Die Falle der Skandalisierung

Ungleichheitsdebatte Trommeln gehöre zum Geschäft, heißt es. Das dient der Sache allerdings nicht immer. Zur merkwürdigen Diskussion über Ungleichheit.

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Medien überspitzen. Ja, Medien konstruieren und verzerren die Realität, die abzubilden sie vorgeben. Wissen wir. Daraus entstehen dann wieder Realitäten. Siehe Jan Böhmermann. Dass es aber anders eben auch nicht geht, dass diese Zuspitzung zum Diskurs gehört, wissen wir auch. Das Dilemma ist das gleiche, wie das, das Borges in seiner berühmten Erzählung „Von der Strenge der Wissenschaft“ beschrieben hatte: in ihr berichtet er von einem Reich, in dem die Kunst der Kartographie eine Perfektion erreicht hat, so dass eine Karte entstehen konnte, „die genau die Größe des Reiches hatte und sich mit ihm an jedem Punkte deckte“. (1) Diese Karte hatte ihren Sinn verloren, weil sie zu genau war.
Um zu zeigen, dass es mit einfachen Wahrheiten und fetten Überschriften allein aber auch nicht getan ist, dass nicht nur richtig ist, was sich knackig formulieren lässt, werden in Zeitungen beispielsweise Serien lanciert, in denen zu einem Thema die verschiedenen Sichtweisen dargestellt werden. Doch auch dieses Vorgehen hat medientypische Tücken.

Deutschland driftet auseinander – oder doch nicht?

So hat die FAZ in den letzten Wochen einige Beiträge zum Thema der Ungleichheit veröffentlicht. Ausgelöst wurde die Debatte von einem Buch Marcel Fratzschers: „Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird.“ (2) Man kann verstehen, dass das Buch provoziert, schon allein, weil der Untertitel zwar sprachlicher Nonsens und wolkig, aber dafür verdammt suggestiv ist. Fratzscher, immerhin DIW-Chef, wird „skandalisierende Interpretationen selektiver Befunde“ (3) vorgeworfen, andere ärgert, dass „Wissenschaftler wie Fratzscher die Gesellschaft wider besseres Wissen schlechtreden und damit den Demagogen von links und rechts Futter geben.“ (4) Diskussion tut offensichtlich not, denn wegwischen lassen sich die Befürchtungen der auseinanderstrebenden Ressourcenverfügbarkeit nicht. So formuliert eine Studie unmissverständlich: „Deutschland driftet weiter auseinander.“ (5) Heinz Bude meint über ein Drittel der deutschen Wählerschaft: „Sie können die Geschichte vom ungeheuren Erfolg Deutschlands nicht mehr hören, weil für sie klar ist, dass sie die Leidtragenden des Erfolgs der anderen sind.“ (6) Dann wieder heißt es, die Statistik gebe es nicht her, dass immer mehr Menschen in prekäre Arbeitsverhältnisse gedrängt würden. (7) Auch andere Zeitungen haben sich an der Diskussion beteiligt. In der Süddeutschen heißt es einerseits, dass die Deutschen immer vermögender werden: „Es profitieren aber vor allem jene, die schon viel besitzen.“ (8) Andererseits liest man auch in der SZ, so dramatisch sei es nicht, Deutschland sei kein geteiltes Land. (3)
Das Erstaunliche ist, dass auch die, die sich gegen die Dramatisierung der Entwicklung wenden, wenig zur Beruhigung beitragen. Unter der Überschrift „Die Mär von der bröckelnden Mittelschicht“ steht eben auch zu lesen, dass die Chancengleichheit in Deutschland zu wünschen übrig lasse: „Unzureichende Bildungs- und Ausbildungsstrukturen werden uns gravierende Probleme bei der Integration der nach Deutschland geflüchteten Menschen machen.“(7) Der Beitrag mit dem Titel „Für arme Kinder wird viel getan“ zitiert einen „Verteilungsökonomen“, der meint, dass sich die Situation verschärfe. (9) Clemens Fuest, scharfer Kritiker Fratzschers, konstatiert: „Die bestehende staatliche Förderung der Altersersparnis ist grundlegend falsch konstruiert. Sie kommt vor allem Haushalten mit mittleren und höheren Einkommen zugute und steigert die Ungleichheit.“ (10) Solche Äußerungen findet man aber meist erst am Ende der Texte, die Hauptaussage scheint eine andere, und die lautet: Es ist nicht so schlimm, wie von Fratzscher behauptet.

Ernste Probleme scheinen harmlos

Und nun? Nun ergibt sich ein reichlich paradoxes Bild. Wir haben eine Diskussion, die durch Übertreibungen erst angestoßen wurde – das mag Fratzscher bewogen haben, auf Ausgewogenheit zu verzichten. Die langfristigen Gefahren und Entwicklungen, so könnte die Befürchtung gewesen sein, könnten nicht ausreichend ernst genommen werden. Nun aber hat die Dramatisierung das Thema zwar für die Zeitungen interessant gemacht – um aber dort, zumindest auf den ersten Blick, harmloser gemacht zu werden, als es ist. Eine Reihe von Experten mühte sich, eine teilweise einseitige und fragwürdig interpretierten Faktenmelange auseinander zu dividieren. Und dennoch bestätigen am Ende gerade jene, die Fratzscher widersprechen, die beunruhigenden Aussichten auf eine Gesellschaft, in der die Ressourcen und Chancen ungleich verteilt sind – was aber in den Hintergrund tritt, weil erst einmal viel zu dramatische Behauptungen widerlegt werden mussten. Fratzscher könnte also das Gegenteil von dem erreicht haben, was er wollte – anstatt auf Gefahren aufmerksam gemacht zu haben, scheinen sie nun nicht harmlos zu sein; unter anderem, weil in der Diskussion stets die Vergleiche mit anderen Ländern gezogen werden. Mag sein, dass es bei uns nicht oder nicht viel schlechter als in anderen Industrienationen ist. Deswegen ist es aber nicht gut. Gesellschaft und Politik sind gefordert: „Aber all das sind keine Entwicklungen, denen wir im Rahmen einer unaufhaltsamen Globalisierung hilflos ausgeliefert wären. Wir müssen nur wollen und mehr Chancengleichheit durch geeignete Strukturen tatsächlich verwirklichen“, so Gert G. Wagner, Fratzschers Kollege im DIW-Vorstand. (7) Ein Blick auf den Wohnungsmarkt zeigt auch, dass die Frage der Ungleichheit wahrlich keine Bagatelle und dabei eine ist, die einen nicht unerheblichen Anteil daran hat, wie es sich anfühlt, zum Drittel derer zu gehören, die die Leidtragenden der Erfolge anderer sind. Hier geht es nicht mehr nur um die Interpretation von Wirtschaftsdaten, sondern um konkrete Verantwortung im Umgang mit Ungleichheit. Dieses Thema wird sich in den kommenden Jahren nicht erledigen. Damit es wirklich ernst genommen wird, sollten wir es, das zeigt der Fall Fratzschner, nicht dramatisieren.

(1) Jorge Luis Borges: Von der Strenge der Wissenschaft. In: ders.: Borges und ich. In: Gesammelte Werke. Band 6, Carl Hanser Verlag, München 1982

(2) M. Fratzscher: Verteilungskampf. Carl Hanser Verlag, München, 2016

(3) Michael Hüther: Deutschland ist kein geteiltes Land. Süddeutsche Zeitung vom 13. April 2016

(4) Jan Hauser: Ungleicheit ist unverzichtbar. FAZ vom 3. April 2016

(5) Joachim Albrech, Philipp Fink, Heinrich Tiemann: Ungleiches Deutschland: Sozioökonomischer Disparitätenbericht 2015. Friedrich Ebert-Stiftung, Bonn 2016

(6) Heinz Bude: Die neue soziale Spaltung. FAZ vom 15. April 2016

(7) Gert G. Wagner: Die Mär von der bröckelnden Mittelschicht. FAS vom 3. April 2016.

(8) Markus Zydra: Wer hat, dem wird gegeben. Süddeutsche Zeitung vom 21. März 2016

(9) Philipp Krohn: Für arme Kinder wird viel getan. FAZ vom 31. März 2016.
Der Zusatz zur Überschrift „– aber nicht genug“ findet sich nur in der Online-Version

(10) Clemens Fuest: Zehn Thesen zur Ungleicheitsdebatte. FAZ vom 22. Februar 2016

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christian Holl

Freier Autor, Kritiker und Kurator in den Bereichen Architektur, Architekturtheorie und Städtebau.

Christian Holl

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