Die neue Unachtsamkeit, das ewige Vorurteil, es wird zum Urteil

Werte oder Interessen Interessen zählen, so klingt es heute rational, seltsam steril und neutral. Werte unbedingter und allgemeiner Art, gelten hingegen als Hemmnisse der Entscheidung, für den eigenen Vorteil.

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Die neue Unachtsamkeit, das ewige Vorurteil, es wird zum Urteil


Im „der Freitag“ wurden erste Artikel abgedruckt, die sich aus irgendwie linker Sicht, noch ist es rhetorisch und utopisch, mit der Frage beschäftigen, ob die Diskussionen um verfasste Grundwerte, das entwickelte und gesatzte Völkerrecht und die allgemeinen Menschenrechte, sowie die werte- und geschichtsbasierte Staatsräson, nicht gerade daran existenziell kranken, diese Vorgaben überhaupt für unabdingbar zu halten.

Der rhetorische Hauptangriff gegen Moral und Werte, natürlich immer zum Besten der Menschen, erfolgt zumeist über einige Annahmen der Superkritik, die sehr populär sind, um nicht zu sagen populistisch. Daher werden diese Punkte millionenfach im Web und auf den digitalen Diskurs - Plattformen bei TV- Anstalten und Zeitungen, die allerdings nicht mehr sind als unendliche Ausdehnungen der früher einmal gängigen Leserbriefspalten der Presse, begierig aufgegriffen und wiedergekäut.

Die Entzauberung der Werte

Es gehe grundsätzlich und zuerst um eigene Interessen. Vor allem die eminent politisch denkenden neuen Rechten, mit ihrem engeren Anhang, fühlen sich bestätigt und dringen mit dieser Ansicht bei Wählern, weniger allerdings bei Wählerinnen aus bürgerlichen und proletarischen Schichten vor. Manche Linke versuchen es ebenso, obwohl sie dabei nicht wirklich mithalten können. Schließlich dräut im stillen Seelenkämmerlein der am Herzfaden aufgehängte Humanismus, dem sich die letzten Internationalen eigentlich verschrieben hatten.

Erstens entzaubere die Doppelmoral das Gerede von Werten. Nicht immer, sogar meist nicht, so der Vorwurf, werde je nach den Grundregeln der wertebasierten Ordnung gehandelt. Unterschiede pflege man, wie die Orwellschen „Masterclass“ - Schweine.

Zweitens gelte die allgemeine Beobachtung, dass maßgebliche Teile der bürgerlichen Bevölkerungen, aber auch Staaten oder Nationen, erklären, sich nicht mehr an solche Grundsätze gebunden zu fühlen, sondern ureigenen Werten und Maßstäben folgen wollen.

Drittens überzeuge der aktuelle politische Erfolg dieses Gegentrends, nämlich die Durchsetzung autochthoner Interessen, die zum Leitstern jeder politischen und gesellschaftlichen Überlegung, viel mehr aber noch, zum Motor beständiger politischer Handlungen wurden. Politisch feiert daher der exklusive Nationalismus Triumphe.

Viertens spräche der Wille zur Macht, zur Verwendung der Macht, gegen jenes ewige Palaver von der Akzeptanz und Toleranz, von der auszuhaltenden Differenz in der Gesellschaft und jenem Zwang zum Aushandeln. Das neue interessegeleitete Denken, das ausdrücklich keine Mode sei, sondern näher der Wahrheit und der Realität liege, auch wenn es dabei öfter einmal gemein zugehen müsse, ein bisschen schweflig rieche und einige Gewissensreste plagten, benenne klarer die eigenen Ziele und jene, die dabei stören.

Das Lustgefühl der befreiten Taten, im eigenen Interesse, einer einigen und so erfühlten Mehrheit, gegenüber den zahlreichen Minderheiten, die einzeln oder im Zusammenschluss als Bedrohung gelten, sei es für das Volk, sei es für die ominöse Mitte, sei es für das „gesunde Volksempfinden“, sei es für die eigentliche Bürgerlichkeit, die sich andauernd unterdrückt und gezwängt sieht, dringt in alle Poren der Öffentlichkeit und der Kultur. Es setzt oft schon einige Zeiten vor der Machtübernahme die gesellschaftlichen Akzente und beherrscht die „Straße“, die bei uns heute eher eine virtuelle und regionale Form annimmt. Da werden Zonen seltsamer Befreiungen geschaffen und die Furcht vor den Fremden schamlos ausgenutzt.

Bildung und Intelligenz schützt vor falschen und bösen Urteilen nicht,...

>>Man hat heutzutage mehr Magister der Rechtschaffenheit als rechtschaffene Menschen.<<, schrieb spöttisch einer meiner deutschen Lieblingsaphoristiker, Georg Christoph Lichtenberg.

Er war sicherlich einer der hellsten Köpfe seiner Zeit, ein veritabler Intellektueller und Aufklärer, ein geradezu unerbittlicher Streiter gegen die Experten der wissenschaftlichen Klassifikation von "Scheißhaufen", ein Liebhaber der Schimpf- und Schandwörter, ein Nutzer derselben, und er war durchgefärbter Antisemit.

Daher lieferte er, unter hunderten und tausenden aphoristischen Einträgen, die in kaum mehr zählbaren Lichtenberg- Aphorismensammlungen auftauchen, auch den Judenhass in totaler Ausprägung: >>Nebst meinen eigenen bösen Begierden haben mir immer die Juden am meisten zu schaffen gemacht.<<, oder >>Die Juden, die sich in die Gesellschafft aller Völker eingeschachert haben. Dieses verräth schon das Ungeziefermäßige<<.

Lichtenbergs „Programm“, unfreiwillig zukünftig, mit langer dreifaltiger Wirksamkeit, unterbewusst, vorbewusst und bewusst:

»Juden: Daß man einige Familien aus Göttingen verbannt hat, ist ja kein Eingriff in den großen Plan zu ihrer Verbesserung, es ist ja bloß ein untergeordnetes Verfahren gegen sie, während die große Absicht immer fortdauern kan. Ja dieses kan dazu dienen jenen Plan zu befördern. Ueberhaupt begreift man nicht,was eine so große Empfindlichkeit gegen den Zustand der Juden bey uns bedeuten soll. Ist denn dieses Volck so wichtig und so Genievoll, so furchtbar für uns, dass wir es mit solcher Gewissenhaftigkeit hegen sollen? Dieses sehe ich nicht. Warum sollen wir unsern Boden anders bearbeiten um eine sehr unnütze Frucht zu nähren, die unter unserem Clima nicht gedeiht, und sich auch nicht nach ihm bequemen will? - Jezt erklärt der erbärmlichste Betteljude seinen traurigen Zustand durch Christendruck. Coalisiert man sie mehr, öffnet ihnen alle rechtliche Wege zu Handel und Wandel, wobey jene Entschuldigung wegfällt, so werden sie finden, was für ein erbärmliches Volck sie sind. MENDELSOHN ist viel zu viel erhoben worden. Hätte er in einem gantz jüdischen Staat gelebt, so würde er ein sehr gemeiner Verbreiter ihrer abgeschmackten Ceremonien u.s.w. geworden seyn. - Berlin ist es und nicht Judäa oder Jerusalem was ihm einigen Vorzug gab. Es müßte ja mit dem Teufel zugehen, wenn ein Geschöpf, das wenigstens Menschengestalt hat, nicht hier und da für Wahrheit empfänglich seyn solte. Er war empfänglich dafür, und das gereicht ihm zur Ehre. - Ich sehe nicht warum wir mit vielem Aufwand eine Pflantze bauen sollen, die sich nicht für unser Clima schickt und die uns wahrlich nichts einträgt, bloß aus dem empfindsamen Princip, dass das Pflänzchen nicht verlohren gehe.«

Direkt danach folgt noch:

»Unter allen Uebersetzungen meiner Werke, die man übernehmen wolte, verbitte ich mir ausdrücklich die ins Hebräische.«

Ein paar Aphorismen und Sentenzen später:

»Ueber die Juden: Selbst, wenn man den Entschluß gefaßt hatte sie künfftig zu bessern, so mußten sie pro nunc weggeschafft werden, so lange bis sie gebessert sind, wozu wenig Hofnung war. Die Besserung dieses in unserm als ihrem eignen Sinn unverbesserlichen Geschlechts konte hier nicht unternommen werden. Der Universitäts-Acker ist nicht das Feld Versuche anzustellen ob sich aus Nessseln etwas machen läßt, dazu wähle man andere Felder.(…)«

(Schreibweise bei allen Zitaten belassen)

...Nachplappern auch nicht

Dagegen, so denke ich, ist die Schreibe eines lieben, friedfertigen und nur das Beste für die Menschheit wünschenden Mitglieds der der Freitag „Community“, von den "Finanzschacheren", im Rahmen eines rostigen Kommentarforums,, der sich auf einen fast alltäglichen Podcastschwatz der bei uns prominenten Medienintellektuellen Precht und Lanz stützt, eine eher weichgespülte Variante des Alltagsantisemitismus.

Was da weiterlebt und sich auslebt, wächst jedoch aus dem gleichen Pfuhl sozial und kollektiv vererbter Untiefen, mag das kollektiv Unbewusste auch längst allgemein bekannt und ans Tageslicht gehoben sein.

Wenn die Politik amoralisch wird...

In den USA versucht gerade ein Mann mit deutschem Nachnamen zu vollenden, was er in seiner ersten Amtszeit als Präsident des Landes nicht schaffte, weil er letztlich doch zu inkonsequent darin war, die Wünsche seiner Anhänger zu befriedigen.

Der mögliche Putsch scheiterte an seiner Trägheit und Schlampigkeit, sowie an einigen wenigen Republikanern in der Exekutive, die dieses Mal noch nicht mitspielen wollten. Große Teilerfolge hat er bereits erzielt, auf dem Weg zu MAGA (Make America Great Again). Die von ihm eingesetzten höchsten Richter seiner Landes, erlaubten die erneute Versklavung der ungewollt schwangerer Bürgerinnen, wenn es die politische Mehrheit in dem jeweiligen Bundesstaat will oder es das Wahlvolk beschließt. Seither habe sieben weitere Bundesstaaten entsprechende Gesetze auf den Weg gebracht und ein gutes Mandel fühlt sich bestätigt.

Was hat nun dieser alte weiße Mann am 11.September 2023, vor einer zahlreichen und dazu jubelnden Anhängerschaft, in der Claermonter Stevens High School (New Hampshire) versprochen?:

»We will put America first and today, especially in honor of our great veterans on Veterans Day, we pledge to you that we will root out the communists, Marxists, fascists and the radical left thugs that live like vermin within the confines of our country.«
(Wir werden Amerika an die erste Stelle setzen und heute, besonders zu Ehren unserer bedeutenden Veteranen, am Veteranen – Tag, versprechen wir euch, wir werden die Kommunisten, Marxisten, Faschisten und die radikalen linken Kriminellen, die wie Ungeziefer in den Grenzen unseres Landes leben, ausradieren)

Sein Wahlkampfsprecher, Steven Cheung, antwortete auf die massive Kritik, Trump klinge wie Hitler oder Mussolini:

"Those who try to make that ridiculous assertion are clearly snowflakes grasping for anything because they are suffering from Trump Derangement Syndrome and their sad, miserable existence will be crushed when President Trump returns to the White House."
(Diejenigen, die versuchen, diese unsinnige Behauptung aufzustellen, sind Liberale, Woke, Sensibelchen, Schwächlinge ihrer Generation (aktueller Bedeutungshof des rüden Schimpfwortes „snowflakes“,m.Einf.), die nach irgendwas greifen, weil sie am Trump Derangement Syndrom (der Neurose, alle Trump Aussagen und ihn selbst schlecht zu finden, m.Einf) leiden und ihr trauriges miserables Dasein wird zerstört werden, wenn Präsident Trump ins Weiße Haus zurückkehrt).

...und manche Journalisten willig folgen

Von „Snowflakes“, dem derzeit modischen Abwertungswort, faselte jüngst auch der journalistische erste Mitfahrer par excellence, Nikolaus Blome. Die "Schneeflocken" tauen bei ihm dort weg, wo es grünt und noch ein wenig rot schimmert.

Vereinfachung der Welt, durch die Tat

Vernichtungsfantasien, die Realität werden sollen, sind wieder en vogue: In Trumps präsidialer Rhetorik, bei radikalen jüdischen Siedlern und deren politischen Vertretern in der Knesset oder im Kabinett des noch regierenden Premiers Netanyahu, bei den Terroristen der Hamas und ihren islamistischen Partnern, bei der polnischen Rechten und den dortigen Rechtsradikalen, die im Parlament sitzen dürfen, im Medien- und Politikalltag der Russischen Föderation zu jeder Stunde.

Die „Endlösungen“ werden wieder vorgetragen. Sei es, um jede politische Opposition abzuschaffen; sei es, um gegen ausländische „Agenten“ vorzugehen; sei es, um die als Last empfundenen Fremden und das irgendwie Diverse, selbst in der Sprache, auszuschaffen. - Sehr oft berufen sich die Propagandisten dieser neuen Aufrichtigkeit auf den „Willen des Volkes“.

Wie weit zurück, gar in harmlos erscheinenden, literarischen Texten versteckt, diese Sehnsucht reicht, schrieb einst, mehr oder weniger absichtlich, der Dichter und Schriftsteller Eduard Mörike, in seinem "Maler Nolten":

>>Weber:....Nehmt nur einmal: Unsere Kolonie besteht schon sechzig Jahre hier, ohne daß außer den Störchen und Wachteln auch nur ein lebend Wesen aus einem fremden Weltteil sich übers Meer hierher verirrt hätte. Die ganze übrige Menschheit ist, sozusagen, eine Fabel für unsereinen; wenn wir's von unsern Vätern her nicht wüßten, wir glaubten kaum, daß es sonst noch Kreaturen gäbe, die uns gleichen. Da muß nun von ungefähr einem tollen Nordwind einfallen, die paar Tröpfe, den Unrat fremder Völker, an diese Küsten zu schmeißen. Ist's nicht unerhört?<<
(...)
>>Schmied: Wohl, wohl! Ich weiß noch als wär's von gestern, wie eines Morgens ein Johlen und Zusammenrennen war, es seien Landsleute da aus Deutschland. All das Fragen und Verwundern hätt kaum ärger sein können, wenn einer warm vom Mond gefallen wär. Die armen Teufel standen keuchend und schwitzend vor der gaffenden Menge, sie hielten uns für Menschenfresser, die zufällig auch deutsch redeten. Mit Not brachte man aus ihnen heraus, wie sie mit einer Ausrüstung von Dingsda, von – wie heißt das große Land? nun, von Amerika aus, beinah zugrund gegangen, wie sie, auf Booten weiter und weiter getrieben, endlich von den andern verloren, sich noch zuletzt auf einigen Planken hierher gerettet sahen.

Glasbrenner: Hätt doch ein Walfisch sie gefressen! Der eine ist ohnehin ein Hering, der winddürre lange Flederwisch, der sich immer für einen gewesenen Informator ausgibt, oder wie er sagt, Professor. – Der Henker behalt alle die ausländischen Wörter, welche die Kerls mitbrachten. Ein Barbier mag er gewesen sein. Sein Gesicht ist wie Seife und er blinzelt immer aus triefigen Augen.<< (Schreibung belassen)

Christoph Leusch

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