Es hilft kein großer Wurf

IBA Thüringen Stadt und Land sind die kategorialen Typen, an denen man die Qualität eines Ortes misst. Das reproduziert aber die Probleme, die in Stadt und Land auszumachen sind

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Es hilft kein großer Wurf

Bild: Presse

Ende des vergangenen Jahres ist in der Rubrik „Wissen“ der Süddeutschen Zeitung ein Bericht über die moderne Weinproduktion erschienen: „Château Molekül“. In diesem Beitrag steckt sehr viel Information über die Entwicklung des ländlichen Raums. Und darüber, was eine produktive Diskussion über diese Entwicklung so schwer macht: „Man hat als Weintrinker ja eine verquer-romantische Vorstellung vom Winzerwesen, die sich aus Landschaftsbildern zusammensetzt, die mit Weichzeichner im Gegenlicht aufgenommen wurden. Der Winzer aus diesen Fantasien könnte auch als Hauptdarsteller in französischen Wohlfühlkomödien auftreten. Um seinen Wein zu komponieren, lauscht er in den Boden, spürt der Natur nach und lässt sich von keinen Moden verbiegen. Etwa so. Erntemaschinen, Infrarotspektroskopie und Edelstahlwaagen passen leider nicht in diese so verklärten Vorstellungen vom glücklichen Winzer.“ Abstrakter formuliert heißt das: technischer Fortschritt, der Druck eines globalisierten Marktes und die Erwartungshaltung der Konsumenten haben mit dem weit verbreiteten Bild des Dorf- und Landlebens nichts mehr gemein. Auch wer vom Ausstieg und von der Selbstversorgung, ob auf dem Land oder sonstwo träumt, stößt auf Grenzen. Und nicht nur auf emotionale, weil auch mal Ratten getötet und Tiere geschlachtet werden müssen. „Die zur Verfügung stehende Zeit ist das eigentliche Nadelöhr der Selbstversorgung. Das Idealziel wäre eine hundertprozentige Unabhängigkeit von Einkäufen im Supermarkt – eine Utopie. Denn das würde bedeuten, täglich rund 10 Stunden Arbeitszeit für jede zu versorgende Person zu investieren“, so das Ehepaar Wohlleben in „Meine kleine Farm“.

Schleichende Veränderung, starre Vorstellungen

Wer einen Sonntagsspaziergang mal nicht in ausgewählten Naturschutzgebieten, sondern durch die Felder macht, auf denen konventionell und so produziert wird, damit wir nicht zehn Stunden pro Tag für die Selbstversorgung aufbringen müssen, der weiß, wovon die Rede ist: Davon, dass die Realität des Landes mit der Vorstellung von ihm nicht kompatibel ist. Das wissen wir, und dennoch tut sich wenig, was einer besonderen Verdrängungsleistung des Gehirns, um es vorsichtig positiv zu formulieren zu verdanken sein könnte, etwa, weil die Enklaven der selig machenden Landidylle uns vorgauckeln, dass es anders ginge, wenn man einfach mal wirklich nur genug wollten. Diese Enklaven sind nur noch Bilder in dem Sinne, dass sie Abwesendem eine Präsenz verleihen. Dadurch wird das Abwesende aber nicht anwesend.

Die Schizophrenie ist permanent zu greifen, insbesondere in den Häusern, die ein Glück versprechen, das einer Vorstellung von Produktionszusammenhängen aufsitzt, die es schon lange nicht mehr gibt, nämlich der, dass die in einem Ort mehr oder weniger zufällig zusammengekommene Gemeinschaft eine Versorgergemeinschaft wäre. Merkwürdigerweise hat sich daran vor allem nicht ändern können, dass wir neue Begriffe gefunden haben, die sich vom Entweder-Oder aus Stadt oder Land lösen: selbst wenn wir wissen, dass es dieses „Stadt oder Land“ schon lange nicht mehr gibt, werden die Qualitäten mit Begriffen beschrieben, die einem der beiden zugeordnet werden können.

Gerade weil die Probleme sich nicht wie im letzten Jahr das der Flüchtlinge in einer radikalen, sondern einer schleichenden Veränderung entwickeln, bleiben sie unter dem Radar der Wahrnehmung, meist so lange, bis es sehr oder zu spät ist. Zu spät heißt hier vor allem, dass die durch Abwarten entstandenen Sachzwänge so groß geworden sind, dass sie politische Diskussion über Handlungsoptionen ausschließt.

Von Stadt-Land bis Stadland

Vor mehr als hundert Jahren hat Ebenezer Howard in seinem berühmten und folgenreichen Buch „Garden Cities of Tomorrow“ die Kategorie „Stadt-Land“ („Town-Country“ entwickelt, als einer der drei Magneten, der eine stärkere Kraft als die Stadt und das Land entwickeln sollte. Das „Stadt-Land“ sollte Vorteile beider verbinden, ohne deren Nachteile aufzuweisen. In gewisser Weise ist diese Vision Realität geworden, wenn auch kaum so, wie Howard sie sich vorgestellt hatte, gerade weil sich die Veränderungen meist schleichend vor sich gingen und deren Größenordnungen erst im Rückblick sichtbar werden: Stadt-Land wurde nie urban, unter anderem, weil sich die Mobilität anders entwickelt hat, als es sich Howard vorstellen konnte. Geblieben ist die Unsicherheit darüber, ob es einen neue Siedlungsform wird geben können, die positiv konnotiert ist. Die IBA Thüringen hat diesen Begriff, nun ohne Bindestrich übernommen: als IBA Stadtland will sie „den Wandel im regionalen Maßstab auf die Tagesordnung“ setzen. „In Hinblick auf die öffentlichen Dienste und Infrastrukturen betrachtet die IBA Thüringen die größeren und kleineren Städte weniger als Zentren, sondern vielmehr als vielfältig mit ihrem Umland vernetzte Zonen. So entsteht ein Handlungsraum, in dem die jeweils besten Potenziale und Kapitale für das STADTLAND von übermorgen entwickelt werden können“, wie es im Programm heißt. Auch wenn (vielleicht aber auch gerade weil) die aktuellen Schlagzeilen der Tageszeitungen anderes suggerieren, ist wenig dringender, als dass dieser Ansatz der IBA Thüringen Beachtung findet und zur Diskussion herausfordert, zur Diskussion über die Steuerungsinstrumente, über die Wirkungen der Infrastrukturinvestitionen ebenso wie über die Vorstellungen des Gebietstyps, der in den Blick genommen wird. Auf der Ebene in denen sich die Lebenswirklichkeiten der Menschen vollziehen, muss diskutiert werden – und die ist nie nur eine Innenstadt und nie nur das eine ländliche Dorf. Deswegen macht es so wenig Sinn, über ein Entweder-Oder zu diskutieren, was nur zur Folge hätte, dass weiter die Bilder produziert würden, die uns vorspielen, es könnte ein Lösung der Probleme auf dem Land durch die Rückkehr zu traditionellen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen geben. Und das Gegenbild, die flächendeckende fünf- bis achtgeschossige Blockbebauung hilft genausowenig. Das geht schon deswegen nicht geht, weil diese Vorstellungen weder präzise sind noch vollständig sind. Weder weiß man, welche Epoche genau wieder hergestellt werden sollte, noch will man auf bestimmte Formen des Komforts, der Versorgung und der Sicherheit verzichten. Auch nicht auf die Produktion von gutem Wein, der bezahlbar ist, weil Erntemaschinen, Infrarotspektroskopie und Edelstahlwaagen eingesetzt werden.

Segmentäre Transformationen

Die Vorstellung davon, was wir zukünftig zu erwarten haben, kann aber ebensowenig präzise sein, vor allem, weil wir nie irgendwann eine Entwicklung als abgeschlossen werden betrachten können: Sie wird dynamisch bleiben. Aber vielleicht muss eben deswegen auch nicht der Traum weiter verfolgt werden, es müsste die neue große Utopie geben, das eine große Zukunftsbild, der eine neue Siedlungstyp, der die Lösung bringt.

Soll eine Veränderung, Anpassung und Kurskorrektur gelingen – man sollte vielleicht nicht immer gleich von Wende oder Umkehr sprechen – wäre sie also auch nicht holistisch anzugehen, sondern in einer Diskussion darüber, welche Defizite konkret bestehen, wie mit ihnen umgegangen werden, und welche Handlungsräume bestehen, welche humanitären Standards für uns unverzichtbar sind. Es ist deswegen nicht falsch, sich anstatt auf ein gesellschaftliches Gesamtbild auf einzelne Themen zu konzentrieren, Bildung, Mobilität, Nahversorgung, Energieproduktion als Themen der Region in den Blick zu nehmen.

Es wird, wie Harald Welzer in der Dokumentation des Tagungsbandes des IBA Forums vom vergangenen Oktober ausführt, nicht die Großen Transformation anzustreben sein, schon allein deswegen, weil nicht gewusst werden kann, wie sich Eigendynamiken und Wechselwirkungen entfalten. Er rät zu segmentären Transformationen.(1) Es geht also nicht darum, ein neues, großes Bild der schönen Zukunftswelt zu entwickeln; diese Gestaltung wird uns ohnehin, das zeigt die Vergangenheit, um so mehr aus der Hand genommen, je mehr an sie geglaubt wird, sondern sich in einem Prozess den Mut zu nehmen, präzise Einzelfragen zu identifizieren, sie aufeinander zu beziehen und sich erlauben, sie in diesem Austausch wieder zu korrigieren. Hier hätte eine Regionalplanung auch ihre Rolle zu finden. Das ist politisch schwieriger als es geschrieben ist. Aber es muss dennoch gesagt werden, denn es ist vor allem ja gerade der politische Handlungsraum, der umso enger wird, je weniger er genutzt wird. Mir scheint, das hier der wichtige und wesentliche Ansatzpunkt der IBA Thüringen liegt, der sie so wertvoll machen kann: über die regionale Strategie, über das Anstoßen sektoraler Strategien den politischen Handlungsspielraum zu nutzen und zu erhalten. Architekten und Planer sind dabei vielmehr gefragt, Programme von Gebäuden zu entwickeln, die auf die neuen Rahmenbedingungen reagieren. Sie sollten sich weniger auf Objekte denn auf interdisziplinäre Kommunikation konzentrieren, als sie das in den meisten Fällen heute tun.

(1) Harald Welzer: Transformation by Design. In: IBA Thüringen GmbH (Hg.): IBA Forum Stadtland. Dokumentation, S. 85.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christian Holl

Freier Autor, Kritiker und Kurator in den Bereichen Architektur, Architekturtheorie und Städtebau.

Christian Holl

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