Bertolt Brechts Popularität liegt paradoxerweise in seiner Brutalität, unpopuläre Dinge auszusprechen. Der Mensch ist gut und möchte gern in Frieden und Eintracht leben? Diese naive Weltsicht konterte er mit dem schlichten Satz: „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!“ In dieser Manier als Krisenprofiteur hat ihn Sahra Wagenknecht erfolgreich beerbt und der Vorstand der Partei Die Linke schaut verblüfft zu und fragt, ob sie das darf.
Falsche Frage, die auch niemanden interessiert. Nun aber hat die notorisch blasse Linke-Parteispitze, angesichts von real werdenden Gegen-Parteigründungsplänen, Sahra Wagenknecht aufgefordert, ihr Bundestagsmandat zurückzugeben. Doch warum sollte sie das tun, wo es doch keine juristische Handhabe daf
habe dafür gibt? Aber Moral gibt es schließlich und auf diese pocht der Vorstand. Auch über Moral unterrichte man sich besser bei Brecht.Wenn das Spaltungsszenario eintritt, dann lässt die in den Medien omnipräsente Sahra Wagenknecht den Parteivorstand nicht nur im Dunkeln stehen, es kommt noch schlimmer: Die ohnehin nur durch die Sonderklausel dreier Direktmandate in den Bundestag gekommene 4,9-Prozent-Partei verlöre auch ihren Fraktionsstatus. Das wäre ein völliges Desaster – noch vor der nächsten Bundestagswahl.Aber statt – im eigenen Interesse – Brücken zu bauen, bekräftigt Jan Richter für den Parteivorstand im Gespräch mit dem Neuen Deutschland, man habe ein „Stoppsignal“ setzen müssen. Für wen eigentlich? Wie sieht der Plan nach dem immer wahrscheinlicher werdenden Auszug des Wagenknecht-Blocks aus der Linksfraktion aus? Richter: „Ich denke, wir sind deshalb als Parteivorstand angehalten, den daraus entstehenden Fliehkräften mit Sensibilität zu begegnen.“ Sensibilität „Fliehkräften“ gegenüber als letzte Rettung aus der Existenzkrise? Das klingt nach Kapitulation, nach dem Weg der Linken in die weitere Zersplitterung, sprich völlige Selbstzerstörung.Die Linke predigt offenbar nur noch zu Gleichgesinnten, aber macht keine offensive Politik mehr, was hieße, mittels überzeugender Argumente Menschen mit anderen Positionen für sich einzunehmen. Nun, da das langjährige Sprachrohr des Ostens, Gregor Gysi, offenbar keine Lust auf inner- und außerparteiliche Auseinandersetzungen mehr hat, will man auch endgültig mit Sahra Wagenknecht brechen, der man ihre Medienpräsenz neidet? Als diese vor gut zwanzig Jahren mit der „Kommunistischen Plattform“ in der PDS für Furore sorgte, deren einstige Mitglieder heute zum Großteil ausgestorben sind, war der Polit-Shootingstar Wagenknecht geboren. Sie wusste, wie man in der Politik Erfolg haben kann: Provoziere den Mainstream, aber auf eine Weise, dass es nicht ausgeschlossen ist, einmal zu ihm zu gehören. Die anderen verbleiben für immer im Dunkel der Gremienarbeit.Ausbürgerung Wolf BiermannsIch denke bei dem sich anbahnenden Linkspartei-Crash an die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR im November 1976. Auch diese war die fatale Auslagerung eines hausgemachten Widerspruchs. Mit ihr begann die Untergangsphase für die DDR. Denn die letzten eigenständigen Köpfe hielten es inmitten der SED-Ideologiewüste nicht länger aus, stellten einen Ausreiseantrag oder zogen sich in Nischen zurück.Gibt es eigentlich auch heute noch kluge Köpfe in dieser offenbar von allen guten Geistern verlassenen Partei? Einige schon. Bereits in den späten achtziger Jahren begannen etwa die Brüder André und Michael Brie von der Perestroika beflügelt die akademischen Kreise der Humboldt-Universität mit ihrem Reformprojekt eines demokratischen Sozialismus in Bewegung zu setzen. Das war die Keimzelle der späteren PDS, die antrat, die Trümmer des Stalinismus beiseitezuräumen und zugleich in dieser tristen Vergangenheit nach etwas – wie Walter Benjamin sagt – „an Zukunft voreilig Begrabenem“ zu suchen.Ein dialektischer Blick auf die eigene Geschichte, der jedoch bald nicht mehr gefragt war. Nach der Vereinigung der PDS mit der WASG (einer Wahlinitiative westlinker Splittergruppen) wurden die Ostintellektuellen auch hier an den Rand gedrängt. Der Erfahrungshintergrund Ost erwies sich der Mentalität West gegenüber als fremd; der Umgang mit Russland und der NATO ließ diese andauernde Fremdheit nur eskalieren. Die Westlinken verblieben mehrheitlich in ihrem aktionistischen Habitus samt moralisierender Verschlagwortung komplexer Themen, die Ostlinken sahen sich weitgehend als Nachlassverwalter einer bankrotten Staatspartei. Viel Gemeinsamkeit ist da erst einmal nicht. Dennoch wurde die Linke in Ost und West eine Zeit lang viel gewählt. Das scheint nun vorbei – die Grünen als Regierungspartei auf der einen und die AfD als Protestpartei auf der anderen Seite, marginalisieren sie.Platz für linke PolitikAuswege finden, hieße Ursachen erkennen, warum die Linke für Wähler offenbar keine ernsthafte Alternative mehr ist – und das, obwohl, wie Stefan Reinecke in der taz schrieb, dies eigentlich eine „für Linke günstige Zeit“ sei. Die Tücke steckt im Wörtchen „eigentlich“ – und das sind die handelnden Personen. Der Philosoph Michael Brie, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung, schrieb schon Ende des vorigen Jahres: „Das unendliche Wagenknecht-Bashing vernebelt das eigentliche Problem mangelnder Ausstrahlung.“ Er kam im Neuen Deutschland zu einem der neuralgischen Punkte: „Migration ist nicht per se gut und klasse. Menschenrechtspolitik ist nicht abstrakt, sondern verlangt die Austragung der Widersprüche, die die herrschenden Verhältnisse schaffen.“ Es fehle schlicht der Respekt vor dem potenziellen Wähler und den ihn verunsichernden Themen. Wer aber die AfD-Protestwähler unterschiedslos als Faschisten beschimpft, braucht auf deren Stimme nicht zu zählen.Wenn man weiterhin bloß gut klingende Parolen in die Welt setzt, sich in abgehobene Gender- und Identitätspolitik verbeißt, statt dem Volk aufs Maul zu schauen, wird man außerhalb der Großstädte bald gar keine Wähler mehr haben; und in den urbanen Räumen besetzen längst Grüne, SPD und nun auch wieder die CDU das Feld. Kein Platz mehr für linke Politik? Doch, wenn man über den Sitzungstisch hinausblicken würde, dann könnte man ihn erkennen. Etwa in der Forderung nach mehr direkter Demokratie – Regierungsparteien ist hier der Weg versperrt. Oder in der Formulierung einer wahrnehmbaren regierungskritischen Friedensinitiative.Vielleicht sollten linke Politiker mal wieder Empört euch! von 2010 lesen, die Flugschrift des damals 93-jährigen ehemaligen Résistance-Kämpfers Stéphane Hessel. Er schreibt: „Das Grundmotiv der Résistance war die Empörung.“ Denn ohne Massenimpulse aufzunehmen, braucht man erst gar nicht anzufangen, Politik für Massen zu machen. Den „Wutbürger“ als Karikatur dieser Empörung zum Feindbild gemacht zu haben, ist eine weitere Grundtorheit der Linken.Placeholder infobox-1