Corta Jaca- Spalte die Brotfrucht I

Brasiliens Populärmusik Brasiliens Populärmusik ist vielgestaltig, virtuos, herzergreifend. Zur Olympiade sollten wir seiner Musikkultur lauschen, ohne vom Sponsoren- Pop eingelullt zu werden.

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Corta jaca – Spalte die Brotfrucht I

Der Eros der Schönheit in der brasilianischen Populärmusik. Frohe Botschaften aus dem Land der „Gelben Kuh“ (Vaca Amarilla) und der „gelernten Kampfente“ (Pato Fu).

(Nada Fica Indiferente à Música, 10 Jahre Natura Musical, https://www.youtube.com/watch?v=tX_LSRDYy-4 )

Olympia 2016 und Rio de Janeiro

Nicht mehr lange und die Olympiade kommt in ein ökonomisch kriselndes, sozial gespaltenes und von massiver Korruption betroffenes Land, dessen Urwälder, zugunsten agrarindustrieller Ausbeutung und umfassender Ressourcenerschließung, weiter schwinden. Tiefseeöl und Gas vor der Küste, unerschlossene Bodenschätze und eine ameisenartig sich im weiten Land ausbauende Bevölkerung, wirken nicht ausreichend als positive Wirtschaftsfaktoren, damit, außer für die Reichen, viel abfällt und nachhaltiger gewirtschaftet wird. Die soziale Ungleichheit wächst.

Trotzdem wird Brasilien der denkbar gastfreundlichste Ausrichter olympischer Spiele sein, mögen Schwaden Tränengases durch die Hauptstraßen Rios ziehen, weil sich die Bürger berechtigt gegen die Ungleichheit und Ungerechtigkeit ihres Staates und ihrer Gesellschaft wehren. An den Gästen aus aller Welt lässt das kein Brasilianer, schon gar nicht ein Carioca, aus.

(Tom Zé und Rodrigo Amarante, >>NYC Subway Poetry Department<<, aus dem Album Tropicália lixo lógico; https://www.youtube.com/watch?v=jq6BSZZqVEk )

Die anderen Nationen, die mit der Cola, den Sportartikelfirmen auf jedem Leibchen, den Qualitätsautos und der besten, nicht nachweisbaren Dopingtechnik, rücken an. Ihre Athleten messen sich für die Nationenwertung und ihren Sport als Beruf, so, als hätte ihn Max Weber extra für sie, analog dem des Politikers, erfunden; immer nahe dran an der Unterhaltung als Industrie, an Brot- und Spielen des Konsumismus. Irgendwann im 21. Jahrhundert, firmieren die Spiele sicherlich unter „Toyota Olympics featured by Google“ oder als „Red Bull- Olympiade“. - Der offizielle Themensong der Rio-Spiele, >>Os Deuses do Olimpo Visitam o Rio de Janeiro<<, „die Götter Olympias besuchen Rio“ (https://www.youtube.com/watch?v=KDtSIRQ9R8E ), kann dem wenig entgegensetzen. Er klingt nach dem bekannten Mischmasch aus gigantischem olympischem Anspruch und aufgeblasener Anpassung an den simpelsten Massengeschmack, gar nicht nach Spielfreude und Spielkunst.

Noch ist Zeit, das andere Brasilien, das Land der Klänge, in der es ganz unbestritten eine liebenswerte und artistische Weltmacht ist, kennenzulernen, bevor aus allen Medien nurmehr der internationale Olympia- Werbepop tönt, der so perfekt zum globalen Firmen-Marketing und seinen Videoclips passt.

Vinicius“ und „Tom“

Die Maskottchen der kommenden Olympiade und der Paralympics, 2016, heißen „Vinicius“ und „Tom“, nach Vinicius da Moraes, „O Poetinha“, dem Schriftsteller, Komponisten, Diplomaten, Journalisten und Tom Jobim, Antônio Carlos Brasileiro de Almeida Jobim, der alle diese Sachen ebenfalls konnte und als musikalischer Diplomat der Musica Popular den Bossa nova mit aus der Taufe hob. Man muss nicht >>Garota de Ipanema<<, „das Mädchen von Ipanema“, jenen harmlosen Welthit zum Maßstab nehmen. Beide konnten mehr und viel Besseres produzieren.

Katzenartiges und pflanzenähnliches Olympia-Symbol, verfügen je nur virtuell über jene Zauberkräfte und Kunsteigenschaften, die der brasilianischen Musikkultur zweifellos zu eigen ist, für die, unter vielen anderen, die beiden Namensgeber der Maskottchen bürgen („Toquinho“ und „Vinicius“, mit dem Album „O Poeta e o Violão“, https://www.youtube.com/watch?v=7cv1Ny3O1do , Vinicius da Moraes tritt mit seinem kongenialen Freund, dem Gitarristen Antônio Pecci Filho, genannt „Toquinho“ auf; das Morelenbaum Jazz- Quartet spielt Jobim (2003), https://www.youtube.com/watch?v=IYpMuSPSqTQ ; Jobim spielt >>Aguas de Março<<, „Märzregen“, (1972), https://www.youtube.com/watch?v=BhlNHxh3Z5E ).

Choro

Der Choro ist die älteste kanonische Form der brasilianischen Populärmusik. - Populär meint hier nie seicht, kitschig und musikalisch einfallslos. Das glatte Gegenteil ist der Fall!

Diese, von Sklaven- und Landarbeitern gespielt Musik, anfänglich von Trios aus Flöte, Gitarre und Cavaquinho, einer kleinen Gitarrenform, etwas größer als eine Ukulele, vorgetragen, erweiterte sich, nachdem sie erst einmal breiteres Interesse gefunden hatte. Gleich kam noch ein Tamburin als Rythmusinstrument hinzu und dann diverse Blech- und Holzbläser.

Die ursprünglich rein instrumentale Musik, -Sklaven sollten selbst beim kleinen Lamento die Klappe halten (Das Ende der Sklaverei kam erst 1888!)-, wurde nun mit Liedtexten versehen und deren poetische Verse lösten sich vom ursprünglichen, einfachen Realismus der Straße, wurden innerlicher, emotionaler und ichbezogener.

Die Meister des Choro beherrschen ihre Instrumente soloistisch, in der Gruppe und als Liedbegleitung. Ihr Stil und ihre unermüdliche Motivation technisch perfekt zu spielen, gerade weil sie tiefste Gefühle ausdrücken möchten, durchdringt die späteren populären Musikrichtungen. So zum Beispiel, den in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts durch das musikalische Massenmedium Radio schlagartig bekannte Samba. Sie verbindet sich ebenso leicht mit der klassischen Moderne.

Es gibt in Brasilien keine wirkliche Trennung zwischen Unterhaltungsmusik und „ernster” Musik, wie wir sie unglücklicherweise weiterhin pflegen. Bis heute, legt die Ausbildung entlang der Chorokompositionen und -Stile den Grundstock für die verblüffende Komplexität der Musica Popular.

Die Initialzündung der nationalen Verbreitung des Choros konnte stattfinden, weil sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, vor allem in Rio de Janeiro, dann in den anderen großen Städten, Beamte, Kaufleute und Angehörige der Funktionseliten (Ärzte, Juristen, Militärs), zur privaten Unterhaltung in ihren Salons für diese Musikform begeisterten. Europäisch orientiert, herrschte bis dahin der Walzer, die Hausmusik der europäischen Klassik und Romantik und die europäische Oper. Feiern auf der Straße, Ausgelassenheit in der Öffentlichkeit, galt in Bürgerkreisen als unschicklich, besonders für Frauen.

Hinzu kamen die Polkas und Mazurken der europäischen Immigranten und aus den USA wanderten die Frühformen des Jazz, Ragtime und New Orleans- Stil ein. Erstmals beteiligten sich schwarze Musiker, die ihren Tanzmusik- Hintergrund, den Lundu und die Batuca einbrachten, mit ihren komplizierten rhythmische Mustern. Sie legten mehr Wert auf die Perkussionsinstumente und öffneten den Choro für praktisch alle Instrumente des Jazz.

Bis heute ist typisch, dass kaum ein Lied der Musica popular do Brasil einen einfachen Rhythmus durchhält. Tempo- und Rhythmuswechsel erlauben es nicht nur die Kunstfertigkeiten an den Instrumenten zu zeigen, sondern auch die Stimmung der Komposition zu wechseln, unter Umständen mehrfach, innerhalb desselben Stückes.

Ganz wichtig für die Verbreitung war, dass sich aus der Chorobegeisterung private Musikclubs bildeten und Musikschulen im ganzen Land ihre Schüler in den Choro- Spielweisen ausbildeten. Selbst Professoren und Musiklehrer an den klassischen Konservatorien beschäftigten sich nun mit ihm. Sie sammelten das überlieferte Material und komponierten unerschöpflich neue Werke. Das brasilianische „Songbook”, der Fundus an „Standards”, ist somit um einiges umfangreicher, als seine jüngeren, nordamerikanischen Vettern.

Am Anfang des aufgeschriebenen, später kanonischen Choro, steht, neben dem Pianisten Ernesto Nazareth und dem Flötisten Joaquim Antônio da Silva Calado, genannt „Calado“, der Name Ciquiniha Gonzagas. Kurz nach der Jahrhundertwende kommt noch Alfredo da Rocha Viana Filho, genannt „Pixinguinha“ und Anacleto de Medeiros hinzu, und der klassisch ausgebildete Heitor Villa-Lobos schreibt Choro- Musik (Turibio Santos spielt Heitor Villa- Lobos , >>Choro Nr. 1<<, https://www.youtube.com/watch?v=hO53jgReuCI ; Yamandú Costa und Guto Wirtti spielen Villa- Lobos, >>schottischen Choro<<, https://www.youtube.com/watch?v=kIq0lWuA8Xk ).

Es ist unmöglich, hier alle bedeutenden Musiker aufzuzählen. Es lohnt sich aber, noch drei Komponistennamen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts zu merken, die heute immer wieder neu interpretiert werden: Waldir Azevedo, genannt „Brasileirinho“, „Jacob do Bandolim“, das ist Jacob Pick Bittencourt und der geniale Radamés Gnattali.

Regisseur Mika Kaurismäki, der ältere Bruder des Spielfilmers Aki, produzierte mit Brasileirinho - Grandes Encontros do Choro“, 2005 ( https://vimeo.com/92739615 ), ein liebevoll gestaltetes Dokumentarfilm- Porträt des Choro. Er kennt sich in Rio de Janeiro bestens aus. Dem Nordpol näher geboren, wurde er ein zugereister Carioca, ein Weißer in den weißen Häusern.

Einleitend spielt das virtuose Trio Madeira Brasil >>Santa Morena<< von Jacob do Bandolim. Es ist, wie die Musiker des Trios es selbst beschreiben. Choromusik erzeugt Glücksgefühle und Melancholie zugleich. Beides löst manchmal auch ein paar Tränen. - Ach was, es ist vielleicht doch nur die Gicht der Bugwelle, die über die Choro-Fähre getrieben wird oder es sind ein paar verspätete Regentropfen des März (Vicinius), gesättigte Urwaldluft im April, die am Tag des Choro übrigblieben.

Der Arzt und Musiker Noel Nascimento entdeckt die Kompositionen Pixinguinhas im Röntgenschädelbild seines Freundes. Drei Mandolinen schluchzen, Chopin inspiriert. Zé da Velha und Silvério Pontes erklären das Kontrapunktische im Choro, seine Alterslosigkeit und seinen Kommunitarismus. Carlinhos Leite und Yamandú Costa spielen auf ihren Gitarren, Elza Soares jazzt über „Nichts Wertvolles kommt ohne Schmerz“. Guinga führt das aus, mit seinem autobiografischen >>Senhorinha<<. Dann reist die Choro- Musikschule aus der Provinz an.

Zum Ende hin, zeigt ein Mexixe (brasiliansischer Tango)- Tanzpaar, wie man sich formvollendet auf die Füße tritt und der fantastische Paulo Moura erklärt den speziellen Klang seiner Acryl- Klarinette. Ganz am Ende des nationalen Choro- Tages (23. April), rührt Yamandú Costa mit seiner Gitarre und dem Song >>Carinhoso<< (Pixinguinha/João de Barro). - Das sind Herzensangelegenheiten. Da singen alle mit.

Chiquinha Gonzaga und >>Corta Jaca<<

Es ist kaum angemessen zu beschreiben, wie sehr die Komponistin und Pianistin Chiquinha Gonzaga (Francisca Edwiges Neves Gonzaga) als Mitbegründerin des Choro verehrt wird. Selbstverständlich existiert zu ihrem Leben und Werdegang längst eine 38 Folgen (sic!) umfassende TV-Miniserie (1999), die mehrfach wiederholt wurde und sich bis nach Frankreich und Polen verkaufte. Die höhere Tochter eines noch höheren Militärs gilt, neben ihrem Mitgeburtsrecht am Choro, als eine der ersten emanzipierten Bürgerinnen Brasiliens. Sie setzte ihre zivile Ehescheidung juristisch durch, als das für Frauen noch weithin als völlig unmöglich angesehen wurde.

Lysia Condé, erzählt, die dazu passende, vielsagende Geschichte zum meistgespielten Stück der Komponistin, >>Corta Jaca<< oder >>Gaûcho<< (https://www.youtube.com/watch?v=FbjxquKXEJo ).

Es ist zugleich ein enger Tanz und Tanzschritt des brasilianischen Tangos, Mexixe, eine kleine Anzüglichkeit, ein Lamento, ein Stück Unterschichtenmusik, eingedrungen in die Bürgerwelt, wie auch eine Stellungnahme zu dem, was Männer und vor allem Frauen in der Öffentlichkeit durften und was nicht:

Nair de Teffé von Hoonholtz, die zweite, wesentlich jüngere Ehefrau des brasilianischen Präsidenten und Marschalls, Hermes da Fonseca, eine gute Freundin Ciquinha Gonzagas, war nicht nur, wie diese, ein brasilianischer Blaustrumpf (Englisch „bluestocking“: Gebildete Dame der Oberschicht, mit eigenem Kopf und Willen), sondern auch Förderin der Künste. Sie selbst wurde als Karrikaturistin bekannt.

1914 löste die, schon wegen ihrer Ehe skandaliserte, erste Staatsdame, einen kleineren Kulturaufstand aus, weil sie zu einer privaten „Noite do Corta-Jaca”, einem typischen „Forrobodó“,- das ist ein mehr oder weniger wildes, musikalisches Hausfest im Salon oder Klub, zu dem man sich auch verkleiden und aufbrezzeln durfte, statt hochgeschlossen und in gedeckten Farben erscheinen zu müssen-, die Tangomelodie und Musiknummer aus der 1895er Operette „Zizinha Maxixe“ eigenhändig auf der Gitarre vortrug (Lysia Condé singt >>Corta Jaca<<, von Chiquinha Gonzaga, Text Machado Careca, https://www.youtube.com/watch?v=4wfrA54BMZg ).

Christoph Leusch

(Fortsetzung mit Teil II, Corta Jaca- Spalte die Brotfrucht II, https://www.freitag.de/autoren/columbus/corta-jaca-spalte-die-brotfrucht-ii )

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