»Green Border« und das Holocaust-Bildergedächtnis

Film Agnieszka Hollands »Green Border« ist vor allem als politischer Film diskutiert worden. Doch nichtzuletzt seine Anleihen am Holocaust-Bildergedächtnis machen ihn zu einer filmischen Ikone über das Unrecht der Gegenwart.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Es ist eine der Schlüsselszenen in Schindlers Liste. Noch am Vortag hatte Oskar Schindler dem KZ-Kommandanten Göth einen alternativen Weg aufgezeigt, Macht zu exerzieren. Mächtig sei nicht derjenige, der töte, sondern jener, der Gnade walten lasse, obwohl er im Recht sei zu töten. Amon Göth, der „Schlächter von Płaszów“, hatte die Angewohnheit, Häftlinge vom Balkon seiner Villa auf einer Anhöhe neben dem KZ zu erschießen. Bereits am Folgetag des feuchtfröhlichen Abends mit Schindler werden dessen Worte auf die Probe gestellt. Als einem jugendlichen Häftling ein Fehler unterläuft, droht Göth der eigene Jähzorn zu übermannen. Doch der SS-Mann gibt Schindlers Gedanken eine Chance, verzeiht dem Jungen und lässt ihn gehen.

Die Wahl zu haben, das Richtige zu tun, auch wenn man noch so sehr vom Falschen profitiert – ist das universale Moment von Stephen Spielbergs filmischer Ikone, an das Agnieszka Holland mit ihrem neuesten Film Green Border anschließt. In fünf Kapiteln nimmt die polnische Regisseurin verschiedene Perspektiven ein, die nicht zu einer gemeinsamen Geschichte und doch zu einem geteilten Schicksal verschmelzen. Bashir und Amina fliehen mit ihren Kindern und Bashirs Vater aus Harasta, einer von den Kämpfen zwischen Islamisten und Regierungstruppen zerstörten syrischen Kleinstadt nahe Damaskus. Maciek, Żuku und Ula sind polnische Aktivist*innen der Gruppe „Granica“ (Grenze), die die Flüchtenden mit dem Nötigsten versorgt. Als ihr Gegenspieler agiert Jan, polnischer Grenzschützer und werdender Vater. Julia, eine Psychologin aus Warschau, ist vor dem Hintergrund persönlicher Schicksalsschläge gerade aufs Land gezogen und gerät zunehmend zwischen die Fronten.

Holland bettet ihre Protagonist*innen in das, was auf Wikipedia als „Migrationskrise an der Grenze zwischen Belarus und der Europäischen Union“ bezeichnet wird. Seit Mitte des Jahres 2021 hatten Flüchtende vermehrt versucht, über Weißrussland nach Europa zu migrieren. Der belarussische Präsident Lukaschenka hatte die Migrant*innen instrumentalisierte, um Druck auf die EU auszuüben. An irakische Bürger*innen waren Touristenvisa vergeben worden, Linienflüge hatten sie und weitere Menschen aus Jordanien und dem Libanon direkt nach Minsk gebracht. Von dort aus waren sie an die – in Litauen mehr als 500 km, in Polen 400 km lange – EU-Außengrenze gebracht worden. Die „grüne Grenze“ ist seitdem zu einem Menetekel Europas geworden. Unter dem Deckmantel des Ausnahmezustands werden Menschen systematisch entrechtet, manche auch getötet.

Wahrheit im Ausnahmezustand

Vor dem Hintergrund des realen Verlusts der Menschlichkeit ist Green Border eine fiktionale Erzählung mit dokumentarischem Charakter. Die einzelnen Protagonist*innen mögen erfunden sein, ihre Geschichten sind es nicht. Die Verweigerung des Rechts auf Asyl, Push-Backs, Schläge, Körperverletzungen, unterlassene Hilfeleistung – was filmisch inszeniert, ist auch in der Realität dokumentiert worden. Und doch ist Green Border keine Dokumentation. Die Charaktere werden entwickelt, haben ihre eigenen Geschichten, dienen keineswegs nur zur Anklage des Unrechts. Holland war es ein Anliegen, den Figuren zu ihrem Recht verhelfen. Wochenlange Recherchen gehören genauso dazu wie Schauspieler*innen, die mehrsprachig nicht nur die Rollen im Film, sondern auch ihre eigenen Geschichten inszenieren.

So spielt Green Border in einem Grenzraum, wo – in den Worten von Giorgio Agamben – der Ausnahmezustand herrscht. Für den italienischen Philosophen ist dieser zum neuen Paradigma des Regierens geworden. Rechtsfreie Räume sind längst integraler Bestandteil der westlichen Rechtsstaaten. In ihnen herrscht ein totalitärer Zugriff auf das Individuum. Hier sind jene, die nach Einschluss streben, vogelfrei, um weiterhin ausgeschlossen zu werden. Grenzwächtern schmeißen lebende wie tote Menschen über die Grenze zum jeweils anderen, um nicht zu riskieren, dass sie zu Teilen der eigenen Gesellschaft werden. Angeblich sollen sogar Schwangere über die Stacheldrahtzäune geworfen werden.

Wo der Ausnahmezustand herrscht, dort herrscht auch das Gerücht. Stimmt es, was die linksliberale Presse schreibt? Die Frage, die sich Kasia angesichts des Jobs ihres Mannes Jan und angesichts ihrer eigenen Schwangerschaft stellt, hängt maßgeblich an ihrem eigenen Glück: das neue Eigenheim im Grenzgebiet, die eigene Elternschaft, die ehrenwerte Arbeit ihres Mannes, plündernde und vergewaltigende Horden aus dem Orient abzuwehren. Oder sollte Jan lieber hinschmeißen, um sich und seine Würde zu schützen, in Kauf nehmen, arbeitslos und schwach zu sein angesichts der Schwangerschaft seiner Frau und einer von sexistischer Männlichkeit dominierten Nation, die einer nationalen Bedrohung ausgesetzt ist? Es muss ja doch irgendwer die Drecksarbeit machen. Im Ausnahmezustand verrückt auch der Wertmaßstab.

1993, als Spielbergs mit sieben Oscars prämiertes Meisterwerk erschien, hatte der Holocaust noch nicht seine Rolle als universales Menschheitsverbrechen. Und doch hatten Historiker*innen bereits begonnen, seine Geschichte mehr und mehr aus der Perspektive von Opfern und Überlebenden zu schreiben. Mithilfe ihres „situierten Wissens“ (Donna Haraway) konnte man den nationalsozialistischen Ausnahmezustand rekonstruieren, wie es allein auf Grundlage staatlicher Dokumente nicht möglich gewesen wäre. 1994 gründete Spielberg, auch mithilfe seiner Einnahmen aus Schindlers Liste, die Shoah Foundation. Heute beheimatet diese mehr als 55.000 Interviews mit Holocaustüberlebenden, aber auch Überlebenden anderer Genozide.

Auf Grundlage langer Recherchen und auf dem Fundament des Wissens von Überlebenden manövrieren sowohl Schindlers Liste als auch Green Border zwischen Dokumentation und Spielfilm. Noch geht es beiden darum, die konkrete Wahrheit eines Ereignisses ans Licht zu bringen. Doch weisen sie auch bereits darüber hinaus – auf große Fragen zur Conditio humana. Und hier beginnt die Grenzüberschreitung. Durch die Fiktion zeichnen beide Spielfilme ein Bild der Gewalt, das vor dem Hintergrund des Ausmaßes des Holocausts und der jüdischen Tradition des Bilderverbots zumindest Spielberg heftige Kritik eingebracht hatte. Kritik an Holland aufgrund ihres Anknüpfens an die Bildtradition der Holocaust-Inszenierung ist dagegen bislang genauso ausgeblieben wie Kritik von antirassistischer Seite an der weißen Autorinnenschaft.

Ästhetik im Ausnahmezustand

Spielberg rahmte seinen Film durch eine ausgewählte Farbgebung. Kerzen werden entzündet, der Kiddush, traditioneller Segensspruch zur Einleitung des Sabbats, gesungen, ehe die Farbe zusammen mit dem Abbrennen der Kerze erlischt. In Schwarz-Weiß beginnt die eigentliche Geschichte mit der Registration der Jüd*innen am Krakauer Hauptbahnhof. Sieht man von dem Mädchen im roten Mantel ab, hält die Farbe erst drei Stunden später wieder Einzug, als die überlebenden »Schindler-Juden« unter dem 1967 komponierten Lied „Jerusalem aus Gold“ aus der Vergangenheit in die Gegenwart treten. So wird Farbe nicht nur zur Markierung zwischen den Zeiten, sondern zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Fremd- und Selbstbestimmung, Diaspora und Israel.

Auch Hollands Green Border startet in Farbe. Die Kamera schwebt über dem saftigen Grün der tiefen Wälder, die die Grenze zwischen Polen und Weißrussland markieren. Wie bei Spielberg verliert sich die Farbe beim Eintauchen in die eigentliche Geschichte. Diese beginnt wie die Registration am Krakauer Bahnhof beinahe leichtfüßig. Eine türkische Airline mit freundlichen Stewardessen bringt Amina, Bashir, dessen Vater und die Kinder nach Minsk. Bereits im Flugzeug schließen sie Freundschaft mit der Afghanin Leila, einer alten Englischlehrerin auf der Flucht von den Taliban nach deren erneuter Machtübernahme, die sie von nun an begleiten wird. Doch nicht nur Leilas Geschichte verliert sich. Migration sucht sich ihre Wege, aber unter herben Verlusten. Noch immer sterben Menschen am europäischen Grenzregime.

Selbst in der Schlussszene kehrt in Green Border die Farbe nicht zurück. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine öffnete Europa seine Grenzen. Auch Jan hilft mit, als es gilt, ukrainische Frauen und Kinder mit Bussen aus der Grenzregion in die Städte zu bringen. Eine Kollegin kommentiert das mit den Worten, früher sei er aber nicht so nett zu den Flüchtlingen gewesen. Was als Gerücht den Bystandern zur sicheren Distanz dient, heißt für Täter und Opfer distanzlose Wahrheit: Schlägertrupps im Wald, das Bellen und Beißen abgerichteter Schäferhunde, zu deportierende Flüchtlinge auf Ladeflächen alter LKWs. Selbstverständlich hatte Jan sowohl Schwangere als auch Tote über den Grenzzaun geworfen.

Wie Holland ihren Protagonisten Jan nicht aus der Verantwortung lässt, ging es auch Spielberg darum, nur die Möglichkeit, nicht die Realität von Anstand aufzuzeigen. So ist die eingangs beschriebene Szene nicht zu Ende erzählt. Denn ein Gefühl der Macht will sich bei Göth nicht einstellen. Er greift zum Gewehr, begibt sich zum Balkon. Obgleich sonst treffsicher, verfehlen seine ersten beiden Schüsse den jüdischen Jungen. Schindlers Worte klingen nach, ehe sie mit dem dritten Schuss verstummen. Aufzuzeigen, dass sowohl individuelle Verantwortung als auch Hoffnung existiert, sei die Totalität des Unrechts auch noch so groß, machte Schindlers Liste zur Ikone. Der Tatsache zum Trotz, dass angesichts des Ausmaßes der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden jeder Oskar Schindler nur ein Tropfen auf den heißen Stein war, lautet der Spruch des israelischen Ehrentitels »Gerechter und den Völkern«: „Wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit gleichsam eine ganze Welt gerettet.“

Inmitten der niedergegangenen Welt platziert auch Holland eine kleine gerettete am Ende ihres Meisterwerks. Die Psychologin Julia, angesichts des Unrechts an der EU-Außengrenze radikalisiert, schleust drei frankophone Flüchtende zu einem gut situierten Patienten in die Großstadt. Dessen Sohn und Tochter entdecken sogleich gemeinsame Interessen mit den afrikanischen Jugendlichen. Die Inszenierung wechselt ins Französische. Die alte Generation mit samt ihren Verbrechen bleibt zurück. Der Schmerz aber klingt noch nach in jeder Punchline des Rappers Youssoupha, als eine neue Welt sich aus der Asche der alten erhebt – „Mourir Mille Fois“ (tausendmal sterben):

// Je plie quand tu plies, je pleure quand tu pleures
Je prie quand tu pries alors, ton deuil, c'est mon deuil
Je vibre quand tu vis, un cœur pour un cœur
Puisque je brille quand tu brilles, alors je meurs quand tu meurs //

// Ich beuge mich, wenn du dich beugst, ich weine, wenn du weinst
Ich bete, wenn du dann betest, deine Trauer ist meine Trauer
Ich vibriere, wenn du lebst, ein Herz für ein Herz
Da ich leuchte, wenn du strahlst, sterbe ich, wenn du stirbst //

// Les sacrifices nous rendent avisés
On ne sait pas vraiment de quoi on est fait tant que l'on n'est pas brisé
Mais on se relève toujours, tu l'vois
Même si perdre tant de proches donne l'impression de mourir mille fois //

// Opfer machen uns weise
Wir wissen nicht wirklich, woraus wir gemacht sind, bis wir kaputt sind.
Aber wir stehen immer wieder auf, du wirst sehen
Auch wenn der Verlust so vieler geliebter Menschen sich anfühlt wie tausendmal sterben //

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christoph Gollasch

Politikwissenschaftler und Historiker | Lernender und Fragender | PhD candidate Centre for Research on Antisemitism | Intersectionality, Baby!

Christoph Gollasch

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden