Nature versus Nurture

Impfen und Infizieren Die Menschheit infiziert sich seit ihrer Entstehung. Seit es Impfungen gibt, sinkt die Zahl der Todesfälle, wächst die Lebenserwartung und reduziert sich die alltägliche Furcht vor einem schicksalhaft hinzunehmenden Infektionstod.

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Nature versus nurture

Auch unter Homöopathen, Anthroposophen und Heilern gibt es Querdenker

Was ist besser? Natürliche Immunisierung, durch Ansteckung oder Impfungen?

Einige wenige Homöopathen, anthroposophisch gebildete Ärzte und Heiler, einschließlich einiger Heilpraktiker, glauben fast ausschließlich an die selbstschützende Natur und eine gesunde Lebensweise, in ihrem Sinn, zur Stärkung des Immunsystems. Leider glauben das auch 15-30% der Weltbevölkerung, auf die eine oder andere Weise.

Manche schlagen dazu gar ein Kreuz oder suchen anderen kosmischen und metaphysischen Beistand. Viele darunter, halten die Medizin, wie die Gesundheitswissenschaften für gekauft, rein profitorientiert oder gar von Mächten und Mächtigen gesteuert, die die Bevölkerungen zu ihren Zwecken manipulieren und dazu Impfungen und Medikamente einsetzen. Sogar eine heimliche Geburtenkontrolle unterstellen sie den Impfkampagnen der WHO und von UNICEF, die im Verbund mit den 30 medizinisch unterversorgtesten Ländern dieser Erde, sowie an aktuellen Hotspots, durchgeführt werden.

Besonders gerne betonen Impfgegner und ideologische Fundamentalkritiker des „korrupten Gesundheitssystems“, dass diese renommierten internationalen Organisationen einen bedeutenden Anteil ihres Budgets von den „Reichen“ und deren Stiftungen erhalten. Gerne wird vergessen: Die reichsten und wichtigsten Staaten der Weltgesellschaft kommen ihren Verpflichtungen so wenig nach, wie die autoritären Regierungen in Entwicklungs- und Transformationsländern!

Einmal davon abgesehen, dass die allermeisten alternativen Heilkundigen und die wichtigsten Fachgesellschaften für komplementäre Medizin weltweit, diesen schlichten Ansichten von der universal schädlichen Vorsorgemedizin gar nicht folgen und im Gegenteil, zum Beispiel jetzt, zur Corona- Impfung raten; einmal abgesehen davon, dass selbst der Urdenker der Anthroposophie, Rudolf Steiner, der sich mit dem Impfen in den medizinischen Kinderschuhen seiner Zeit häufiger einmal kritisch beschäftigte, im Laufe seines Lebens nicht nur einen laienmedizinischen Sinneswandel durchmachte, sondern sich auch vom platten Mystizismus, Spiritualismus und Okkultismus, sowie vom gesellschaftsfähigen Antisemitismus seiner Zeit, à la Madame Blavatsky, löste, bleibt diese Frage spannend, weil sie gar nicht eindeutig beantwortbar ist, sondern von je anders gelagerten, biologischen und sozialen Bedingungen abhängt, sowie von dem je möglichen Stand der Impfstoffforschung und der Massenproduktion.

Impfungen, eine biologisch basierte, zivilisatorische Errungenschaft

Natürliche Immunisierung gehört gleichermaßen zu unserer engen Sozialität und zu unserer Biologie. Das ist unbestritten. Aber ohne Impfungen stünde unsere Gesellschaft und in Weiterung die Weltbevölkerung, was Lebenserwartung und Lebenssicherheit angeht, nicht so sorg- und risikolos da, wie das zumindest für eine Mehrzahl der dichtbevölkerten Regionen dieser Erde mittlerweile gilt und auch nach der Bewältigung der Corona- Pandemie wieder so sein wird.

Selbst in jenen Teilen der Welt, die ausgebeutet und unterentwickelt blieben, sank, dank der Impfungen, die Sterblichkeit an Viruserkrankungen, sowie einigen bakteriellen und protozoischen (Einzeller) Erkrankungen, die besonders Kinder, Ältere, sowie alle jene Menschen die, aus welchen medizinischen und sozialen Gründen auch immer, besonders anfällig für Infekte aller Art sind, deutlich.

Das Beispiel Masern

Die Behandlung einer Kinderkrankheit, die nicht nur für Kinder ein Risiko darstellt, sondern auch Alte und durch Krankheit geschwächte Menschen umbringen kann, die Masern, kann man gut als Modell für die Auseinandersetzung zwischen Impfgegnern und dem von ihnen so genannten „Mainstream“ der Impfbefürworter analysieren. Tatsächlich kommt es immer wieder zu Masernepidemien dort, wo die Impfung der Kinder vernachlässigt wurde. Das Masernvirus aus der Gattung der Morbilliviren, tötet und schädigt dann immer auf sehr tragische Weise, seine meist noch sehr jungen Wirte.

Masern- Outbreak auf Samoa

Exemplarisch sei eine Masern Epidemie auf Samoa, 2019, genannt, die ihre Ursache im sinkenden Impfstatus der Inselbevölkerung hatte. Dabei starben 83 (meist Kinder) von ca. 4500- 5500 Infizierten (auf Deutschlands Bevölkerung gerechnet, wären das ca. 30.000 Todesfälle!), in sehr kurzer Zeit. Die Regierung des Inselstaates musste eine strikte Ausgangssperre verhängen und die Wirtschaft weitgehend lahmlegen, um der Epidemie Herr zu werden. Ungeimpfte Familien verpflichtete man zu einer Quarantäne. Zusätzlich mussten sie eine rote Flagge vor der Wohnung anbringen. Zugleich kurbelte man das Impfprogramm wieder an und verschärfte die Impfpflicht.

Querdenker, Antivaxxer und religiös Verirrte

Auf Samoa betätigte sich schon länger der Kokosnuss - Farmer und selbsternannte Pflanzenheiler Edwin Tamasese, als wirkungsvoller Impfgegner. Er behauptete öffentlich, bis zu seiner Festnahme 2019, die Impfungen selbst verursachten die Masern und sorgten für die tödlichen Verläufe der Erkrankung. Er empfahl stattdessen hochdosiert Vitamin C.

Unterstützung holte es sich von den gut organisierten Impfgegner - Gemeinden Australiens und der USA. Seine Vertrauenspersonen waren die australische Impfgegnerin Taylor Winterstein und der Augenarzt James Meehan, ein seit Jahrzehnten bekannter „Anti - vaxxer“ aus Oklahoma.

Tragische Fehler ausnutzen, um Falschmeldungen zu platzieren

Was machte die webbasierten Impfgegner so selbstsicher und medial wirksam?- 2018 verstarben zwei Kinder, nachdem sie mit einer falsch aufgezogenen Kombinationsvakzine geimpft worden waren.

Impfschwestern hatten, statt der bestimmungsgemäßen Verdünnung mit sterilem Wasser, abgelaufene Fläschchen mit der wässrigen Lösung eines Muskelrelaxans verwendet. Auch wenn es nicht am verimpften Masern-, Mumps- und Röteln- Impfstoff lag, brachten Impfskeptiker, freireligiöse Gemeinden, Endzeitchristen, populistische Medien und PolitikerInnen die bis dahin erfolgreiche Impfkampagne des Landes zum Erliegen. Für Masern sank der Impfschutz der Jüngsten, von weit über 80% auf nur noch ca. 30%.

Wie die Erfolgsbilanz wirklich aussieht

Um Masern- Ausbrüche sicher zu verhindern, sollten, weil die Viren eine sehr hohe Ansteckungsfähigkeit haben, mindestens 90- 95% der Bevölkerung grundimmunisiert sein.

Global betrachtet, stellt sich die Bilanz, Impfung gegen natürliche Immunisierung bei Masern wie folgt dar: In den 1980er Jahren, vor den globalen Impfkampagnen gegen die Masern, starben jedes Jahr ca. 2,5 Millionen Menschen, meist Kinder, an der Viruserkrankung. 2011 waren es noch ca. 160.000 Todesfälle!

Das Phänomen der "immunen Amnesie"

Die Masernepidemie Samoas und zahlreiche weitere lokale „Outbreaks“ weltweit, brachten noch eine zweite sehr erstaunliche Erkenntnis. WissenschaftlerInnen verschiedener Universitäten beforschten die allgemeine Sterblichkeit an Infektionen vor und nach der Virus-Epidemie. Sie mussten feststellen, dass nach dem überwundenen Ausbruch mehr Kinder und vulnerable Ältere an anderen Infektionskrankheiten verstarben! Die waren nun zwar natürlich immun gegen das Masernvirus, aber nicht mehr gegen andere virale und bakterielle Infekte, die man im Verlauf der Kindheit und des Lebensfortschritts durchmacht. Sie blieben in der Folge infektanfällig.

Noch merkwürdiger war, dass offensichtlich nur jene die eine natürliche Infektion mit den Masernviren durchmachten diese Anfälligkeit zeigten. Wo jedoch gegen Masern geimpft wurde und ausreichender Immunschutz bestand, zeigte sich dieser Effekt nicht!

Das aktive Masernvirus hat offensichtlich die Fähigkeit, die natürliche Grundimmunisierung für viele andere Erreger aufzuheben.- Wie kann das sein?

Die Morbilli- Viren befallen nicht nur Haut, Schleimhaut und Hirnzellen, sondern zum Beispiel auch die für das zelluläre Immungedächtnis mitverantwortlichen B- Zellen (B- Lymphozyten). Der Wirtskörper verliert seine spezifische Infektionsgeschichte. Was man früher arg klischeehaft „stille Feiung“ nannte und auch von den meisten „vernünftigen“ Impfskeptikern, den Anthroposophen, Homöopathen und Naturheilkundigen sehr erwünscht ist, wurde gelöscht.

Nach glücklich überstandener Masern- Infektion, bleibt zwar eine Immunität gegen Masern erhalten, weil der Körper masernspezifische B- Zellen als Reaktion auf den Erstkontakt ausbildete, aber der Rest der bereits erworbenen Immunität, gegen allerlei andere Krankheitserreger, ist deutlich beeinträchtigt. Die „Immun- Amnesie“, wie man das Phänomen taufte, ist nicht vollständig und hängt offenbar von der Schwere der Maserninfektion ab. Überlebende Kinder mit schweren Morbilli-Verläufen tragen ein deutlich höheres Risiko.

"Masern durchmachen"- Das Risiko der Langzeit- und Spätfolgen

Ähnlich wie nun auch bei Covid 19- Erkrankungen, zählen in der Öffentlichkeit meist nur die Toten. Sterben viele Menschen, besonders Kinder, Alte, Vorerkrankte und daher geschwächte Menschen, sehen große Mehrheiten sofort ein, man müsse mit allen Mitteln gegen den Erreger vorgehen.

Dabei werden, wie sich sehr gut an den Masern- Epidemien nachvollziehen lässt, mildere Verläufe und anhaltende Folgeschäden oft vernachlässigt. Wenn auch die allermeisten Kinder eine Maserninfektion überleben, so gibt es viele Erkrankungsfälle mit schweren Symptomen, zumindest für 7- 14 Tage und eine nicht unerhebliche Zahl von Fällen mit länger anhaltenden Beeinträchtigungen und Beschwerden, die die Entwicklung der Kinder behindern. Daran wird selten erinnert.

Masern greifen das Gehör und das Gehirn an, sie verursachen Lungenentzündungen mit Residualschäden und epileptische Krämpfe, sowie schwere Durchfälle. Nach überstandener Infektion, leiden viele betroffene Kinder an Erschöpfungs- und Retardierungsphänomenen, an mangelnder Konzentrations- und Belastungsfähgikeit, über Wochen, Monate und manchmal Jahre. Eine Folgekrankheit, die subakute sklerosierende Panenzephalitis (kurz: SSPE), ist besonders tückisch und gefürchtet. Sie tritt meist erst Jahre nach einer Maserninfektion in Erscheinung und führt unweigerlich zu Sichtum und Tod. Eine heilende Behandlung gibt es nicht.

Wie die Altersverteilung der Bevölkerung wirkt

Wie die Biologie und die soziale Impfmedizin zum Nutzen der Gesellschaft und zum Schutz der Individuen beitragen können, lehrt uns aktuell der Verlauf der Corona- Pandemie und der Unterschied von Land zu Land.

Nationen mit einer deutlich gealterten Gesellschaft müssen mehr Vorsorgemaßnahmen treffen und mehr impfen, als Länder mit einem sehr niedrigen Durchschnittsalter, um hohe Sterbefallzahlen und chronische Leiden zu verhindern und in den Wellen der mutierenden SARSCov2- Stämme ihre Gesundheitssysteme nicht zu überfordern.

Ganz offensichtlich, können nun die ersten Länder mit einer hohen Impfquote, zum Beispiel auf die aktuelle Omikron- Welle, lockerer reagieren. Das gilt ebenso für einige afrikanische und asiatische Staaten mit einem sehr niedrigen Durchschnittsalter der Bevölkerung und einer bereits durchgemachten natürlichen Immunisierung. In diesen Ländern genügt es, bei älteren und gefährdeten Menschen eine dreifache Grundimmunisierung durchzuführen. Dafür reichen auch die international zur Verfügung gestellten Impfdosen eigentlich aus, wenn sie denn abgerufen und systematisch verimpft werden.

Christoph Leusch

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