Warum Europas neue Aussperrklausel nur den Rechtspopulisten nützt

Demokratieabbau „In Polen und Ungarn wird man mit Spannung verfolgen, wie Deutschland EU-Recht missbraucht, um die Demokratie zu zerlegen.“ (Martin Sonneborn)

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Diese düstere Prognose äußerte der deutsche EU-Parlamentarier und frühere Satiriker Sonneborn (Die PARTEI) erstmals im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) im vergangenen Monat. Damit zog die Spaßbremse beim Durchregieren („Zuviel Transparenz, zu viele schlechte Witze“) eine provokante Parallele zwischen dem „Verfassungsputsch“ (NZZ) bei unseren Nachbarn und einem fast vollendeten deutschen Demokratieabbauprojekt. In beiden Fällen ignoriert das Parlament jeweils die Rechtsprechung des nationalen Verfassungsgerichts, nur mit dem Unterschied, dass wir im einen Fall die EU nutzen, um bei unseren Nachbarn die Rechtsprechung von deren Verfassungsgericht gegen das Parlament durchzusetzen, bei uns selbst aber die EU einspannen, um unser Bundesverfassungsgericht zu umgehen.

Beim deutschen Demokratieabbau geht es um eine erneute Wiedereinführung der 2011 erstmals von Karlsruhe für nichtig erklärten Sperrklausel bei Europawahlen, von welcher das Bundesverfassungsgericht 2014 nach einer abgeschwächten Wiedererrichtung ein weiteres Mal feststellte, dass sie gegen das grundrechtsgleiche Demokratieprinzip verstößt. Dank dieser beiden Urteile konnten Kleinparteien wie Die PARTEI von Martin Sonneborn inzwischen zweimal ist Europaparlament einziehen und damit die ganze demokratische Vielfalt des Wählerwillens abbilden.

Einmal wird das noch gehen, danach soll mit dieser Vielfalt Schluss sein. Letzte Woche beschloss der Bundestag am 15. Junimit verfassungsändernder Mehrheit das „Gesetz zu dem Beschluss (EU, Euratom) 2018/994 des Rates der Europäischen Union vom 13. Juli 2018 zur Änderung des dem Beschluss 76/787/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 20. September 1976 beigefügten Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments“.

Was sich hinter dem etwas sperrigen Gesetzesnamen verbirgt, hat eine beinah 50 Jahre lange Vorgeschichte und wird ein absehbares verfassungsgerichtliches Nachspiel haben und ebenso absehbare politische Folgen.

Die Geschichte begann mit dem im Namen anklingende 20. September 1976. An diesem Tag wurde mit dem Europäischen Direktwahlakt eine wesentliche demokratische Veränderung beschlossen: das Europaparlament sollte von 1979 an direkt von der Bevölkerung in den damals 9 Mitgliedsstaaten der 3 Europäischen Gemeinschaften gewählt werden. Diesen 9 Mitgliedsstaaten überließ der bis heute gültige Wahlakt die jeweils eigenständige Entscheidung, ob sie für die Europawahl bei sich eine Sperrklausel von maximal 5 % einführen wollten oder nicht.

Zwei der 9 Staaten, Frankreich und Deutschland, machten davon Gebrauch. Die Bundesrepublik legte für ihre Wähler:innen im Europawahlgesetz vom 15. Juni 1978 eine 5 % Hürde fest. Ein gutes halbes Jahr später erschien in der Juristen Zeitung der Aufsatz „Die Verfassungswidrigkeit der 5%-Sperrklausel im Europawahlgesetz“ von dem gerade frisch promovierten späteren Böckenförde-Nachfolger Dietrich Murswiek. Diese Publikation stimulierte unmittelbar nach ihrem Erscheinen zwei einjährige Verfassungsbeschwerden: die der „Liga für Freie Völker – Europa 2000“ und die eines nicht mehr identifizierbaren Wahlberechtigten, die Karlsruhe beide am 22. Mai 1979 noch vor der Wahl zurückwies.

Tragendes Argument der Verfassungrichter: „Im gegenwärtigen Stadium der Integration hängt ein erfolgreiches Wirken des Europäischen Parlaments noch sehr stark davon ab, daß eine enge Verbindung und Zusammenarbeit zwischen den Abgeordneten der Versammlung und den tragenden politischen Kräften ihrer Heimatländer besteht, die ihrerseits auf den Rat und die Kommission einwirken können. … Dazu vermögen im nationalen Bereich unbedeutende Splittergruppen, die keine unmittelbare Verbindung zu den maßgeblichen politischen Kräften ihres Herkunftslandes haben, wenig oder nichts beizutragen.“ (2 BvR 193, 197/79)

Rund 30 Jahre lang wurde diese Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts allgemein akzeptiert. Bis 2006 die Grünen die 5 % Klausel im schleswig-holsteinischen Gemeinde und Kreiswahlgesetz zunächst politisch erfolglos mit einem Gesetzesänderungsantrag im Landtag angriffen, dann aber 2008 zusammen mit der Linken mit einer Verfassungsbeschwerde gegen die Ablehnung ihres Antrags erfolgreich waren und so eine 5 % Hürde im deutschen Wahlrecht erstmals gerichtlich zu Fall brachten (2 BvK 1/07).

Der erste Top-Jurist, der nach diesem Urteil erkannte, dass jetzt auch die 5 % Klausel im Europawahlgesetz neu überdacht werden sollte, war Europas ungeduldigster, aber letztendlich auch erfolgreichster Whistleblower Guido Strack. Strack war damals Gründungsvorsitzender eines Whistleblower Netzwerks, das heute vor 3 Wochen endlich die Verabschiedung eines Hinweisgeberschutzgesetzes durch den Bundestag erreicht hat.

Der frühere EU-Beamte hatte dieses Netzwerk 2005 zusammen mit 74 anderen Whistleblowern ins Leben gerufen. Von der parlamentarischen Kontrolle in der EU wusste er vor allem eins: dass sie nicht fuktioniert – mit der Konsequenz, dass Europas „Null Toleranz Linie“ gegen Korruption nur eine löchrige Fassade war, ebenso wie die nach dem Rücktritt der Santer-Kommission 1999 gegründete Antikorruptionsbehörde „OLAF“, an die er sich selbst kurz danach vergeblich mit brisanten Informationen gewandt hatte.

War vor diesem Hintergrund der Einzug von nicht in das System von Geben und Nehmen eingebundenen Kleinparteien ins Europaparlament (EP) nicht das beste Gegengift gegen den Filz zugunsten nachhaltigen und transparenten Kontrolle?

Strack versuchte die deutsche Sperrklausel zunächst mit einer Petition anzugreifen, in der er deren ersatzlose Streichung forderte. Zur Begründung griff er Murswieks verfassungsrechtliche Argumente von 1979 auf und ergänzte sie mit Hinweisen auf die veränderten Verhältnisse von 2009:

Anders als bei Bundestagswahlen gibt es bei Europawahlen heute keinen sachlichen Grund mehr, der eine 5% Hürde rechtfertigen könnte. Dies zeigt vor allem der Vergleich der Begründung des 30 Jahre alten Urteils des Bundesverfassungsgerichts (- 2 BvR 193, 197/79 -) mit der heutigen tatsächlichen Situation auf europäischer Ebene. Es gibt mittlerweile europäische Parteien und Gruppierungen, die in mehreren Mitgliedstaaten (z.T. auch in Deutschland) zur Wahl antreten und eben keine bloßen Zusammenschlüsse nationaler Parteien mehr sind. Es gibt jetzt 27 EU-Staaten und das EU-Parlament ist ohnehin zersplittert, hieran kann die 5% Hürde in Deutschland nichts ändern. Das Parlament hat mittlerweile eine ganz andere Rolle im EU-Institutionengefüge, ohne dass es jedoch eine EU-Regierung gäbe, die von ihm unmittelbar abhängig wäre. Es gibt auch schon seit längerem EU-Parlamentsfraktionen die sich aus verschiedensten Gruppierungen zusammensetzen, so dass davon auszugehen ist, dass auch weniger als 5 Abgeordnete aus Deutschland eine EU-Fraktion fänden, der sie sich anschließen könnten. Nach all dem tragen die Gründe der damaligen Entscheidung heute nicht mehr. Das Bundesverfassungsgericht hat 2008, in seinem Urteil zur Aufhebung der 5% Hürde im Schleswig-Holsteinischen Kommunalwahlrecht (- 2 BvK 1/07 -), betont, dass das Wahlrecht vor dem Hintergrund der jeweiligen tatsächlichen Situation beurteilt werden muss und die 5% Hürde stets einer besonderen Rechtfertigung bedarf. Diese ist für die Europawahl heute nicht mehr vorhanden. Der Bundestag sollte seine Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen und die wahrscheinlich verfassungswidrige Vorschrift aufheben, ohne sich, im Rahmen eines Wahlprüfungsverfahrens nach der Europawahl, erneut aus Karlsruhe eines Besseren belehren lassen zu müssen. Schließlich ist es, angesichts der laut Umfragen steigenden Demokratieverdrossenheit der Deutschen, auch politisch sinnvoll mit der Abschaffung der 5% Hürde zumindest für die Europawahl belebende Elemente einzuführen.“ (Pet 1-16-06-1110- 054812)

Dieser so erstmals von Strack vertretenen Argumentation sollte sich knapp 3 Jahre später das Bundesverfassungsgericht unter Vorsitz von Andreas Voßkuhle in allen Punkten anschließen und weitere ergänzen.

Aber zunächst wurde Stracks Petition 2009 vom Petitionsausschuss des Bundestags bis nach der Europawahl liegen gelassen und 2 Jahre später, am 14.04.2011, das Verfahren abgeschlossen, ohne dem Anliegen zu entsprechen. Zu diesem Zeitpunkt konnte der Petitionsausschuss einfach auf die einstimmig vom Bundestag bestätigte Beschlussempfehlung seines Wahlprüfungsausschusses verweisen, der die zwischenzeitig eingelegten Wahleinsprüche von Guido Strack und 9 weiteren Beschwerdeführern mit der Feststellung zurückgewiesen hatte „dass die Vorschrift des § 2 Abs. 7 Europawahlgesetz (EuWG) verfassungsgemäß ist.“ (Drucksache 17/2200)

Dabei drehte der Bundestag einfach die Argumentation der Petenten und Beschwerdeführer um. „Angesichts der in den Petitionen zutreffend dargelegten Entwicklung der Anzahl der im Europäischen Parlament vertretenen Parteien sah der Wahlprüfungsausschuss die vom Bundesverfassungsgericht bereits 1979 deutlich angesprochene Gefahr der Zersplitterung heute noch als verstärkt an“ und hielt es somit „für geboten, dieser Zersplitterung im Rahmen des dem deutschen Gesetzgeber Möglichen entgegenzuwirken.“

Aufgrund dieser Abweisung riefen Guido Strack und danach 2 weitere Beschwerdeführer das Bundesverfassungsgericht mit in etwa gleichen Wahlprüfungsbeschwerden an, welches am 09. November 2011 das Demokratieprinzip verteidigte, indem es die 5 % im deutschen Europawahlgesetz für nichtig erklärte.

Diese Runde ging an den Whistleblower und seine Mitstreiter. Ebenso die nächste, denn der Bundestag hatte nichts Eiligeres zu tun, als das nichtige Gesetz mit der 5 % Hürde durch das nächste nichtige Gesetz mit einer 3 % Hürde zu ersetzen – mit Sicherheit ahnend, dass es nach einer Wahlprüfungsbeschwerde zwar wieder kassiert würde, aber das Wahlergebnis trotzdem erneut unangetastet bleibe, was sich dann nötigenfalls alle 5 Jahre wiederholen ließe.

Doch darauf wollte niemand warten. Neben einjährigen Verfassungsbeschwerden von Wähler:innen gingen beim höchsten Gericht noch vor der Wahl 2014 Organklagen von 17 schon in den Startlöchern für Europa stehenden Kleinparteien ein, darunter die Freien Wähler, die Piraten, die Familien-Partei Deutschland und Die PARTEI von Martin Sonneborn, aber auch die NPD. Andreas Voßkuhle verband diese Verfahren und brachte mit dem 2. Senat am 26. Februar 2014 schließlich auch die 3 % Hürde zu Fall.

Danach kam es, wie es kommen musste: 2014 zogen aus Deutschland erstmals 8 Parteien mit weniger als 5 Mandaten ins Europaparlament ein, die 5 gerade erwähnten obsiegenden Kläger in den Organstreitverfahren sowie die ÖDP, die Tierschutzpartei und die FDP, die in dieser Zeit nicht im Bundestag und in fast keinem Landtag mehr war und in Europa nur 3 Sitze erhielt. Die Liberalen wären auch aus diesem Parlament geflogen, hätten nicht Guido Strack und andere zuvor erfolgreich die alte 5 % Hürde angefochten, die auch die Freien Demokraten am letzten Donnerstag auf dem Umweg über die EU für Deutschland abgeschwächt wieder beschlossen haben.

Den Plan dazu entwickelten Günther Nonnenmacher und Frank Walter Steinmeier in einem am 30. Mai 2014 veröffentlichten FAZ-Interview gleich nach der Europawahl.

Nonnenmacher leitete diesen Plan mit einem Vorwurf an die Verfassungsrichter ein, den Steinmeier dann bereitwillig auswalzte:

Hierzulande haben neben der Alternative für Deutschland auch zum Teil bizarre Splitterparteien Mandate erhalten. Ist dies nicht eine Folge der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts?

Ich frage mich schon, ob es wirklich für alle Zeiten unzulässig sein soll, über eine Sperrklausel für das Europaparlament nachzudenken. Wenn Kandidaten und Parteien nur deshalb zur Wahl antreten, um sich am Tag danach über Wahl, Wähler und Politik lustig zu machen...

...Sie meinen Martin Sonneborns Satirepartei...

Das ist nicht die einzige Jux-Partei, wenn auch der Einzug etwa der NPD ins EU-Parlament politisch ungleich dramatischer ist. Aber auch Parteien, die sich am Tag nach der Wahl einen Spaß daraus machen, sich publikumswirksam zurückzuziehen, leisten keinen Beitrag zur Demokratie, eher das Gegenteil. Ich habe auch meine Zweifel, ob der Einzug kleinster monothematischer Gruppierungen ins Europaparlament die Repräsentativität der deutschen politischen Landschaft in Straßburg wirklich erhöht. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass das Bundesverfassungsgericht erst die Fünf- und dann auch die von uns vorgeschlagene Dreiprozentklausel verworfen hat.

Und dann lassen sie die Katze aus dem Sack, wie sich die deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung über die EU aushebeln lässt:

Ein Plädoyer für ein europäisches Wahlgesetz?

In der Tat! Wir brauchen eine europaweite Verständigung über Funktionen und Voraussetzungen eines Arbeitsparlaments. Wir können doch nicht sehenden Auges in fünf Jahren in dieselbe Situation hineinlaufen. Erst recht, wenn vorherzusehen ist, dass uns dann vorgehalten wird, das Europäische Parlament habe – angesichts Dutzender Splittergruppen – seine Arbeitsfähigkeit nicht unter Beweis gestellt. Wenn es über das nationale Recht nicht geht, dann wäre zu überlegen, ob man nicht auf europäischer Ebene ein Instrument mit Sperrklauselwirkung schaffen könnte.

Die Umsetzung des Plans ließ nicht lange auf sich warten. Noch vor der nächsten Europawahl beschloss der Rat am 13. Juli 2018 eine 2 %ige Mindestschwelle. Das gelang allerdings nur, weil diese Vorschrift in Artikel 3 Absatz 2 des EU-Direktwahlaktes so formuliert wurde, dass sie nur 2 von damals 28 Ländern betrifft: „Die Mitgliedstaaten, in denen eine Listenwahl stattfindet, legen für Wahlkreise, in denen es mehr als 35 Sitze gibt, eine Mindestschwelle für die Sitzvergabe fest.“ Um den Sinn dieser Einschränkung zu verstehen, muss man wissen, dass es Wahlkreise mit über 35 Sitzen nur in auf Spanien und Deutschland gibt und dass diese Formulierung anderen Ländern wie den liberalen Niederlanden zu verdanken ist, die nicht wollten, dass eine deutsche Umgehung von deren Verfassungsgericht für ihre Bürger Beschränkungen mit sich bringt. Allein Spanien war das relativ egal, weil dort Listenverbindungen zulässig sind, die jede Prozent-Hürde wirkungslos machen.

Weil sie überhaupt nicht betroffen sind, konnten die 25 anderen EU-Staaten bis auf Zypern die Änderung problemlos ratifizieren, Spanien und Deutschland aber fehlten bislang. Nach der Schlappe mit 3 % Hürde scheiterte die deutsche Ratifizierung bis Ende 2021 zunächst an den Grünen, weil sie die dafür notwendige verfassungsändernde 2/3-Mehrheit in Bundesrat und Bundestag nicht noch einmal ermöglichen wollten.

Das änderte sich mit dem Koalitionsvertrag der Ampel. Wie schon unter der Schröder-Regierung deutlich wurde, sind die Grünen, sobald sie im Bund mitregieren, zu fast allem bereit, was sie in der Opposition verhindert haben oder hätten, von Kriegseinsätzen der Bundeswehr über Demokratie- und Sozialabbau bis hin zu den in der Merkel-Ära noch von ihnen verteufelten Asylzentren an Außengrenzen.

Die Logik, der dieses Umsteuern der Grünen beim Eintritt in eine Regierung unbesehen der Inhalte folgt, legte für ihre Fraktion Chantal Kopf bei der 2. und 3. Lesung des deutschen Zustimmungsgesetzes offen: „Die alte Bundesregierung hat zugesagt, für ein Inkrafttreten zu sorgen, und als verlässlicher Partner in Europa stimmen wir dem heute zu.

Auch bei den Freien Demokraten herrschte in der Debatte tiefe Amnesie darüber, wie sehr der Wegfall der alten Sperrklausel das Comeback ihrer schon totgesagten Partei begünstigt hat, weil sie nur dadurch 2014 in das EP als fast einzigem Parlament nochmal einziehen konnten, in dem sie in dieser schwierigen Phase überhaupt noch vertreten waren. Statt dessen warb Valentin Abel für die Libreralen um Zustimmung zur Ratifizierung mit dem Argument einer vermeintlichen „Pflicht, in jedem Mitgliedstaat eine Sperrklausel einzuführen“, ohne zu ergänzen, dass diese Pflicht nur 2 von 27 Mitgliedsstaaten trifft.

Und um die „Verkehrte Welt“ auf die Spitze zu treiben, stimmten alle 4 (bzw. mit der CSU 5) „demokratischen Parteien“, wie sie sich selbst gern nennen, der Abschaffung demokratischer Vielfalt am Ende der Debatte zu, während einzig die manchmal vom Verfassungsschutz beobachteten Parteien Linke und AfD sich unter teilweise gegenseitigem Applaus als Hüter der Demokratie gerieren konnten.

Es wird sehr stark verschleiert, um was es eigentlich geht. SPD, Grüne, FDP und CDU/ CSU wollen die Kleinstparteien aus dem Europaparlament raushalten, sie wollen die Türen des Europaparlaments dichtmachen. Gemessen an der letzten Europawahl würde das bedeuten: 1,7 Millionen Wählerstimmen aus Deutschland kommen nicht mehr zur Geltung. Und das nennt Axel Schäfer ‚mehr Demokratie‘. Auf diese Idee muss man einmal kommen“, spottete Alexander Ulrich, um anschließend für die Linke nicht zu bekennen: „Ich bin auch froh, dass Kleinstparteien im Europaparlament vertreten sind. Was Sie hier machen, ist leider: Sie versündigen sich an einem demokratischeren Europa. Es ist schäbig und eines demokratischen Parlaments nicht würdig, dass man so mit Urteilen des Bundesverfassungsgerichts umgeht.

Ganz selbstlos ist dieses Bekenntnis zur demokratischen Rolle von Kleinstparteien wohl nicht. Denn die Linke ist auf dem besten Weg, selbst zu einer Kleinstpartei zu werden. Und wenn das von der Ampelkoalition vorbereitete neue Wahlgesetz kommt, könnte sie dadurch sogar den nächsten Einzug in den Bundestag verfehlen. Während die Linke die Risiken dieses geplanten Demokratieabbaus auf nationaler Ebene wohl mit vor Augen gehabt haben dürfte, scheint die davon ähnlich bedrohte Kleinpartei CSU hinsichtlich dieser Selbstgefährdung von einer ähnlichen Amnesie befallen zu sein wie die FDP – frei nach Martin Niemöller könnte das irgendwann bedeuten: „Als sie mich aussperrten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

Kaum verständlich war der vehemente Einsatz für Demokratie und Verfassung dagegen bei der AfD, denn die deutschen Rechtspopulisten wären aufgrund ihrer Beliebtheit beim Wahlvolk nicht nur nicht betroffen, sondern sogar die voraussichtlichen Gewinner der 1,7 Millionen Protestwählerstimmen, die jetzt noch bei den Kleinstparteien landen.

Wir erleben hier heute eine besondere Ausprägung des sogenannten Spiels über Bande, das der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog 2007 beschrieb. Herzog prangerte damals in einem Aufsatz die fortschreitende Regulierungswut der EU an, und er wies vor allem auf folgende Unsitte hin: Wenn eine Regelung national nicht durchzusetzen sei, würde nach einem diskreten Hinweis gen Brüssel eine entsprechende Regulierung gleich EU-weit eingeführt und so der nationale Gesetzgeber umgangen. Heute geht es nicht um die Umgehung des nationalen Gesetzgebers. Beim heutigen Spiel über Bande soll die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgehebelt werden“, eröffnete für die AfD der Kölner Jurist Jochen Haug seine Rede. Wüsste man nicht aus der brillanten Analyse des ehemaligen deutschen Jusos und heutigen Harvard Professors Yascha Mounk, dass Rechtspopulisten nur „vermeintlich zutiefst demokratisch“ sind, könnte man den im Konsens aller demokratischen Kräfte und vom Verfassungsschutz bekämpften Extremist:innen ihre neu Rolle als Verteidiger:in von Demokratie und Verfassung neben der Linken glatt abnehmen.

Angesichts der mit ähnlichen Argumenten und teilweise unter gegenseitigem Applaus agierenden Querfront zur Verteidigung der demokratischer Vielfalt blieb den Rednern der Ampel am Ende nur noch das Totschlag-Argument des Nationalismus-Vorwurfs, mit dem Dr. Anton Hofreiter von den Grünen in seiner Replik die Linke beharkte: „Ich glaube, man muss angesichts der jeweils nationalen Reden der AfD – wo es uns nicht wundert – und der Linken – die sich schon mal fragen sollte, ob sie hier die nationale Linke sein will – erst einmal klarstellen, was wir hier umsetzen.“

Ähnlich hatte schon Axel Schäfer für die SPD auf die Karlsruher Richter mit derselben Keule eingeprügelt. „Wir haben jetzt zehn Jahre lang die Erfahrung einer Renationalisierung bei unserem höchsten Gericht gemacht“, kritisierte der Bochumer. „Karlsruhe hat im Lissabon-Urteil 36-mal gesagt: nationale Souveränität. Sie alle wissen, dass dieser Begriff in unserer Verfassung nicht vorkommt.“ Und wie nebenbei kreierte Schäfer sogar einen Counter-Slogan gegen den „Wir sind das Volk“-Ruf der alten und neuen Montagsdemonstrationen, auf den die Volkskammer 1989 nicht gekommen war: „Wir sind die erste Gewalt.

Als doppelter Sieger ging am Ende wieder einmal die AfD aus der Debatte hervor. Sie konnte ihren demokratischen Anstrich aufpolieren, und die Stimmen der 1,7 Millionen Kleinstparteiwähler:innen werden ab 2029 wohl eher nicht bei den „demokratischen“ Parteien landen.

Um diese Entwicklung aufzuhalten und sich auch weiterhin als Alternative zur „Alternative für Deutschland“ anbieten zu dürfen, haben sich einige Kleinstparteien seit der Bundestagswahl noch einmal kräftig ins Zeug gelegt. Noch während der Koalitionsverhandlungen traten die 4 Europaabgeordneten Manuela Ripa (ÖDP), Patrick Breyer (Piratenpartei), Damian Boeselager (Volt) und Martin Sonneborn (Die PARTEI) im November 2021 mit ihrem Video-AppellTrau dich, Ampel!“ an die Öffentlichkeit, an dessen Ende Sonneborn „aus eigener Erfahrung“ versicherte, „dass die 'obskuren' Kleinparteien aus Deutschland hier noch zu den seriösesten Vertretern gehören.“

Leider hatte dieses Video mit nur beispielsweise 6.600 Facebook-Views auf der Seite von Manuela Ripa nicht den durchschlagenden viralen Erfolg. Auch das im Folgejahr von der ÖDP zusammen mit rund 15 anderen Kleinparteien in Münster gegründete Bündnis „Forum demokratische Vielfalt“ (FdV) schaffte es bisher nur in die Münsteraner Lokalseiten, was auch daran liegen kann, dass keine Politprofis in den Vorstand gewählt wurden und die Piraten, Volt und Sonneborns Partei zwar beim vorbereitenden Kongress Interesse bekundeten, bei der Gründungsversammlung aber keine Mitglieder wurden.

Zuletzt blieb auch am 19. Juni 2023 bei der Pressekonferenz des Viererbündnisses aus ÖDP, Piraten, Volt und Martin Sonneborns PARTEI die ihm zu gönnende öffentliche Resonanz aus. Für die überregionalen Leitmedien berichtete einzig Robert Roßmann von der SZ, der noch 2014 in freier Anknüpfung an Frank Walter Steinmeiers Kritik Sonneborns Einzug ins EP aus mathematischen Gründen als undemokratisch gegeißelt hatte. Nicht einmal Sonneborns früherer öffentlich-rechtlicher Sender, in dessen beliebter Infotainment-Satire „heute-show“ er bis 2014 auftrat und wo sein inzwischen ausgetretener Parteifreund und Parlamentskollege Nico Semsrott sogar bis 2019 dabei war, maß dem Thema offenbar keine einschaltquotengenerierende Relevanz bei.

Das könnte sich ändern, wenn das Bundesverfassungsgericht die Konsequenz und Ausdauer besitzen sollte, nach der 5- und der 3- nun auch die 2-Prozent-Hürde zu Fall zu bringen. Die von den Kleinparteien beauftragten Juristen, unter denen sich ein für die Wiederholung der Berlin-Wahl maßgeblich verantwortlicher Anwalt befindet, haben ihre Schriftsätze fertig und sie teilweise sogar schon dem Bundestagspräsidium als im Organstreit ggf. zu verklagenden Gegner vorab zugestellt, was das Verfassungsgericht für gewöhnlich im Vorfeld einer Klage aus Gründen der Fairness positiv wertet.

Trotzdem ist dieses „Wenn“ diesmal ein echtes „Wenn“. Denn heute ist nicht mehr Andreas Voßkuhle Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, sondern Stephan Harbarth, der 2013 als Mitglied im Rechtsausschusses und der CDU/CSU-Fraktion für die verfassungswidrige 3-Prozent-Hürde gestimmt hat.

(Der - parteilose - Verfasser war am 24.09.2022 als Delegierter der Mietpartei Mitbegründer des im Beitrag erwähnten Parteienbündnisses „Forum demokratische Vielfalt“ und wurde in dessen Schlichtungskommission gewählt.)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

ChristianBerlin-RevivalBlog

Jetzt 66 und Pfarrer im Ruhestand, Ex-Journalist u. Ex-FreitagsBlogger "ChristianBerlin"

ChristianBerlin-RevivalBlog