Stefan Heyms Buch „5 Tage im Juni“: Auf dem Index der DDR
Zeitgeschichte Stefan Heym schildert in „5 Tage im Juni“, wie in Ostberlin ein Gewerkschafter und ein Dreher durch den 17. Juni 1953 schrammen. Er bedient zwar das DDR-Narrativ vom „konterrevolutionären Putsch“, benennt aber auch Fehler der SED
Wenn schon Reis, Butter und Zigaretten nicht mehr zu retten sind, dann wenigstens ein Teil des Sektorenbegrenzungsschilds
Foto: Ullstein Bild
Nichts kann Martin Witte mehr aufhalten. Arbeiter strömen aus den Hallen sieben und neun, wollen zum Werktor, hinaus aus dem Betrieb. So sehr er auch auf sie einredet, sie bittet und beschwört, an ihre Werkbänke zurückzukehren – umso mehr lassen sie ihn zurück. Es ist eine Schlüsselszene in Stefan Heyms (1913 – 2001) Roman 5 Tage im Juni.
Arbeiter aus dem VEB Merkur tief im Osten Berlins ziehen am frühen Morgen des 17. Juni 1953 zum Tor hinaus. Wohin genau, wissen sie nicht, wofür und wogegen schon. Brüder, zur Sonne, zur Freiheit wird angestimmt, das Lied hängt schräg und zerknittert in der Luft wie lange nicht entrolltes Fahnentuch. Martin Witte, Chef der Betriebsgewerkschaftsleitung, wird überrannt, überrollt
;berrannt, überrollt – überwunden? Das Tor sollte eine letzte Verteidigungslinie sein zwischen Alltag und Streik, Normalität und Aufruhr. Witte kann sie nicht halten. Falls das einem möglich gewesen wäre, dann ihm. Er hat kommen sehen, was passiert, wenn Arbeiter in einem Arbeiterstaat von einer Arbeiterregierung (die darauf besteht, eine zu sein) nicht gehört werden. Die deshalb beginnen, abzuschreiben, was sie schließlich ganz abschaffen wollen. Als Witte die Parteileitung im Betrieb davor warnt, sich an ihre Ignoranz zu klammern und falsche Beschlüsse zu verteidigen, erteilt die ihm Hausverbot. Jetzt steht er allein auf der leeren Werkstraße.Stefan Heym setzt der maßgeblichen Figur seiner authentisch-fiktiven Chronik über die letzten Tage vor dem 17. Juni 1953 kein Denkmal. Er schildert einen überzeugten Sozialisten, der nicht verzweifelt oder resigniert, als ihn die eigenen Genossen rauswerfen, sondern ins Dampfbad geht. Witte passt nicht ins Bild und rundet es ab. Wie berauschend das Bewusstsein für Leute wie ihn, als der Krieg vorbei ist und die Nazis geschlagen sind. Wie ernüchternd die Zeit danach. Was war wirklich gewonnen? Auf Dauer und im ärmeren Teil Deutschlands unter einer Besatzungsmacht, die kaum zur Werbung für den Sozialismus taugt? Revolution zwischen Utopie und Realität.Es gab sie häufiger als heute angenommen oder zugestanden – die quälende, schonungslose, eigenes Verständnis berührende oder erschütternde Selbstbefragung von Menschen, die in der DDR ihren Staat sahen und um ihn fürchteten. Viele übernahmen Verantwortung, ohne übermäßig exponiert zu sein. Seit es die DDR nicht mehr gibt, werden sie mit dem Stigma „Funktionär“ versehen und als Handlanger eines skrupellosen Regimes geächtet, dem der Osten ausgeliefert war, als sei der Sozialismus dort nur ertragen und nicht mitgetragen worden. Im 1964/65 gedrehten, aber erst 1987 vollendeten Spielfilm Berlin um die Ecke (Regie: Gerhard Klein) fragt der später von einem jungen Arbeiter zusammengeschlagene Betriebszeitungsredakteur Ali Hütte, ein alter Gewerkschafter, den Parteisekretär seines Betriebes: „Denkst du nie, dass das alles noch mal verloren gehen könnte?“ Hütte meint die DDR, ihre Existenz, ihre Zukunftsgewissheit. Der Angesprochene nimmt sich Zeit für das Anzünden einer Zigarette und schaut dem blauen Dunst hinterher: „Nein, niemals.“Wie HeiligeAls könnte nie verspielt sein, was schnell zu entgleiten droht, weil unversöhnliche Feinde wissen, was sie wollen. Im Film Jadup und Boel, von Rainer Simon 1981 für die DEFA inszeniert, sitzen die Genossen einer SED-Kreisleitung in wodkaschwerer Abendrunde ratlos rätselnd beisammen. Sie fänden gern mehr Rückhalt in der Bevölkerung. Sie wüssten gern, woran es liegt. „Wir laufen unter den Leuten rum wie Heilige“, murmelt einer, die Hand am Samowar, um heißes Wasser auf den Teesud zu lassen, „wie Heilige, die mit der Unschuld des Bewusstseins geboren sind und sie nie verloren haben. Und wir tun auch noch so, als hätten wir keinen blassen Schimmer davon, dass die Leute es natürlich besser wissen ...“Bei Stefan Heym hat Martin Witte diese „Unschuld“ früh verloren. Vor 1933 KPD-Mitglied, nach 1933 Jahre im KZ, ab 1945 wieder KPD, dann SED, wird er zunächst als Landrat in den Norden geschickt, danach in die Gewerkschaftsleitung des VEB Merkur. Ein Metallbetrieb inmitten grauer Lagerschuppen und verkommener Wohnhäuser, durch Luftminen und Verfall gezeichnet von oben bis unten. Was in den Werkhallen an Maschinen läuft, ist aus Trümmern geborgen und gerettet. Auch der Dreher August Kallmann zerrte und zog, was ihm unter die Hände kam. „Deins“, hatte ein sowjetischer Offizier gesagt, mit dem Kopf auf im Schutt verkeilte Drehbänke und Transformatoren gewiesen. „Alles deins.“ Und Kallmann erinnerte sich der eisernen Gewissheit seines Vater, wenn erst genug Arbeitergroschen und Arbeiterstimmen zusammenkämen, sei der Sozialismus nicht mehr aufzuhalten. War es so weit, wenn zu den Groschen die Maschinen kamen? „Alles deins.“Ihr habt uns Arbeiter vergessen, beklagt sich Kallmann, betrunken und besorgt, nach einem Betriebsfest bei Witte, der das längst weiß. Er beobachtet mit nüchternem Verstand, wie im Frühsommer 1953 der Groll gegen Normerhöhungen in eine unversöhnliche, aggressive Stimmung umschlägt. „Vielleicht steckst du dir auch noch ’nen Besenstiel hinten rein und wackelst mit dem Arsch bei der Arbeit; das fegt den Fußboden“, reizt steigender Arbeitsdruck im VEB Merkur zu bitterem Fluch.So sitzt August Kallmann, der nicht anders kann, auch wenn er das wollte, bei fetttriefendem Eisbein und perlendem Bier in einem Lokal hinterm Kurfürstendamm. Eingeladen hat ihn der Genosse Quelle vom Ostbüro der SPD in Westberlin. Gebraucht werden Wort- und Streikführer im Osten. Sie sollen sich bereithalten für den „Tag X“, die Stunde der Abrechnung, wenn auch Gewalt kein Tabu sein darf. Was nach dem „Tag X“ aus seinem volkseigenen Betrieb werde, fragt Kallmann, und Quelle antwortet. „Das entscheidet ihr selber durch freie, geheime, demokratische Wahlen.“ So soll es sein, so wird es sein. Falls noch nicht 1953, so doch Mitte März 1990, als es besonders Arbeiter sind, die mit der DDR ihre Betriebe und Arbeitsplätze abwählen. Und Arbeitergroschen gegen große Münze tauschen. „Alles deins.“ Wozu behalten, was man nie besessen hat? Oder nie haben wollte.Zu Lebzeiten der DDR stand Stefan Heyms unmittelbar nach dem 17. Juni verfasster Roman auf dem Index. Es blieb dem Autor verwehrt, die Leser zu finden, um die es ihm ging, die Beteiligten und Betroffenen jenes verwirrenden Tages. Heym folgt dem Gang der Ereignisse vom 13. Juni 1953, einem Samstag, bis zum Abend des 17. Juni, einem Mittwoch, als die Würfel gefallen sind – für den Erhalt der DDR und zu ihrem Nachteil, sollte sie einem Beben wie diesem künftig noch weniger gewachsen sein. „Wir haben eine Niederlage erlitten und einen Sieg, beides“, urteilt Martin Witte. Urteilt Stefan Heym, dessen Buch in vielem das offizielle DDR-Narrativ vom „konterrevolutionären Putsch“ bedient, der von Westberlin aus vorangetrieben wird und auf geistigen Zulauf durch den acht Jahre nach der NS-Diktatur in den Köpfen gärenden Antikommunismus rechnen kann. Doch lässt Heym gleichfalls keinen Zweifel, wie sehr die SED dem Irrglauben verfiel, Macht zu sichern, indem sie dem Volk misstraute, statt das Volk zu gewinnen.Witte ist „ein gefährlicher Mann“, sollte er nicht wegen Missachtung der Parteibeschlüsse von seinesgleichen kaltgestellt werde, müsse man das selbst tun, so die Order aus Westberlin an den Arbeiter Gadebusch, einen der Verschwörer im VEB Merkur, den die Geschehnisse nicht mitreißen. Der will sie selbst in der Hand haben. Am Vormittag des 17. Juni schickt Gadebusch seinen Kumpan Pietrzuch mit einer Pistole im Ärmel ins Studio des Betriebsfunks. Dort wird Witte vermutet, doch ein anderer hält die Stellung und will nicht weichen. „Ein Schuss. Ohne Echo.“ Es bleibt „die Saat von Zähnen und Knochensplittern in der dunkelroten Masse zerfetzten Fleischs, das kurz zuvor noch ein Gesicht gewesen war“. Wer wusste, dass Martin Witte um diese Zeit über den Betriebsfunk zu den Kollegen sprechen wollte, die nicht streikten?Der Dreher August Kallmann hat von alldem keine Ahnung. Noch führt er die Marschierer aus dem VEB Merkur Richtung Innenstadt. Es geht durch einen Wolkenbruch, der sie heimsucht wie das Jüngste Gericht. Die Reihen lichten sich, Streit brandet auf – vorwärts oder zurück? Aber was heißt das schon? Zurück ins Werk oder vorwärts ins Werk? Die Männer passieren ein geplündertes Geschäft für Lebensmittel. Das Bild von Karl Marx steht unversehrt in der Auslage hinter gesplittertem Glas. Wenn schon Reis, Butter und Zigaretten nicht mehr zu retten sind, dann wenigstens das Bild, denkt Kallmann.„Deins?“, könnte ihn der Offizier aus dem sowjetischen Panzer fragen, der stoppt, weil Kallmann mitten auf der Straße sitzt und zum Bürgersteig geführt werden muss. Einer, der sich mit einem Marx-Bild unterm Arm verlaufen hat. „Sind Sie – Kunstmaler?“, fragt der Offizier noch und steigt wieder auf seinen Panzer.