Seine Geschichte hätte es im Fußballgeschäft eigentlich gar nicht geben dürfen – zumindest, wenn man sich an üblichen Sportfunktionärskarrieren orientiert. Kay Bernstein war weder ein Milliardär im Rentenalter, der aus Langeweile einen großen Fußballclub führen wollte, noch ein ehemaliger Spitzensportler, der sein ganzes Leben in den Strukturen des Fußballs verbracht und die Karriere nach der Karriere eingeschlagen hatte.
Als er im Sommer 2022 unter tosendem Applaus und Gesängen zum Präsidenten von Hertha BSC gewählt wird, ist das eine kleine Sensation. Der Boulevard nennt ihn den „Pyro-Präsidenten“, in Anlehnung an seine Zeit als Mitglied und Vorsänger der Ultra-Gruppierung „Harlekins Be
äsidenten“, in Anlehnung an seine Zeit als Mitglied und Vorsänger der Ultra-Gruppierung „Harlekins Berlin“ in der Berliner Ostkurve. Richtig ernst hatten viele seine Kandidatur ehrlicherweise nicht genommen. Sein Gegenkandidat, der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Frank Steffel, steht exemplarisch für Bernsteins Kontrast zur Welt der Sportfunktionäre. Die alte Dame aus dem Berliner Westen ist da gerade so dem Abstieg entkommen und stand erst am Anfang eines sportlichen Albtraums. Doch von Beginn an war Bernstein ein aktiver, ein sichtbarer Präsident, der eben nicht nur repräsentieren wollte. Denn er hatte eine Vision. Für ihn war Fußball weit mehr als nur ein Werkzeug, um möglichst viel Geld zu verdienen. „Das Zusammenkommen von Herthanerinnen und Herthanern aller Altersklassen“ hob er hervor, als er nach dem Stellenwert von Vereinsveranstaltungen wie dem 130. Geburtstag von Hertha BSC befragt wurde. Und wer ihm zuhörte oder von ihm las, dem blieb das nicht verborgen. Fußball als Kleber der Gesellschaft – Kay Bernstein hat darüber nicht nur gesprochen, sondern nach dieser Maxime gehandelt. Berliner Weg für die HerthaMit seinem „Berliner Weg“ ist es ihm gelungen, in nicht einmal zwei Jahren voller Krisen dem Verein, seinen Spielern und seinen Fans das Gefühl zu geben, dass bei der Hertha endlich wieder etwas zusammenwächst. Seiner Biografie als Fan und Ultra seines Vereins verdankte Bernstein ein Verständnis für die Bedürfnisse von Mitgliedern und aktiven Fans. Als Präsident eines von Investoren geschundenen Vereins plädierte er wiederholt für die 50+1-Regel, also dafür, dass der Verein von seinen Mitgliedern geführt wurde und nicht von Sponsoren und Geldgebern. Als sich im Oktober letzten Jahres Angriffe auf Jüdinnen und Juden in Berlin häuften, lud er jüdische Fußballfans ein, um mit ihnen über Antisemitismus zu sprechen. Jüngst sprach er sich gegen den Einstieg eines Private Equity-Investors in die DFL aus.Im Angesicht einer immer absurderen Kommerzialisierungsspirale war die Wahl Bernsteins daher auch der Beweis, dass es auch anders geht. Selbst Fans anderer Vereine wussten das zu schätzen. Nach einer Umfrage im Auftrag des Sportinformationsdienstes bewerteten seinerzeit über 60 Prozent der Befragten die Möglichkeit, dass Fans innerhalb ihrer Vereine Verantwortung übernehmen können, positiv. Im ersten Interview nach seiner Wahl zum Präsidenten wurde Bernstein gefragt, was passieren müsste, damit er im Jahre 2024 zufrieden auf seine bisherige Amtszeit zurückblicken könnte. „Ich wäre zufrieden, wenn wir in zwei Jahren eine Tendenz sehen, dass wir auf dem richtigen Weg sind“, lautete seine bescheidene Antwort. Dass der von ihm ausgerufene Stilwechsel ein langfristiges Unterfangen sein würde, war ihm da genauso bewusst wie die Skepsis vieler Mitglieder, die seine Ultra-Biografie mit mangelnder Kompetenz und Professionalität gleichsetzten. So fragte die Bild-Zeitung nach seiner Wahl: „Was kommt da auf die Liga zu? Vergrault er den in der Kurve ungeliebten 375-Mio.-Investor Lars Windhorst endgültig?“ Dass Bernstein auch erfolgreicher Unternehmer war, der unter anderem jahrelang eine Marketing- und Eventagentur führte, das blieb unberücksichtigt. Schließlich, und das unterscheidet Bernstein von anderen Sportfunktionären, betonte er, dass über den Kurs seines Präsidiums ohnehin die Mitgliederversammlung entscheiden müsse. Und rückte damit genau jenes Gremium in den Mittelpunkt, das ihm das Amt des Präsidenten erst übertragen hatte. Wo anderswo die Mitbestimmung der Mitglieder als notwendiges Übel und der Wille der Fans als realitätsfern und naiv im Milliardengeschäft Fußball angesehen wird, war sich Bernstein seiner Verpflichtung gegenüber den Mitgliedern bewusst.Mit nur 43 Jahren hinterlässt Bernstein seine Partnerin und zwei Kinder. Und einen Fußball, in dem die Ideen, für die er als Präsident stand, immer noch die Ausnahme und nicht die Regel sind. Kay Bernstein, der so leidenschaftlich anders war und damit viele Fußballfans in Berlin und außerhalb begeisterte und ansteckte, wird diesen Prozess nicht mehr selbst vorantreiben können. Aber auf seine Person kam es ihm sowieso nie an.