Ihgitt – eine Hure!

Enthüllungsjournalismus Correctiv outet eine AfD-Politikerin als ehemalige Sexarbeiterin und macht sich dabei mit der Boulevardpresse gemein.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Eingebetteter Medieninhalt
Das investigative Recherchezentrum Correctiv hat eine Kandidatin der AfD für den nordrhein-westfälischen Landtag als ehemalige Teilzeit-Prostituierte geoutet und schrieb im Zuge der Veröffentlichung von einem „Sexskandal“.
Im Internet hat es sich damit einen gehörigen Shitstorm eingehandelt – zurecht!

Es gibt viele Gründe und vor allem viele sehr gute Gründe, die AfD und die Politik, die sie vertritt, abzulehnen. Viele ihrer Forderungen erscheinen nicht nur unzeitgemäß, urkonservativ, fremdenfeindlich, rechtspopulistisch bis rechtsnational, sondern angesichts der den Grundsätzen dieser Partei widersprechenden Lebensrealitäten ihrer Spitzenkandidat*innen zutiefst scheinheilig. Auf den vorderen Rängen der AfD finden sich sowohl Homosexuelle als auch Mütter und Väter in Patchwork-Familien, die anscheinend trotzdem keinen Widerspruch darin sehen, sich zur „traditionellen“ Familie als Leitbild zu bekennen und andere Familienformen abzulehnen.

Als unabhängiges und gemeinnütziges Recherche-Portal hat Correctiv bisher oft gute und wichtige Arbeit geleistet. Mit dem unfreiwilligen Outing der Kandidatin, dem Umgang mit dem Thema und der Art, in der der Artikel beworben wurde, begibt sich Correctiv aber leider auf das Niveau von BILD, B.Z. und anderen Boulevardblättern.

„Wir enthüllen den Sexskandal bei der AfD-NRW. Spitzenfrau der Rechtspopulisten vermietete ihren Körper übers Internet“, schrieb die NRW-Redaktion von Correctiv auf Twitter und berichtete, dass die Kandidatin, die auf Platz zehn der Landesliste für den nordrhein-westfälischen Landtag stehe, in der Vergangenheit sexuelle Dienste für Geld im Internet angeboten habe. Offensichtlich begreift Correctiv dies als Skandal und prophezeit, dass die Kandidatin aus diesem Grund zu einem Problem für die Partei werden könne. Was aber der eigentliche Skandal an dieser Sache sein soll, das klären die Autoren des Artikels nicht auf. Stattdessen offenbaren sie mit ihm eine unreflektierte Sensationslust, die auf der klassischen Stigmatisierung von Sexarbeit beruht.

Wer meint, sich auf die Seite der Anständigen zu schlagen, um gegen die durch diese Partei verbreitete Intoleranz, Scheinheiligkeit und Prüderie anzutreten, Sexarbeit aber immer noch als skandalös begreift, erweist sich selber als unanständig, wenn er über die vermeintliche Sensation einer solchen Nachricht den eigenen Anstand vergisst. Wer sich für die Rechte von Sexarbeiter*innen ausspricht, kann diese nicht gleichzeitig für ihre Arbeit öffentlich diffamieren und denunzieren.

Natürlich darf man die Zustände in dieser Branche kritisieren und sich gegen Menschenhandel, Ausbeutung und Missbrauch aussprechen. Wenn diese Frau die Entscheidung jedoch freiwillig und selbstständig getroffen hat, dann ist das ihre private Angelegenheit und – so lange sie nicht selbst in ihrer Funktion als AfD-Mitglied öffentlich Sexarbeiter*innen verteufelt – nicht von öffentlichem oder politischem Interesse.

Die frühere Tätigkeit der Kandidatin aber als etwas Verurteilenswertes, also einen „Skandal“, zu begreifen, knüpft nahtlos an die moralische Verurteilung an, die Sexarbeiter*innen seit jeher erleiden mussten. In der Enthüllung der Vorlieben und der „schmutzigen“ Vergangenheit der Frau mit dem Ziel eine Partei, die sich „gern als Saubermann-Partei darstellt“, anzugreifen, schwingt die Sicht mit, eine Prostituierte als sexuell und moralisch anstößig zu begreifen. „Ihgitt – eine Hure!“ – Statt eine berechtigte und investigative Kritik an der AfD-Kandidatin zu üben, ist es dieser Satz, den Correctiv mit der Reportage vermittelt.

Darüber, das unfreiwillige Outing homosexueller Politiker*innen als Skandal zu begreifen statt ihnen die Privatheit der eigenen Sexualität zuzugestehen, scheinen wir inzwischen größtenteils hinweg zu sein. Für Sexarbeiter*innen scheint dies nach wie vor nicht zu gelten.

Die halbherzige Entschuldigung und Rechtfertigung des Autors, Chefredakteurs und Geschäftsführers David Schraven korrigiert diesen Fauxpas nicht. Stattdessen behauptet er, die Kandidatin habe sich mit dem Verschweigen ihrer Vergangenheit erpressbar gemacht und dies rechtfertige die Veröffentlichung. Sollte man ihm also dankbar sein, weil er die AfD-Spitzenfrau vor einer Erpressung bewahrt hat, indem er sie öffentlich an den Pranger stellte?
Ich glaube nicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christopher Scholz

Christopher Scholz ist Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er lebt und promoviert in Berlin.

Christopher Scholz

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden