Mord, unser liebstes Medienvergnügen, nach sechs

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Mord, der Deutschen liebstes Fernsehhobby

Am Wochenende muss wieder gut getötet worden sein. Wer die einschlägigen bundesweiten Papierzeitungen, von der FAZ, bis zur Rheinpfalz und ihre Online-Produkte durchforstet, der stellt erstaunt fest, dass die Arbeit der TV-Mordkommissionen, landauf landab, im Mittelpunkt der Helden- und Schurkengeschichten steht.

Zu familienfreundlicher Wochenendzeit und mittlerweile auch unter der Woche, vereinen sich die Deutschen vor den TV-Schirmen mitsamt ihren liebsten Feuilletonredakteuren, die ihre Freizeit- und Berufstätigkeit schon völlig auf die „Tatort“, „Polizeiruf“, „Staatsanwalts“- und „Soko“-Welt abgestimmt haben. Kein Tag vergeht ohne ausführliche Erörterungen zum Thema. Ein bundesweiter, medialer Maximaleinsatz an der Fernsehverbrechensfront.

Was kaum, oder nicht vorkommt, sind schauspielende Ermittler im ganzen Rest des bundesrepublikanischen Deliktwaldes. Dabei wäre es doch sehr sinnvoll, sich einige Zeit lang in Deutschlands beliebtesten Serien mehr mit Ermittlungen- und Hintergründen der restlichen Strafstatistik zu beschäftigen. Z.b. mit den beklagenswert häufigen und beklagenswert selten aufgeklärten Delikten im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftkriminalität, der Umweltdelikte, bei Einbruch und Diebstahl. - Bei dem wohl schlechtesten Tatort der letzten Monate, glaubt man den printenden und bloggenden, schreibenden Kritikern, muss es zuletzt in Bremerhaven besonders heiß her gegangen sein. - Mindestens vier Tote wurden im Film gezählt.

Und erst die Auftritte der Kommissarinnen! - Als Walküren der Strafgrechtigkeit werden sie porträtiert. - Unfehlbar, multitaskingfähig, stur, hyperaktiv und bestimmend. Meist blond und immerwährend lebenserfahren, meist mit einem unerschöpflichen Fundus an Zusatzqualifikationen und menschlichen Fähigkeiten ausgestattet, bringen sie die Täter zur Strecke. - Kurzum, Zerrbilder werden bevorzugt, allüberall.

Von der Kritik der Filmkritik in Schwundstufe abgesehen, eignet sich der letzte Tatortfall des Senders Bremen, einmal wenigstens, den Abgleich mit der Realität her zu stellen.

Nehmen wir an, die durchschnittliche, vollendete Tötungsrate bei Lürsen und Stedefreund läge bei zwei Leichen zu Lande, zu Wasser und aus der Luft, - Wir wissen ja, es waren an diesem Wochenende vier Opfer. -, und Radio Bremen darf zweimal im Jahr „Tatorten“, dann kommen wir, nach „Abschlag“, nicht immer geht es ja so blutrünstig zu, auf mindestens vier Leichen/Jahr aus dem Bundesland Bremen. - Das entspräche der Zahl der vollendeten Tötungen in Bremen und Bremerhaven, im Jahre 2008, zusammen genommen.

„Die Zahl der Tötungsdelikte sank gegenüber dem Vorjahr fast um die Hälfte von 62 auf 34. Davon waren 4 vollendete Tötungsdelikte (Vorjahr 6 und 2006 waren es 8). Daran wird deutlich, dass die Fallzahlen geringer sind, als die öffentliche Diskussion gelegentlich vermuten lässt. Auch die Zahl der Gewaltdelikte insgesamt verringerte sich, sie fiel von 3.783 auf 3.537.“

( www.senatspressestelle.bremen.de/detail.php?id=23413 )

Da der neueste Tatort gleich vier Leichen in Bremerhaven produzierte, überträfe diese Zahl die tatsächlich in Bremerhaven festgestellte Null für 2008 um vier Fälle! Die des Vorjahres 2007 , mit 2 um 100%. Ein Fünftel mehr Ermordete, als in diesem einen Lokal-Krimi bebildert wurde, gab es zuletzt 2004 in der Vorstadt Bremens!

( www.polizei.bremerhaven.de/fileadmin/Dateien/Oeffentlichkeitsarbeit/Statistik/PKS/PKS2008.pdf )

Wer sich die Zahlen für Bremerhaven über einen längeren Zeitraum anschaut, der vermutet zumindest, dass sich dort Tötungsdelikte antizyklisch zur Wirtschaftentwicklung verhalten. In Phasen der Hochkonjunktur wird mehr gemordet, in Phasen der Rezession sinken die Zahlen.

Ungewöhnlich, wie z.B. auch zuletzt am Bodensee, bei dem durchaus spannenden Grenzüberschreitungsfall der Tatort-Kollegin Klara Blum (Eva Mattes), ist auch die Verknüpfung von Berufsverbrechertum und Beziehungstaten und die immer häufigere Verknüpfung der Täter- und Opferbiografien, mit denen der jeweils ermittelnden Beamten. So etwas ist in der Realität eine absolute Rarität, eine „blaue Mauritius“ des Gewaltverbrechens.

Der Hang zu mehr tödlicher Gewalt im Medium, auch zu mehr Einfallslosigkeit als schon bisher, ist deutlich, und er widerspricht dem seit Jahrzehnten anhaltenden, gegenläufigen Trend bei den vollendeten Tötungsdelikten bundesweit. Zudem töten Berufsverbrecher mittlerweile deutlich seltener, als die Beziehungstäter ( de.wikipedia.org/wiki/Mord#Mord , bitte zur Tabelle der Jahreswerte nach unten scrollen).

Es wird Zeit für eine ernsthafte Medienkritik und auch dafür, das ästhetische und cineastische Konzept des deutschen TV-Krimis genauer zu beobachten. Sonst stehen wir als Publikum weiter vor der Scheibe des großen Tiefseeaquariums und halten es für ein Eins- zu-Eins Abbild der Nordsee.

Christoph Leusch

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