Sievert am Werkstor. Katastrophenthermometer?

Schreck in Sievert Das Sievert, jenes Maß der biologisch wirksamen Strahlungsenergie, ist die Einheit der Stunde. Sorglos misst man in Japan wenig, meist um die Havariereaktoren herum.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Sievert am Werkstor. Thermometer der Katastrophe? (16.03.2011, 18:30)

Seit einigen Tagen macht eine einzige Messtation als weltweiter Beurteilungsmaßstab für die Gefahr der Strahlung aus der Reaktorkatastrophe Epoché. Ein einziger und dazu sehr künstlicher Anhaltspunkt soll das Geschehen einordnen.

Am Werkstor des Kraftwerkskomplexes wird die Radioaktivität gemessen. Der Wert, gefiltert über den Betreiber und die Behörden, fließt dann in die japanischen Regierungsverlautbarungen ein und von dort gerät er in die Newsticker und Eilmeldungen der ganzen Welt, die zunehmend kaum noch unabhängige Augen in Japan hat. -Wer will sich schon freiwillig einem Strahlungsrisiko unbekannter Wahrscheinlichkeit und Größe aussetzen und dazu berichten? - Ganz offensichtlich beeindruckt dieser „Messwert am Werkstor“ auch die Haltung der japanischen Regierung und die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) publiziert ihre eher schmale Expertise mit diesen Werten (www.iaea.org/newscenter/news/tsunamiupdate01.html ).

Einerseits spürt man in den Statements die wage Hoffnung, wenn der Wert wieder einmal niedrig liegt, andererseits die höfliche Verzweiflung, springt der Millisievert -Stundenwert in die Zehner, Hunderter und Tausender. Ein ums andere Mal verkündet der Regierungsprecher die Zahlen und die Exekutive knüpft daran die Abberufung der Techniker oder ihren erneuten Einsatz, sowie die Beruhigung der Bevölkerung. - In der Realität können dort, um die Reaktoren von Fukushima I, nur noch Soldaten, Polizisten und Freiwillige Dienst tun. Arbeitsschutz zählt dort längst nicht mehr und er hilft auch nur noch begrenzt.

Wie heute bekannt wurde, wissen aber weder der Premierminister, noch seine Sprecher etwas mit den Zahlen des Kraftwerksbetreibers Tepco anzufangen. Selbst offensichtlicher Blödsinn wird als höchst offizielle Meldung verbreitet. Peinlich der Auftritt, in dem behauptet wurde, am Kraftwerkstor seien Werte im Bereich von Mikrosievert, also Millionstel-Sievert (!), gemessen worden, man habe aber fälschlich angenommen, es handele sich um Millisievert und daher von vermehrter Gefahr gesprochen, obwohl doch gar nichts passiert sei.

In einer Pressekonferenz vom 15.03.2011, 11 Uhr Japanzeit, räumte das der Sprecher der Regierung, Yukio Edano auch indirekt ein, wie es die Tageszeitung Ashai Shimbun (The Ashai Shimbun) in ihrer heutigen Ausgabe protokolliert (www.asahi.com/english/TKY201103150145.html ):

„Concerning the concentration of radioactive materials, monitors at 10.22 a.m. showed figures of 30 millisieverts in the area between the No. 2 and No. 3 reactors, of 400 millisieverts near the No. 3 reactor and of 100 millisieverts near the No. 4 reactor. Millisieverts are a different unit of measurement from the microsieverts we have been using in previous statements. Unlike the past unit that we had used, these figures show levels that could potentially affect human health. “

Solcher Zahlensalat und die höflich gesagt, eher naive Präsentation, wirken nicht sehr vertrauensbildend. Zumal die japanische Armee am Folgetag (heute) prompt ihre Versuche einstellte, das trocken gefallene Abklingbecken über dem Block 4 des Kraftwerks aus der Luft mit Wasser und Borwasser zu füllen. Mit einem Feuerlöschsack sollten Helikopter Wasser ablassen. Die aktuell austretende Radioaktivität hätte die Helikopterbesatzungen zu schwer verstrahlt.

Das Millisievert ist das Maß der Dinge

Sievert (J/kg) ist die Einheit der effektiven Strahlungsenergie, die auf Menschen und andere biologische Organismen einwirkt. Die veröffentlichten Werte in Millisievert (mSv)/Stunde, Sievert ist eine, im normalen Alltag zu große Einheit, kennzeichnen die Strahlenbelastung aus den havarierten und derzeit unkontrolliert dahin schmelzenden Reaktoren.

Der Unterschied zur physikalischen Strahlendosis, gemessen in der größenidentischen Einheit Gray (1 Gray= ebenfalls 1 J/kg), liegt im dimensionslosen Gewichtungsfaktor, der in den Dosis- Effektivwert nach Sievert immer eingeht.

Die Strahlungsarten Alpha-, Beta- und Gamma sind nicht gleich biologisch wirksam. Ebenso kommt es auf die Richtung, Streuung und Verteilung, auf die Tranportmedien und auf die Organe an, die die Strahlung aufnehmen. Die Einheit Sievert soll das sehr grob abbilden (www.gesundheitsamt.de/alle/umwelt/physik/strahl/ion/ra/eh.htm , Im Link sind die Wichtungsfaktoren für die Strahlungsarten und für einzelne Organbelastungen angegeben).

5000-7000 mSv, oder eben 5-6 Sv, als Einmaldosis, sind mit fast absoluter Sicherheit tödlich. 2000-3000 mSv sind in 50% der Fälle letal.

Um und an den Unfall-Reaktoren wurden kurzzeitig Werte von 8.000-10.000 mSv/Stunde gemessen. Über längere Zeiträume 200-400mSv/Stunde, in den meisten Zeiten Werte um 1-4 mSv/Stunde.

Selbst die niedrigstens Werte bedeuten, dass ein Mensch an einem Tag die in Deutschland erlaubte effektive Strahlungsdosis für ein ganzes Jahr ertragen muss. Allerdings scheint das Monitoring, -Ist es der Einwirkungen des Erdbebens und dann des Tsunami geschuldet, oder aber weil es gar kein ausreichend enges Messnetz gab?-, nur an sehr wenigen Plätzen im Katastrophengebiet vorgenommen zu werden.

In japanischen Zeitungen und natürlich weltweit in den Pressemedien, wird die Kurve gezeigt, die den Verlauf der Strahlungswerte über die Zeit der letzten Tage abbildet. Trügerische Hoffnung ist es, wenn darauf abgestellt wird, die Strahlung sei, amtlich gemessen, nur kurzfristig sehr hoch und sinke dann in einen relativ ungefährlichen Bereich.

Strahlenexposition ist kumulativ gefährlich! Eine Effektivdosis und die nächste pro Zeiteinheit, müssen zusammen gerechnet werden, um die gesundheitlichen Folgewirkungen abschätzen zu können. Gemessen werden überall Stundenwerte und so gelten Werte von 1mSv/Stunde als relativ ungefährlich, obwohl schon mit dieser „geringen“ Dosis nach ca. 20 Stunden unsere Grenze für den Jahreswert erreicht wird, und nach drei bis vier Tagen damit erhebliche, auch auf lange Sicht wirksame, gesundheitsgefährdende Strahlenmengen aufgenommen werden.

Zum Vergleich

Ein Atlantikflug belastet den Reisenden mit 0,05 mSv. Die Hintergrundbelastung, an die Menschen in Deutschland seit steinernen Zeiten gut angepasst sind, schwankt ein wenig von Ort zu Ort, je nachdem, wo überall in der Geologie und auch in der Bausubstanz geringe, aber sicher tolerable Strahlung freigesetzt wird. Sie beträgt durchschnittlich 2-3 mSv/ Jahr.

Zusätzlich gibt es noch eine Belastung aus der Medizintechnologie (CT!, Röntgen, radiologische Diagnostik, Strahlentherapie), aus Bergbauaktivitäten und aus der industriellen Anwendung radioaktiver Substanzen, von durchschnittlich ca. 1 mSv/Jahr.

Ein beruflich strahlenexponierter Mensch, ohne beständigen Schutz, darf in Deutschland nicht mehr als 20 mSv/Jahr ausgesetzt sein, die übrige Bevölkerung keiner höheren zusätzlichen Jahresdosis als 1 mSv! Die Gesamtdosis eines beruflich Strahlenexponierten soll für seine Lebensarbeitszeit nicht über 400mSv liegen.

Entwarnung und Alarm im schnellen Wechsel, ein Ablenkungsmanöver aus Unsicherheit

Was sagen also die Werte für die unmittelbare Umgebung des Reaktors?

Erstens, erreichen die Arbeiter dort schon nach wenigen Stunden, in einigen Fällen nach Minuten mindestens das 20-30fache der Jahreshöchstwerte! Zweitens, erleiden diejenigen, die bei einer Gasexplosion oder beim „Venting“ (Lüften), in der Nähe sind und nicht in schwerer Schutzkleidung und mit schwerem Atemschutz ausgestattet waren, eine Verstrahlung, die nach Minuten bis zu ein paar Stunden gesundheitsschädliche Ausmaße erreicht, nach einer Latenzzeit, sogar tödlich hoch sein könnte.

An den stark beschädigten Reaktoren kann nur noch im schnellen Schichtwechsel gearbeitet werden. Da werden Erinnerungen an Tschenobyl wach. Direkt an die Containments der Brennelemente kommt wohl keiner mehr. Messinstrumente gibt es dort, nach heftigen Knallgas- Explosionen, nachdem Feuer wüteten und extreme Strahlungsspitzen auftraten, sowieso nicht mehr.

Behelfspumpen der Feuerwehr liefern eine Art Notkühlung mit Meerwasser, von der aber keiner mehr sagen kann, ob sie überhaupt noch wirkt, denn die Pumpleistung ist wesentlich geringer als die der ausgefallenen Notkühlaggregate.

Die isotopenreine Borsäure (10B) als bester Neutronenfänger, dürfte mittlerweile zur Neige gehen. Nachschub aus den Nuklearstaaten mit Vorhaltekapazitäten und aus den Hauptproduzentenländern USA und Turkei wäre daher dringlich. Offenbar hat Südkorea seine Borsäure-Reserven nun nach Japan geschickt. Wir müssten das, meinen wir es ernst mit der praktischen Hilfe, eigentlich auch tun!

Bisher verhinderte allein das regelmäßige Ablassen der radioaktiv belasteten Gas- und Dampfmengen aus den Reaktorkernen noch größere Explosionen, bei denen dann, neben den Spaltprodukten, auch das Uran und Plutonium der Brennstäbe weiträumig freigesetzt worden wäre. Was am Boden der Kernreaktor-Hüllen passiert, weiß derzeit niemand aus einer Anschauung, sondern nur aus einer theoretischen Spekulation dazu, was sich dort abspielt. - Kurzum, es herrscht Konfusion. Aber die Zeit für Verharmlosungen, die Gesundheit der Bevölkerung sei nicht massiv gefährdet, die ist endgültig vorüber.

Strahlungsmessung zur Vorsorge und Kontrolle

Das Werkstor und ein paar weitere Messwerte von anderen Orten, reichen zur Abschätzung der Risiken nicht. Denn Strahlungsmessungen müssen große Gebiete engmaschig erfassen.

Wie die Tageszeitung Mainichi Shimbun (The Mainichi Daily News) zusammenfassend berichtet, lagen die Stundenwerte in den letzten Tagen, in den nördlichen und westlichen Provinzen um Fukushima länger um 5- 20mSv. In Tokyo durchschnittlich bei einem Millisievert/Stunde (mdn.mainichi.jp/mdnnews/news/20110316p2a00m0na014000c.html ).

Viel mehr Messungen, das fordern auch Strahlenmediziner, die sich mit der Situation nach dem GAU in Tschernobyl befassten und dort langjährig Erfahrungen sammeln konnten, wie etwa der Münchner Nuklearmediziner und Strahlenphysiker Edmund Lengfelder.

Punktmessungen warnen lediglich vor einer akuten Gefahr am Ort der Messung. Sie protokollieren nicht die Ausbreitung, Verdriftung und Strahlungsintensität, die in den Luftschichten über den Havariereaktoren herrscht und bis zu mehreren hundert Kilometern weiter weg, wirksam werden können.

(Bei meiner Recherche auf den Seiten der englischsprachigen Tages- und Wochenzeitungs-Ableger der japanischen Presse ist mir der sehr zurückhaltende und moderate Sprachstil aufgefallen. Selbst die haarsträubendsten Aussagen der Kraftwerksbetreiber (Tepco) und der Regierungssprecher, werden nur im höflichen und formvollendet- sachlichen Ton, milde kritisiert, obwohl z.B. die beiden zitierten Blätter zur Regierung in Opposition stehen. - Jedenfalls lese ich das so. - Aber ich bin ja auch kein Japaner, für die das vielleicht schon den Gipfel der Kritik darstellt.)

Christoph Leusch

PS: Gerne verweise ich zur Frage des "Einheitensalats", aber auch zu der der weitgehenden Ahnungslosigkeit sonst reputierlicher Institutionen, auf das knappe, aber sehr präzise Blog von Kathrin Zinkant (dF), "Strahlensalat: Mr. Sievert, Madame Curie und das Wildschwein", www.freitag.de/community/blogs/kathrin-zinkant/strahlensalat-mr-sievert-madame-curie-und-das-wildschwein

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden