Intellektuelle Selbstverstümmelungen

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Intellektuelle Selbstverstümmelungen - Wen interessiert das noch?

Was offensichtlich sehr viele Blogger, noch viel mehr Twitterer und leider auch ein Haufen Profi-Meinungsmacher gelernt und verinnerlicht haben, es fast schon zu einem Markt- und Aufmerksamkeitsgesetz uminterpretierten: Passt dir eine Meinung oder Position nicht, dann gehe gefälligst, ohne allzu viele Skrupel, direkt auf die Person oder die Indexgruppe los, die schrieb, redete oder twitterte, die sich in deinen Augen irgendwie verdächtig machte. Mach´ das jedenfalls dreimal eher, als dich auf zeitfressende und vor allem, die Kommentarfrequenz deutlich senkende, zeilenlange Argumentketten einzulassen.

Schreibe auf die Person, niemals auf das, was diese sagte oder sagen wollte. Für die zweite Form bekommst du nur müdes Gähnen und eventuell noch Spott für deine Naivität. Schreibe über Brillen, Aussehen, den spontanen Ersteindruck, die Kleidung, die Wohnung, die sonstigen vermuteten Realia und Formalia, das Web-Logo, den Nick, die Ausrichtung. Behaupte, alles sei Lüge, Erfindung, geschickte Verschleierung, böse Absicht. Frage nicht nach und bitte nicht um Erklärungen, sondern lege konsequent jeden Satz zum Nachteil aus! Am Ende lass´ es krachen in einem unbedingten und vernichtenden Urteil zu dem von dir ausgesuchten Blog-Gegenüber. Nulle dieses Nichts! Betreibe das Bloggen, Twittern und Artikeln als Konkurrenzkampf um Nichts!

Innere Monologe der Verachtung:

Vielleicht steckt ja dahinter folgendes Selbstgespräch?: Bei Argumenten habe ich nur Probleme. Da musst ich erst einmal verstehen, was der Andere überhaupt geschrieben hat, und dann auch noch ein Gegenargument begründet formulieren. Das ist schwer, viel zu schwer! Das ist lang, viel zu lang! Hätt´ ich was nicht verstanden und fragte gar, dann wäre ja schon die Nachfrage unter Umständen ein Fehler, weil ich mich als nicht satisfaktionsfähig ausweisen könnte.

Die Anderen, das sind diejenigen, die immer und überall auf der Welt, egal wozu ich mich äussere, mehr wissen müssen und es besser ausdrücken können, als es mir je gelänge. - Wer das einmal verinnerlicht, der bleibt vielleicht häufiger verschont, sprachliche Hämmer und Keulen auszupacken und überall nach dem Bösen und Schlechten im je Anderen zu suchen, oder bewusst Lügen zu streuen. Wer aber vom Mitaktiven schon denkt, er könne nur die Hölle und sonst nichts repräsentieren, der zerstört die kommunikative Grundlage. Leider sind im Web viele solcher „Spezialisten“, genau mit dieser Absicht, unterwegs.

Ich weiß nun nichts mehr, ich weiß auch nichts Besseres, merke nur, wie kräftezehrend das ist, wenn ein rationaler und sachlicher Ton keine Chance hat und in einem Publikumsmedium sich auch viele Leute mit sehr speziellen Idiolekten, sogar mit ihren Fachsprachen, ohne große Erklärung aufblasen. - Dabei ist es fast durchgängig so, dass komplexe Sachverhalte immer beschrieben werden müssen, als hörte, läse und sähe sie das Publikum zum ersten Male.

Im Gegensatz zu Neigung mancher theorieverliebter Menschen, ist die Herstellung von Verständlichkeit das eigentliche mühsame und notwendige Geschäft, und nicht der umgekehrte Vorgang. Den Lesern ständig vorzuhalten, sie könnten die Sachen die man schreibt sowieso nicht verstehen, was soll das wohl bringen? - Es ist nicht mehr als ein Überlegenheitsgestus ohne Inhalt.

Hier im „dF“-Forum sind immer noch erstaunlich viele unterwegs, die es bewusst anders angehen. Aber die böse Geschwindigkeit des Durchsatzes, die macht auch diesen Leuten schwer zu schaffen. Denn dafür lohnt eben nur ein mittlerer, bis eher geringer Aufwand.

Schreibt jemand über Pornografie, dann schreibe ihm in den Kommentar: „Hast wohl Druck !“. - Meist sind solche Attacken noch mit Mutmaßungen angreichert, was einer tut, lebt und eventuell privat und intim denkt und fühlt. Beliebt und sehr wirkungsvoll ist auch, überall Nazis, Radikale, Kommunisten, Antisemiten, seit geraumer Zeit, Muslime, Muslimfreunde ( www.faz.net/s/Rub594835B672714A1DB1A121534F010EE1/Doc~E6F866518E7B641499EA77AC0E5468FB3~ATpl~Ecommon~Scontent.html ), Türkenfreunde, Deutschenhasser und Palästinenserversteher zu suchen , zu finden, persönlich anzupinkeln und dann zu erlegen.

Solche Feststellungen werden in der Regel, das ist mein Eindruck, nur aus einem Grunde getroffen und hingeschrieben: Man möchte ganz absichtlich beleidigen und persönlich treffen, und möchte ganz absichtlich auf Argumente verzichten. Der Erfolg gibt den Methoden Recht. Je abstruser der Auftritt, desto mehr Diskussion. Tobt die erst einmal heftig, dann gibt ein Wort das andere.

Die Bloggosphäre unterscheidet sich diesbezüglich kaum noch von ihren journalistischen Vorturnwelten, auf guten Achsen oder aus der Mitte der so genannten Qualtitätsblätter. Wer z.B. einem Hans Ulrich Wehler den „Pfälzer Waldschrat“ als Charakterisierung Kurt Becks durchgehen lässt und ihm danach immer wieder die Presse-Seiten zur Verfügung stellt, der darf sich bestimmt nicht wundern, wenn Blogger und Kommentatoren den Bundespräsidenten einen Holzkopf nennen und das auch so aufschreiben.

Trotzdem treten beständig Leute auf, die behaupten, nur im Netz fänden sich die wahren und sachlichen Informationen und Diskussionen. - Liebe Gemeinde, ich war jetzt schon wieder zu freundlich, denn das Beispiel selbst gehört auch noch zu den minder schweren Fällen, denn es geht noch um mehrere Stufen bösartiger.

Deshalb enden auch die regelmäßig wiederkehrenden Aufrufe, die Selbststeuerungsfunktionen wieder in Gang zu setzen und für einen aufgeklärten Umgang miteinander zu sorgen, regelmäßig in einem neuen Schweinezyklus. Eine Zeit lang gibt es ein bisschen Reue und dann wird weiter geholzt. Manchmal mit neuen Target-persons, manchmal mit den alten Spielkameraden, denen man so schön den Krieg erklären und Sand in die Augen schippen kann.

Ein Beispiel aus dem journalistischen Dunkelfeld

Halten Sie den Islam heute für vereinbar mit den Werten des Grundgesetzes?“,fragt Hans Monath vom Tagespiegel ihre Exzellenz und Eminenz, Professor Hans-Ulrich Wehler (www.tagesspiegel.de/politik/mit-zaehnen-und-klauen-verteidigen/1951782.html ):„Die Wirklichkeit spricht dagegen. Ein Gutteil der Muslime auch in Deutschland ist überzeugt, dass die Scharia, das religiöse Recht, über dem weltlichen Recht steht. In der von der Bundesregierung einberufenen Islamkonferenz wehren sich die Vertreter vor allem der türkischen Verbände gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Ich bin auch äußerst skeptisch, ob in der Türkei unter der Reislamisierungspolitik Erdogans ein Modell für einen modernen islamischen Staat entstehen kann. Sechs Millionen Muslime in der Bundesrepublik werfen schon genug Assimilations- und Integrationsprobleme auf. Deshalb warne ich davor, den Beitritt der Türkei in die EU ernsthaft zu verfolgen.“

So stand es am 08.10.2010 beim Tagespiegel, der immer noch als seriöses Blatt gilt. Dem Interviewer fiel nicht ein, den Professor Wehler zu fragen, ob den die Zahlen stimmen und welche Konsequenzen er denn aus seinem Verdikt ziehe, ob die Behauptung stimmt, türkische Verbände hätten sich in der Schäuble-Islamkonferenz gegen die Gleichstellung der Frau gewendet. - Es stimmt eben alles nicht. Gedruckt und ins Netz gestellt wird es trotzdem! - Das Gespräch wurde fortgesetzt, als sei hier gar nichts passiert.

Was sagte Wehler 2007 dem Deutschlandfunk zum Thema?

( www.dradio.de/dkultur/sendungen/signale/661998/ )

"Die rund drei Millionen Muslime in der Bundesrepublik, unter denen Türken die erdrückende Mehrheit stellen, haben sich bisher nur punktuell in ihr Zuwanderungsland eingefügt. In der größten türkischen Stadt Europas, in Berlin, kannten unlängst 94 Prozent aller eingeschulten Kinder türkischer Herkunft kein Wort Deutsch. Zwei Drittel aller 14- bis 25-jährigen Türken, alle aus der dritten Generation mit ihrer wachsenden Neigung zu einem fundamentalistischen Islamismus, waren dort wegen des fehlenden Schulabschlusses und der mangelhaften Sprachkompetenz arbeitslos. Allgemein lag die türkische Arbeitslosenquote doppelt so hoch wie die deutsche, bei 40 Prozent. Die Anzahl türkischer Sozialhilfeempfänger stieg dreimal so hoch wie der türkische Anteil an der Stadtbevölkerung. Wegen vermeintlicher Berufsunfähigkeit wurde die Rente durchweg vom 50. Lebensjahr ab in Anspruch genommen, so dass jedes vernünftige Verhältnis zwischen Einzahlung und Auszahlung zerstört wird."

Auch hier stimmt fast nichts, bis auf die etwas korrektere Gesamtzahl der Muslime in Deutschland.

Dreist ist die Rede von angeblich 94% türkischstämmigen Berliner Einschülern ohne Deutschkenntnisse. Dreist ist die Angabe zu „Ausbeutung“ der Rentenversicherung durch Türken, denn offensichtlich kennt Herr Wehler weder den Unterschied von Altersrente und Erwerbsunfähigkeitsrente, noch die Höhe der Rentenbezüge, die sich an den bekannt niedrigen Löhnen für die geleistete Schmuddelarbeit der türkischen und türkischstämmigen Rentner orientiert (Dazu schrieb die Berliner IHK erhellend). Dreist ist auch die Bemerkung zum Renteneintrittsalter.

Unkommentiert gesendet wurde das trotzdem und mit voller Absicht. Das Vorgehen ist kein Zufall und auch keine Ausnahme. Selbst der ZEIT-Chefredakteur und Tagespiegel-Herausgeber kolportierte das damals. Rechtfertigen muss er sich dafür so wenig, wie Wehler heute für die „sechs Millionen“ und die anderen Unstimmigkeiten.

Dreist ist allerdings auch, diesem deutschen Professor immer wieder medialen Raum zu geben. Ein Märchenerzähler in ernster Angelegenheit, der sollte doch als Koryphäe, Experte und Interviewpartner endgültig ausscheiden.

Haben sich die Ansprüche unserer aufgeklärten, kritischen, angeblich christlich-jüdisch geprägten, abendländischen Kultur so verändert, dass nun Stuss, Unsinn und Lügen zur Kultur werden und Medienwert erhalten? Was werfen wir Muslimen vor, was wir nicht längst praktizieren? Die Verstellung und Täuschung.

Von den Lesern der TSP und den Hörern des DLF, kann man nicht erwarten, jedem Inhalt nachzuforschen. Aber die Journalisten, verdammt, die hätten die Aufgabe und Pflicht dazu! Vor dem Interview, während des Interviews und danach!

Damals, 2007, waren es nur drei Millionen, jetzt sind es sechs Millionen Muslime. Was sagt uns das über den Spitzen-Historiker? Könnte es nicht auch heißen, ich habe genug von ernsten Diskussionen, lasst uns den Sarrazin vollenden? Weisen wir aus, schaffen wir aus! Die Sehnsucht, wieder ein ganz normales (Alt-)Herrenvolk zu sein, die ist derzeit wieder ein Stück größer geworden. Blogger üben sich da in den Nischen und ihre Vorbilder stammen aus dem Talk-TV und aus der Presse, mit und ohne Qualitätsanspruch. So verwandeln wir uns zu einem nationalen Kollektiv der Banausen!

Auch auf dem besten Publikums-Webforum der Republik, insgeheim denke ich ja, es hat schon ein wenig internationale Konkurrenzfähigkeit, - Nennen Sie mir eines, das noch mehr Dialog und fundiertere Blogbeiträge aufnimmt! - , gilt es doch mit Anstregung, um die Intellektualität und Differenzierung zu kämpfen und eine Respektskultur zu erhalten und weiter zu entwickeln, die von anderen Medien jeden Tag ein Stückchen mehr abgebaut wird, mit der Devise, probieren wir mal was jetzt noch geht.

Das hat mittlerweile selbst die ewig in wechselnden Ämtern tätigen Politikerinnen und Politiker erfasst. Sie probieren und testen aus, entlang der Schnauze des Volkes. Wir müssen es doch den Seehofers, Sarrazins, Wehlers, Broders, Keleks und Giordanos nicht nachmachen und wollen nicht unter jedes Brautkleid schlüpfen um die Unterwäsche auf politische Korrektheit zu prüfen.

Bitte vergleicht. Geht auf ZEIT-Online und schaut euch an, was da in 1500 Zeichen Kommentaren zu den Brennpunktthemen steht. Loggt euch einmal ein, bei FAZnet, Welt-Online oder SPON.

Lest, was dort an unendlichen Kurzmeldungen in den Kommentarblöcken durchzieht und ihr werdet reuevoll wieder hierher zurück kehren. - Aber diese „dF“ Seiten wollen gepflegt und geliebt sein. Nicht vom Staat, nicht von den, aus ganz einfachen, ökonomischen Gründen zum Multitasking verdammten Journalisten-Moderatoren, sondern von uns.

Ein Rat Christoph Martin Wielands, der vielleicht helfen könnte:

„Das Letzte und Höchste zu wissen bleibt dem Menschen unerreichbar. Dafür möge er die Welt und nicht am wenigsten sich selbst mit leiser Ironie sehen. Was Natur und Schicksal gewähren, genieße er vergnügt und entbehre gern den Rest. Unterwürfig dem Geschick, nie geneigt, die Welt für ein Elysium oder für eine Hölle zu halten.“(Musarion, 1768)

Grüße

Christoph Leusch

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