10. Jahrestag: Anschlag auf UN in Bagdad

19. August 2003 Um 16.28 h verübte Al Qaida einen ersten Anschlag auf UN-Einrichtungen, miterlebt in Pemba, Cabo Delgado-Provinz, Nord-Mosambik

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Kommentar zum Foto: K. hatte ihr Büro im ersten Stock und befand sich dort während des Anschlages. Es war das erste, deren Mauern beim Bombenanschlag nicht zusammenkrachten. (Im Foto direkt in der Mitte zu sehen.) Das Büro von Sergio Viera, dem Sonderbotschafter der UN in Bagdad, befand sich gerade daneben im eingestürzten Teil des Gebäudes, wo er und ein Kollege unter den Trümmern verschüttet wurden. Nach vergeblichen stundenlangen Rettungsversuchen wurde Sergio von den über ihm liegenden Betonteilen erdrückt. Sein Kollege konnte gerettet werden. Das war nur möglich durch die Amputation eines Beines, das ebenfalls durch tonnenschwere Trümmer eingeklemmt war.

Im Jahr 2008 erklärte die Generalversammlung der UN den 19. August zum "Welttag der humanitären Hilfe"

Wie ich Dienstag, den 19.8.2003, in Pemba, Nord-Mosambik, erlebte

8.00 h, Büro in der Provinzregierung von Pemba

Wiederholung der nimmer endenwollenden Projekt-Probleme mit der Administration der UN in New York, in Maputo (Hauptstadt von Mosambik) und in Pemba (Provinz-Hauptstadt von Cabo Delgado im Norden des Landes an der Grenze zu Tansania). Es geht um die Umsetzung des Projektes zur Stärkung der Öffentlichen Provinz-Verwaltung und der aktiven Mitbestimmung der Zivilgesellschaft in Kreisen und Gemeinden. Hauptsponsor des Projektes ist Norwegen. Die Gelder sind buchstäblich im bürokratischen Sumpf von New York und Maputo versackt, wo zahlreiche bestbezahlte Bürokraten die Tage in der Sorge um ihr persönliches Dasein und das ihrer Familien totschlagen. So müssen notwendigerweise die eigentlichen Projekt-Aktivitäten am Ende der Bürokraten-Kette, wo die betroffene lokale Verwaltung und die Menschen in den Kreisen und Gemeinden auf fachkundige Unterstützung warten, quälend vor sich hin ruhen. Trotzdem könnten meine Kollegen und ich mit unserem Wissen im Kopf und den uns zur Verfügung stehenden Fahrzeugen bereits wesentliche Ausbildungseinheiten durchführen. Die mit sich selbst beschäftigte UN-Bürokratie bringt mich nicht nur hier im Norden Mosambiks auf die Palme. Es ist beinahe die Regel, dass dieser riesige überbezahlte UN-Wasserkopf nur noch sich selbst genügt. Ausnahmen sind humanitäre Nothilfe-Massnahmen und UN-Blauhelmeinsätze.

9.00 h, in der Provinzregierung in Pemba

Ich schere mich schon seit Monaten nicht weiter um die Untätigkeit von Kollegen und Bürokraten auf allen Ebenen, die den Mittelabfluss von New York bis in den Norden Mosambiks zu verantworten haben, und fahre mit der Ausbildung meiner Counterparts (nationale Verantwortliche der Planungsabteilung für Wirtschaft und Soziales) in der Provinzregierung fort.

12.30 h, in meinem angemieteten Haus am Strand von "Wimbe"

Meine Haushälterin A. hat mir zum Mittagessen ein Hühnchen mit Reis und Erdnusssosse zubereitet. Als Beilage gibt es grünen Salat mit Tomaten. Zum Nachtisch Papaya und Banane. Wie immer schmeckt alles vorzüglich.

13.30 h, in meinem Haus am Strand von Wimbe

Anruf von K. aus Bagdad. Sie befand sich gerade in der Mittagspause.

Bei ihrem letzten Besuch vor einem Monat hatte sie mein langes Zögern gebrochen, endlich ein eigenes Handy zu besitzen. Meine Aversion gegen dieses technische Hilfsmittel kam nicht von ungefähr. Viele meiner Kollegen unterbrachen ihre Arbeit immer wieder durch endlose Gespräche, die scheinbar keinerlei Aufschub bedurften. K. bestand darauf, sie müsse mich aus welchem Winkel der Erde auch immer jederzeit anrufen können. Da ihr nächster Einsatz Bagdad war, gab ich meine Widerspenstigkeit auf. Der ungerechtfertigte und gegen internationales Recht verstoßende Krieg der US, Großbritanniens und weiterer "williger" Staaten, verhieß nichts Gutes und könnte für K.'s Arbeit jederzeit unvorhersehbare Schwierigkeiten heraufbeschwören. Die verlogene US-Argumentation der Verfügung von Massenvernichtungswaffen und der Kollaboration des Husseinregimes mit Al Qaida begann inzwischen der Rechtfertigungsformel einer unausweichlichen US-Mission zum Export der Segnungen von US-Demokratie und -Staatsbildung Platz zu machen. Ich fühlte mich erinnert an die Mission der katholischen Kirche bei der Eroberung Lateinamerikas, als die "wilden" Völker des Kontinents mit Brachialgewalt "inkulturiert" werden mussten, um als gleichwertige Menschen anerkannt zu werden.

K. hatte innerhalb der UN-Mission in Bagdad die Aufgabe, die vorgesehene Geberkonferenz für Irak im kommenden Oktober in Madrid vorzubereiten. Während ihres Besuches hatten wir ausführlich das Für und Wider der UN-Mission in Irak erörtert, die ich strikt abgelehnt hatte. Im Gefolge der US-Invasion konnte die UN-Mission als stillschweigende Anerkennung der US-Politik gedeutet werden. Aber Kofi Annan, Generalsekretär der UN, und sein Sonderbotschafter im Irak, Sergio Viera de Mello, hatten auf Anraten des Sicherheitsrates der UN die Auffassung vertreten, die UN könnten im vom Krieg überzogenen Land dringende humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung vorsehen und vor allem in der Nachkriegsphase eine zur Versöhnung aufrufende Staats- und Nationenbildung auf den Weg bringen helfen. Insgeheim hofften sie, den zerstörerischen Elefantenschritten der US-Supermacht mithilfe diskreter aber wirkungsvoller Arbeit, zusammen mit den verschiedenen Volksgruppen, eine von den Irakern selbstbestimmte Politik entgegenzusetzen. Dieses Argument, so wünschenswert auch immer es war, schien mir angesichts der rücksichtslosen US-Militärmaschinerie und eines machtgierigen, missionsbesessenen und intellektuell äußerst beschränkten Präsidenten eine gefährliche Illusion zu sein. Die US, ökonomisch bereits ein relativer "Papiertiger", glaubte durch willkürliche Aneignung von fremden Energieressourcen den Niedergang als alleinige Supermacht wenigstens zu verlangsamen. Immerhin war man auf den Gebieten der Militär- und Informationstechnologie noch einsame Spitze.

Nach langer Diskussion hatte ich K. zugesagt, sie in Irak nicht allein zu lassen und mich als Berater für interkulturelle Versöhnungspolitik zu bewerben, um dementsprechende Projektvorhaben zusammen mit allen beteiligten Volksgruppen auszuarbeiten. Aber wie K. mir beschrieb, steckte meine Bewerbung wie üblich noch im Dickicht einer UN-Bürokratie, die in dieser Phase des Krieges alle Mühe hatte, angemessen auf die täglichen Herausforderungen einer Kriegssituation zu reagieren.

Unsere Telefon-Diskussion endete nach einer halben Stunde. Sie hatte sich zu einem Treffen mit fünf anderen Kollegen von verschiedenen UN-Agenturen verabredet, um mit diesen weiter an der Vorbereitung der Madrid-Konferenz zu arbeiten. Das Treffen sollte in ihrem Büro stattfinden, das in unmittelbarer Nachbarschaft von Sergio Vieras Büro im hinteren Teil des Canal Hotels lag. Wir machten ein erneutes Telefongespräch aus, sobald die Situation in Bagdad es erlaubte. Und selbstverständlich wünschten wir uns gegenseitig das Beste bei der Arbeit.

14.30 h, in meinem Arbeitszimmer im Haus am Strand von „Wimbe“

Ich blieb an diesem Nachmittag zuhause, um weiteres Ausbildungsmaterial für Lehrgänge von Gemeindeverantwortlichen zu erstellen. Gegenüber von meinem Arbeitszimmer lag das Wohnzimmer. Beide Zimmertüren hatte ich offen gelassen, um den laufenden Euro-News-Nachrichten mit einem Ohr folgen zu können. In Irak musste stündlich mit Geschehnissen gerechnet werden, die K.'s und auch mein Leben beeinflussen könnten. Am 7. August hatte der Al Qaida-Ableger in Irak einen ersten Bombenanschlag auf die Jordanische Botschaft verübt. Ein Lastwagen war vor die Botschaft gefahren. Der Fahrer hatte das Fahrzeug verlassen, da er vom Sicherheitspersonal am Weiterfahren gehindert wurde. Per Fernzündung wurde das Attentat ausgeübt. Es gab 17 Tote und 40 Verletzte. Alle waren Iraker. Wie später von Al Zarqawi, dem Chef des Al Qaida-Ablegers in Irak und gebürtigen Jordanier, zu erfahren war, galt der Anschlag seinem eigenen Land, das die Invasion der US politisch unterstützte.

Bevor A. sich verabschiedete, um als Alleinerziehende die Obhut ihrer drei Kinder am Nachmittag und Abend in die Hand zu nehmen, bereitete sie mir einen Kaffee und versprach, nach dem alten Nachtwächter zu sehen. Immer könnte eine plötzlich auftretende Krankheit sein Kommen verhindern. Hinter vorgehaltener Hand sprachen die Einheimischen über die "Jahrhundert-Krankheit", wenn ein Krankheitsbild chronisch war und trotz Behandlung langsam zum Tode führte. Das Wort "Aids" oder "Sida" (im Portugiesischen) wurde tunlichst vermieden, aber der schleichende Tod forderte unerbittlich Opfer um Opfer. Der Wahrheit, dass auch in Afrika der Aids-Tod seit nahezu 20 Jahren lautlos seinen kriegerischen Siegeszug angetreten hatte, wollten nur wenige Regierungen offen ins Auge sehen.

Für den Abend hatte ich einer Spanierin, die ihre Arbeit in einer Nichtregierungsorganisation beendet hatte, zugesagt, mit ihr und ein paar Freunden im Pemba Beach Hotel ihren Abschied aus Mosambik zu feiern. Dieses damals völlig neue Hotel, in arabischem Stil erbaut, war die Touristenattraktion in Pemba. Es sah von Weitem aus wie ein arabisches Märchenschloss direkt an einer Bucht am Indischen Ozean gelegen, etwa drei Kilometer gegenüber von meinem Wimbe-Strand.

"Mein" Wimbe Haus-Strand ist ein kleines Paradies. Feiner, weißer Sandstrand vor türkisfarbenem seichten Meer, das hin und wieder mit Korallen durchsetzt ist. Bevor der Strand durch die Strandpromenade begrenzt wird, spenden schlanke Kokospalmen Schatten und geben den Jugendlichen Gelegenheit, Kletterkünste zu beweisen. Gegenüber den 80er-Bürgerkriegsjahren, in denen ich schon einmal in Mosambik und Cabo Delgado im Rahmen der Nothilfe gearbeitet hatte, gab es jetzt am Wimbe-Strand einige Cafés und Restaurants, die besonders an Wochenenden beliebtes Ausflugsziel waren. Mir diente der Wimbe-Strand zum willkommenen Strandlauf, gewöhnlich bei untergehender Sonne, und zum Schwimmen, wann immer ich Lust auf eine Erfrischung hatte. Mein Haus lag auf der gegenüberliegenden Seite der asphaltierten Strandpromenade. Diese kann von meinem Haus aus barfuß und in Badehose überquert werden und schon befindet man sich im kleinen "Paradies auf Erden".

16.28 h, in meinem Arbeitszimmer am Schreibtisch sitzend

„Breaking News“ tönte es urplötzlich aus dem Satelliten-Fernseher: „Bombenanschlag auf das Canal Hotel in Bagdad, den Hauptsitz der UN in Irak“.

Wie elektrisiert sprang ich auf und rannte ins Wohnzimmer vor den Fernseher. Auf dem Bildschirm erschien das in Staub gehüllte und zur Hälfte zerstörte Canal Hotel. Die Stimme des Sprechers überschlug sich: Vor einer Viertelstunde hätte eine riesige Explosion die Hälfte des Gebäudes zum Einsturz gebracht. Der Angriff erfolgte von der Rückseite des Gebäudes aus, das nur wenige Meter von einer vorbeiführenden Nebenstraße entfernt lag. Dazwischen befand sich eine mannshohe Mauer. Genau an dieser Seite lagen die Büros von K. und von Sergio. Die Vorderseite des Hotels war von Polizei bewacht und schwer zugänglich.

Vor dem Gebäude fuhren die ersten Rettungswagen vor. Dann schwenkte die Kamera ins Innere des noch zugänglichen Hoteltraktes. Staubübersäte irrende Gestalten versuchten, ins Freie zu gelangen. Mir stockte Herz und Atem. Ich versuchte verzweifelt, K. unter den nach draußen flüchtenden Menschen zu erkennen.

„Mein Gott, was ist meiner liebsten K. geschehen?“

Vor und in dem Gebäude herrschte das reinste Chaos. Niemand schien in dieser ersten halben Stunde die Rettungsarbeiten zu koordinieren. Die Besatzungsmacht der Amerikaner war zuständig für die Erste Hilfe zugunsten der Internationalen Gemeinschaft. Aber sie war nur unzulänglich für eine derartige Situation ausgerüstet. Ihr Schwergewicht lag auf der Kriegsführung, nicht auf der Katastrophenhilfe.

Der Sprecher sprach von Dutzenden Toten und noch mehr Verletzten. Unter den herausgetragenen Leichen und den Verletzten konnte ich K bei bestem Willen nicht ausmachen. Sergio Viera lag im Todeskampf unter Trümmern vergraben und hoffte auf Rettung. Mein Hals war trocken, meine Augen schienen aus meinem Kopf zu drängen. In diesem braute sich ein Gemisch aus Wut, Trauer und Verzweiflung zu einem nie gekannten Schmerz zusammen. K. war telefonisch nicht zu erreichen. Die UN-Zentrale in New York war blockiert. Nach mehr als einer halben Stunde hielt ich es vor dem Fernsehschirm nicht länger aus. Ich stürzte aus dem Haus.

17.30 h, Wimbe-Strand

Wie ein Verrückter rannte ich den Strand hinauf und hinunter. Die Tränen brachen ungehemmt aus meinen Augen, rannen über Gesicht und Hals und versperrten mir die Sicht auf „mein Paradies“. Ich weinte unablässig mit halblauter schmerzender Stimme: „Liebste K., ich will nicht, dass Du für immer von mir gehst. Warum müssen die kranken Welten von Bush und Bin Laden unser Leben zerstören? Du musst leben! Wir beide müssen leben! Es gibt doch noch so vieles zu tun!“

Gottseidank brach die Abenddämmerung herein. Der Strand war verlassen und gehörte nur mir, meinem Schmerz, meinem Wimmern und Hoffen auf das Wunder des Überlebens von K. Die Lichter in Häusern um den Strand herum gingen an, nur der Strand selbst, das Meer und ich waren in Dunkel und Seelenschmerz von aller Welt abgetrennt.

Als ich der physischen und psychischen Erschöpfung nahe war, warf ich mich ins beruhigende Meereswasser und liess mich auf dem Rücken treiben, die aufgehenden Sterne im Blick. Welche mögen über Bagdad stehen und sehen, was geschah und geschieht in diesen Schicksalsstunden? Sollte ich jetzt auch Abschied nehmen aus dieser Welt? Sollte ich mich diesem Wahnsinn der Fundamentalisten aus Westen und Osten ergeben? Bush Junior und Bin Laden stehen modellhaft für eine kranke Welt, die auf dem Prinzip von „Auge um Auge, Zahn und Zahn“ sowie der „einzigen Wahrheit“ beruhen.

Das ruhige, warm umhüllende Meer brachte es schliesslich fertig, mich zu besänftigen, vernünftige Gedanken zu fassen und den Konsequenzen des Bombenanschlages auf die UN in Bagdad ins Auge zu sehen.

18.30 h, zurück in meinem Strand-Haus

Wiederholte fruchtlose Versuche, mit Bagdad und New York Kontakt aufzunehmen. Ich rief die Spanierin und meine Freunde an, ich würde an der Abschiedsfeier nicht teilnehmen können. Selbstverständlich verstanden sie mich. Auch sie sassen wie ich atemlos vor ihren Satelliten-Fernsehern und verfolgten die Geschehnisse in Bagdad. Eine weitere quälende Stunde zerann mit der Übertragung der Agonie von Sergio, dessen Lebensfaden immer dünner wurde. Die US hatten kein schweres Rettungsgerät zur Stelle. Ein Feuerwehrmann versuchte ihn, mit blossen Händen aus engen Spalten zu retten. Es war ein aussichtsloses Unterfangen. Aber was war mit meiner geliebten K.?

19.30 h, in meinem Strand-Haus

Eine Message von K.‘s Schwester aus den USA erschien in meiner Mailbox: „K. lebt!!! Ist nur leicht verletzt. Das UN-Hauptquartier in New York hat Kontakt mit Bagdad und erfahren, dass sie von US-Sanitätskräften versorgt wird. Wenn weitere Einzelheiten bekannt werden, wirst Du mehr erfahren.“

„Mein Gott, das ist der schönste Augenblick in meinem Leben!“ Ich sprang vom Schreibtisch auf, rannte ins Wohnzimmer und tanzte um den Tisch herum. „K. lebt! K. lebt!“

Sofort rief ich die Freunde an. „Das muss gefeiert werden! Lasst uns zusammen auf der Terrasse vom Pemba Beach Hotel den besten Wein trinken, den sie auf Lager haben!“

20.30 h, auf der Terrasse vom Pemba Beach Hotel

Unsere kleine Gruppe von fünf Leuten fand sich auf der Terrasse vom Hotel ein. Vor uns der mit Palmen bestandene Park mit dem Schwimmbad, das unmittelbar ins Meer überzugehen schien. Der tropische Nachthimmel war übersät von Abertausenden von Sternen. Unsere Gedanken weilten bei den Toten und Verletzten und bei K. Wie erging es ihr in diesen Stunden? Für Sergio gab es keine Rettung mehr. Seine junge Lebensgefährtin, die ebenfalls in Bagdad für die UN arbeitete, wohnte dem Todeskampf ihres Liebsten unmittelbar bei und konnte selbst einige Worte mit ihm wechseln, bevor die Rettungskräfte sie völlig entkräftet aus der unmittelbaren Nähe des Gebäudekomplexes führten.

Sollte dieses Attentat der Al Qaida auf die UN der Beginn eines zukünftigen Kriegszustandes zwischen beiden Organisationen sein? Sergio Viera hatte immer die These vertreten, dass die UN, die ja ein Zusammenschluss von Regierungen, nicht von Zivilgesellschaften der Welt ist, das „Gewissen der Welt“ und von daher unabhängiger Markler für die Interessen der Völker sein müsste. Doch Kofi Annan, der derzeitige Generalsekretär erkannte nach dem Bombenanschlag folgerichtig: „Die UN hat ihre Unschuld verloren!“ Sie hat sich zu sehr den Interessen der Mächtigen der Welt, vor allem der US, gebeugt. Das hat sie schmerzhaft zu spüren bekommen.

Unsere Gespräche und Gedanken auf der Hotelterrasse kreisten um diese Themen und um die Freude über das Überleben von K. und Anderen sowie um die Trauer über die Toten. Es sollte sich herausstellen, dass der Anschlag 22 Menschen das Leben gekostet hat und dass 165 Verletzte zu versorgen waren, darunter viele Schwerverletzte.

24.00 h, Hotelterrasse

Wir waren kurz vor dem Aufbruch begriffen, als mein Handy klingelte. Eine mir unbekannte Frauenstimme, die aus weiter Ferne sprechen musste, fragte mich um meinen Namen.

„Ich rufe aus Bagdad an. Bin eine US-Journalistin und sprach vor einer halben Stunde mit K., die mich bat, Sie anzurufen. Ich kann Ihnen versichern, dass es ihr den Umständen entsprechend gut geht, dass sie zuerst von irakischen Ärzten versorgt wurde, dann von US-Ärzten. Die Verletzungen sind nicht gravierend. Sie wird bald wieder auf die Beine kommen. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Es wäre gut, K.‘s Familie in den US und Kanada zu benachrichtigen. Ganz liebe Grüsse!“

Auf meine Nachfragen, welcher Art die Verletzungen seien, wich die Journalistin aus und meinte nur, sie würde mich morgen früh wieder anrufen, um mir Einzelheiten mitzuteilen. Der Stimme der Journalistin nach zu urteilen, obwohl sie sich redlich Mühe gab, sachlich zu sein, mussten die Verletzungen schwerer als beschrieben sein. Aber schliesslich war es das Wichtigste, dass sie lebte.

In meinem Strandhaus zurück mailte ich sofort das Gehörte an K.‘s Familie. Nach einer letzten Reportage der Euro-News aus Bagdad, die den Tod von Sergio bestätigte, versuchte ich mit Freude und Trauer gleichzeitig erfüllt Schlaf zu finden.

Schlusswort

K. war nach neun Monaten Behandlung wieder vollständig im Besitz ihrer Kräfte und Fähigkeiten. Zwei ihrer Kollegen wurden unmittelbar vor ihr durch hereinsausende messerscharfe Glassplitter getötet. K. verdankte ihr Überleben der hohen Rückenlehne ihres Bürostuhles, die einen Grossteil der Splitter abfing.

Dieser 19. August 2003 wird immer in meinem Kopf eingebrannt bleiben. Er bedeutet für mich die Essenz menschlichen Lebens. Die Mächtigen dieser Welt sind krank in ihrem Bemühen nach Herrschaft. Die Unterdrückten sind ebenfalls krank, wenn sie mit gleichen Machtmitteln Widerstand leisten. Liebe, Toleranz und Menschlichkeit sind stärkere Waffen als Finanz-Kapital und stahlgewordenes Kapital. Lassen wir uns nicht auf das Spiel der Mächtigen und ihre Verschleierungskünste ein. Humanitäres Miteinander darf nicht durch Politik, Ideologien und Religionen verfremdet werden. Versuchen wir immer wieder das Leben und die Liebe unter dem Stern einer universalen Ethik menschlichen Handelns!

LG, CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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