "Fragen Sie Frau Sibylle" heißt die Kolumne, und so heißt im Untertitel auch das Buch "Wie halte ich das nur alles aus", das im Sommer erschienen ist (Carl Hanser Verlag, 160 Seiten, 14,90 Euro). Darin beantwortet sie in fünf Teilen Fragen etwa der Weltverbesserung, zu Liebe, Sex und ähnlichem.

Ich habe dieses Buch noch nicht gelesen. Aber ein anderes: den Roman "Vielen Dank für das Leben". Darin begräbt sie zwei Gesellschaftsordnungen und erschafft mit Toto eine grandiose Hauptfigur, die auch nicht zu retten ist.

Toto ist Hermaphrodit, Mann und Frau zugleich. Die Handlung setzt ein im Jahr 1966, in der DDR. Berg, 1962 in Weimar geboren und 1984 übergesiedelt in den Westen, beschreibt die Agonie so drastisch, dass es schon wieder komisch wirkt. Ihr Jahrhundertzeuge, wird bis zum Jahr 2030 leben. Man beneidet ihn um keine Minute, denn Sibylle Bergs zweifelnder, pessimistischer Blick auf die Welt prägt dieses Buch.

Totos Gegenspieler ist Kasimir, ein Lebens-Optimierer, der als Banker Millionen verdient. Kasimir hasst Frauen. Und Toto hat sich entschieden, als Frau zu leben, wechselt mitten im Roman das Geschlecht. Und bleibt fremd in der Welt. Berg seziert das Wesen der zu Lauten und der zu Leisen aus dem schweren Leib der Depression.

Toto beobachtet seine Umgebung ohne zu werten, ohne aufzubegehren oder sich einzumischen. Mit ihm stellt dieses Buch die Frage nach dem Sinn. Auf die kein Jahrzehnt eine Antwort hat. Nicht die 80er Jahre, bei Berg das lasche Jahrzehnt vor der Beschleunigung. Nicht die 90er, die sich in großem Umfang Verlierer leisten. Danach ist "Mehr" die öde Überschrift des neuen Jahrtausends, bevor die letzte Schlacht zwischen den Geschlechtern beginnt. "Jeden Tag starben einige Geheimnisse und mehrere Tierarten aus." Und dann, am Ende, also morgen, lähmen Langeweile und Ratlosigkeit die Welt der Bio-Supermärkte und Naturkatastrophen. Schön ist das nicht, es wäre kaum zu ertragen ohne Bergs klugen Witz. Vielen Dank für die Fragen.

Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben. Roman. Hanser Verlag, 400 Seiten, 21,90 Euro

Die drei Fragezeichen:

1. Wie lautet der erste Satz des Buches?

Keiner wird sich wohl noch an den kalten Sommer neunzehnhundertsechsundsechzig erinnern.

2. Wer oder was wärst Du gern in diesem Buch?

Niemand, wirklich nicht.

3. Wen könnte dieses Buch besonders begeistern?

Wer ahnt, ohne Hoffnung zu sein, das Denken aber noch nicht aufgegeben hat.

Bücher, für die wir als LeserInnen brennen, werden vom 1. bis zum 24. Dezember vorgestellt. Eine Koproduktion von Amanda, Calvani, Goedzak, H.Hesse, Kay.kloetzer, Magda und Mcmac.

Teile des Textes stammen aus Kay.Kloetzers Rezension des Buches, die 2012 in der Leipziger Volkszeitung erschienen ist.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Calvani

Die Wirklichkeit ist immer nur ein Teil der Wahrheit

Calvani