Abschied von Bissau (1. Kapitel)

Gracias a Dios Weihnachtsgruß aus Panama, mit der Bitte an die Redaktion, wenn möglich, bis Weihnachten den Beitrag auf der Titelseite der Online-Ausgabe vorzuhalten. Danke!

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Foto: Wikimedia Commons, kuze, gefähliche Landepiste des Flugplatzes Tonkontin in Tegucigalpa, Honduras

Liebe dFC,

Ich hatte einigen Freunden aus der dFC versprochen, noch vor Jahresende mit der Anden-Saga fortzufahren (Kapitel Yasuni). Das gestaltet sich nun doch langwieriger als geplant. Es ist sehr viel Recherche vonnöten, um die Fiktion über die Entwicklung im ecuadorianischen Amazonasgebiet den tatsächlichen Geschehnissen anzupassen. Aus diesem Grund stelle ich hier das 1. Kapitel des Romans „Abschied von Bissau“ ein, von dem ich u. a. auch das Kapitel „Mindelo“ bereits hier in sechs Folgen veröffentlichte. Insgesamt geht es in diesem Roman, der sich in Lateinamerika, Afrika und Europa abspielt, um die Überwindung der faschistischen Rassenideologie anhand der Lebenswege zweier „weißer“ Männer, zusammen mit drei weiblichen Protagonisten, zwei „schwarzen“ Frauen und einer „farbigen“ Frau. Ein „Weißer“ ist der Kapverdier Joaquím, dessen Jugendzeit bereits in „Mindelo“ vorgestellt wurde. Der Andere ist der deutsche Ethnologe Hans, mit dem der Roman beginnt.

1. Gracias a Dios

Hans landete am 15. Oktober 1981 gegen Mittag, mit der Linie Pan Am über Miami kommend, auf dem kleinen Flughafen von Tegucigalpa. Wie immer vor der Ankunft in der honduranischen Hauptstadt hielten die Fluggäste beim riskanten Anflug im Talkessel den Atem an; viele bekreuzigten sich im Angesicht der zum Greifen nahen Gebirgsbrocken, denen der Pilot geschickt auswich. Hans erlebte dieses Landemanöver zum ersten Mal. Wie auch sein Sitznachbar war er froh, als das Flugzeug schließlich auf der kurzen Piste zum Stehen kam. Sein Nachbar befand sich nach Jahren des politischen Exils auf der Rückreise in sein mittelamerikanisches Heimatland, das 1980 eine lange Periode von Militärdiktaturen beendet hatte und sich auf der Suche nach einer demokratischen Zukunft befand.

Die Zollformalitäten waren unkompliziert. Ein Fahrer des Anthropologischen und Historischen Instituts der Universität holte ihn ab und brachte ihn zu einem billigen Hotel im Zentrum der Stadt. Es war ein warmer Sonnentag, der Verkehr im Zentrum chaotisch. Glücklicherweise hatte sein einfaches aber sauberes Zimmer einen Ventilator. Der Fahrer wollte ihn in einer Stunde zum Institut abholen, wo er schon erwartet wurde. Die Zwischenzeit nutzte Hans, um zu duschen und im Hotelrestaurant zu essen. Er ließ sich die typischen Mais-Tortillas mit braunen Bohnen, Hühnchen und Frischkäse bringen, wollte er sich doch sogleich auf das honduranische Essen einstimmen.

Hans hatte ein dreijähriges Doktorandenstipendium von der Volkswagenstiftung bekommen. Er wollte über soziale Strukturen der alteingesessenen Volksgruppen an der honduranischen Moskitiaküste promovieren und ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber kulturellen Einflüssen vonseiten der Mestizen untersuchen. Das Thema war zwischen seinem Doktorvater an der Universität von Hamburg und dem Institutsleiter in Tegucigalpa abgesprochen. Das Institut versprach, ihn während der ersten Monate in Tegucigalpa zu unterstützen und ihn auf seinen Aufenthalt in der Moskitiaregion, dem Department „Gracias a Dios“ (Gott sei Dank), vorzubereiten. Die Region verdankt ihren Namen einem Ausspruch von Kolumbus, der 1502 vor der honduranischen Küste ein Unwetter zu überstehen hatte. Zu den Vorbereitungen von Hans zählte vor allem das spanische Sprachstudium. Diesbezüglich brachte er einige Vorkenntnisse mit, auch hatte er bereits in Hamburg mit einem Literaturstudium über Honduras und seine verschiedenen Volksgruppen begonnen.

Das Treffen mit dem Institutsleiter verlief in angenehmer Atmosphäre. Bei einem schwarzen Kaffee musste Hans von seiner Hamburger Universität berichten, die der Institutsleiter von verschiedenen Besuchen her gut kannte. Dann wurde er durch die Räumlichkeiten des Instituts geführt und mit einem jungen honduranischen Doktoranden, José Arteaga, der über die Volksgruppe der Garifuna promovierte, bekannt gemacht. Hans sollte die Institutsbibliothek benutzen können, wie es ihm beliebte. Und man wollte sich rasch um einen günstigen Sprachkurs für ihn kümmern. Außerdem machte José den Vorschlag, mit Hans in der kommenden Woche eine erste einwöchige Erkundungsreise an die Moskitiaküste zu unternehmen, um ihm einen Vorgeschmack auf seine spätere Feldarbeit zu ermöglichen. Der Besuch im Institut endete mit einer Einführung über die jüngste Geschichte des Landes und die Vorgänge im benachbarten Nicaragua, wo vor Jahresfrist die Sandinisten nach dem Sturz des Somozaregimes die Macht übernommen hatten, um eine sozialistische Gesellschaft nach dem Vorbild Cubas zu errichten.

Als Hans am späten Nachmittag ins Hotel zurückkehrte, suchte er sofort sein Zimmer auf und warf sich vor lauter Müdigkeit aufs Bett. Nach der langen Flugreise und den neuen Eindrücken in Honduras kamen ihm im Halbschlaf nochmals die Umstände seines Abschieds aus Deutschland zu Bewusstsein. Seine Frau Ilse hatte ihn mit ihren beiden gemeinsamen Kindern zum Hamburger Flughafen gebracht. Sabine und Alexander waren noch zu klein, vier und zwei Jahre alt, um das Drama, das sich zwischen den Eltern abspielte, zu begreifen. Im Grunde kam Hans’ Auslandsaufenthalt den beiden recht, war doch ihr Verhältnis schon seit geraumer Zeit von zunehmender gegenseitiger Entfremdung geprägt. Beide begriffen die Studienreise in Honduras als eine Zeit der Selbstfindung und Bewährung, deren Ergebnis sie offen lassen wollten.

Beim Frühstück am nächsten Morgen, einem Freitag, wischte Hans seine melancholischen Erinnerungen an Deutschland vollends beiseite und machte sich erwartungsfroh mit José an die Vorbereitungen zu seiner ersten Fahrt an die Moskitiaküste. Sie hatten vor, mit dem Bus am Montagmorgen nach San Pedro Sula und La Ceiba aufzubrechen, um dann am Dienstag mit einem kleinen Propellerflugzeug nach Palacios zu fliegen. Dort hoffte José, bei einer Garifunafamilie übernachten zu können, die er schon von seinen früheren Feldarbeiten her kannte. José versprach, sich um zwei Moskitonetze und Landkarten zu kümmern. Hans brauchte nur einen Rucksack, leichte Kleidung, Mückenspray und den Reiseführer mitzunehmen. Alles Weitere könnten sie an Ort und Stelle klären.

Über das Wochenende fand Hans leider wenig Zeit, die kolonialen Bauten von Tegucigalpa zu besichtigen, was er nach Rückkehr von der Karibikküste umgehend nachholen wollte.

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Foto: Semanario FIDES, Prozession vor der Kirche: “La Iglesia los Dolores”, Tegucigalpa, Honduras

Auf der zehnstündigen Busfahrt nach La Ceiba fand Hans erstmalig die nötige Muße, um die Menschen seiner neuen Umgebung genauer wahrzunehmen. Er hatte schon einige ‚Latino-Studenten’ in Hamburg kennengelernt und hatte an Latino-Festen teilgenommen. Doch konnte er anfangs mit den feurigen Rhythmen und dem lockeren Umgang der südländischen Studenten untereinander wenig anfangen. In den beiden Bussen, sie mussten in San Pedro Sula in einen anderen umsteigen, herrschte ein munteres Treiben. Es waren viele Studenten und Gymnasialschüler unterwegs, die auf der Uni in Tegucigalpa studierten und nun für eine Woche ihre Familien besuchen wollten. Unter ihnen befanden sich auch einige Schwarze, die José sofort als Garifuna identifizierte.

Das Erste, was Hans an den Menschen auffiel, war ihre Lebhaftigkeit, ihr häufiges Lachen, ihre Ungezwungenheit Fremden gegenüber. Natürlich fragten sie José, woher denn sein „Gringo“-Freund käme, ob er verheiratet sei, was er für einen Beruf hätte, ob er länger im Land bliebe, und so weiter und so fort. Wenn Hans versuchte zu antworten und auf Spanisch radebrechte, hatte er sogleich die Lacher auf seiner Seite. Neugierig wollten sie die verschiedensten Dinge aus seinem Leben erfahren. Er war schlicht die Attraktion auf dieser Busfahrt.

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Foto: HolaCeibita, Typische junge Frau der honduranischen Karibikküste auf dem Karnevalsfest von La Ceiba (2012), Honduras, Autor: Catuyo San Martin

Bei der großen Hitze, die im Bus herrschte, begann Hans allmählich seinen eigenen Körper zu spüren. Er fühlte sich wie während seiner ersten Auslandsreise als Student im Senegal, wo er einen Monat in der Casamance, in Ziguinchor, verbracht und seine Diplomarbeit vorbereitet hatte. Er wurde auch der verschiedenen Körpergerüche gewahr, Eindrücke, die er selbst nur flüchtig auf den Latino-Festen und in der Casamance wahrgenommen hatte. Mit der Zeit war Hans wie benommen von den Menschen um ihn herum, vor allem von den jungen Frauen, die durch ihre Natürlichkeit und ihre harmonischen Körperbewegungen eine plötzliche Begierde in ihm weckten, wie er sie schon lange nicht mehr erlebt hatte.

Als Hans und José am späten Nachmittag in dem schwülen La Ceiba eintrafen, waren sie beide verschwitzt und ermattet und duschten in ihrem einfachen Hotel, bevor sie in Strandnähe ein auf Holzstämmen errichtetes Garifunarestaurant aufsuchten. José war überzeugt davon, dass die Garifuna, die hauptsächlich an der honduranischen Atlantikküste beheimatet sind und ungefähr vier Prozent der Gesamtbevölkerung von Honduras ausmachen, die beste Küche des Landes hätten. Er schlug Hans als Abendessen eine mit Kokosmilch zubereitete Fischsuppe vor, die dann auch vorzüglich schmeckte, so wie er es von der Casamance her kannte.

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/4/49/Oficina_Banco_Central_La_Ceiba.jpg/200px-Oficina_Banco_Central_La_Ceiba.jpgFoto: Wikimedia Commons, Filiale der Zentralbank von Honduras in La Ceiba, Karibikküste

Während der Busfahrt und im Restaurant bereitete José Hans auf die Begegnung mit den Menschen in Palacios vor. Der Ort an der Atlantikküste ist sozusagen Ausgangspunkt für das Kennenlernen der Moskitiaregion. Palacios selbst ist vornehmlich von ‚Ladinos’, den Mestizen von Honduras, bewohnt, die von Viehzucht, Holzeinschlag und Handel mit allen in der Region notwendigen Waren leben. Noch wurde das Leben in Palacios nicht sonderlich beeinflusst durch die von den USA unterstützten ‚Contra-Aktivitäten‘ des nicaraguanischen Widerstandes gegen das Sandinistenregime. Auch hatte der internationale Drogenhandel bisher Palacios und die Moskitiaregion als geeigneten Umschlagsplatz zwischen Kolumbien, Mexico und Nordamerika kaum in Betracht gezogen.

Außer den Ladinos wohnen auch einige Garifunafamilien in Palacios. Ebenso sind die Nachbargemeinden entlang der Karibikküste von Batalla bis Plaplaya von den Garifuna bevölkert. In der von Palacios östlich gelegenen Moskitia ist hauptsächlich das Indianervolk der Miskito beheimatet, die in Nachbarschaft zu den eingesprenkelten kleineren Indianervölkern der Pech und Tawahka leben.

Der Zufall wollte es, dass sich außer dem Piloten, Hans und José noch Don Ernesto, ein in Palacios ansässiger Holzunternehmer, in dem kleinen Flugzeug auf dem morgendlichen Flug befand. Sein Vorarbeiter war Don Rodrigo, ein Garifuna, den José von früheren Begegnungen her kannte, und bei dem er hoffte, unterkommen zu können. Nachdem das Flugzeug auf der Piste ausgerollt war, wurde es sogleich von einer Schar neugieriger Kinder umstellt.

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Foto: Ministerium für indigene und afrika-abstämmige Völker in Honduras: Garifuna-Kinder

Don Ernesto bedeutete einem halbwüchsigen Garifunajungen, seinen Vater, Don Rodrigo, herbeizurufen. Kurze Zeit darauf erschien auch schon ein hochgewachsener, breitschultriger Garifuna und begrüßte seinen Chef. Ebenso hieß er José herzlich willkommen. Der stellte seinerseits Hans vor und fragte, ob er sie für eine Woche gegen ein Entgelt aufnehmen könnte. Don Rodrigo sagte sofort zu. Für seine Familie bedeutete der Besuch eine willkommene Abwechslung und eine zusätzliche Einnahme. Sein Sohn Wily sollte den Gästen beim Gepäcktragen helfen, er würde später zum Mittagessen nach Haus kommen.

Obwohl es noch keine neun Uhr morgens war, kamen José und Hans bei der für die Moskitiaküste typischen schwülen Temperatur sogleich ins Schwitzen. Schweigend folgten sie Wily, der sie an den auf Stelzen errichteten Holzhäusern längs der schmalen Lagune von Palacios vorbeiführte, bis sie an das Ende des Ortes gelangten. Dort schlugen sie einen Pfad ein, der nach etwa 500 Metern durch dichtes Unterholz und unter riesigen tropischen Bäumen an einem von einer Bambuswand eingefassten Grundstück endete. Als Wily die Holztür in der Mitte des Bambuszaunes aufstieß, tat sich vor den drei Männern ein weiträumiger Innenhof mit Aussicht auf die Lagune auf. Selbst ein schmaler, weißer Lagunensandstrand mit Steg und angelegtem Motorboot fehlte nicht. Auf der Uferböschung oberhalb des Strandes befand sich in zentraler Lage ein geräumiges, mit Palmzweigen bedecktes, Blockhaus auf etwa zwei Meter hohen Stelzen. Zu der ringsherum führenden überdachten Veranda gelangten die Bewohner des Hauses über eine aus groben Latten gezimmerte Treppe. Das Anwesen wurde vervollständigt durch eine zum Bambuszaun abgesetzte Latrine mit Waschplatz und eine ebenso mit Palmzweigen überdachte Küche, die an der entgegengesetzten Seite des Zaunes errichtet war.

Wily wurde von zwei bellenden, an ihm hochspringenden Hunden begrüßt. Daraufhin erschienen auf der Veranda zwei Frauen, die etwa 35 und 17 Jahre alt sein mochten. Offensichtlich waren sie Mutter und Tochter, und beide hatten verblüffende Ähnlichkeit mit dem halbwüchsigen Wily. Die Mutter, Dona Katy, kam sogleich die Treppe heruntergeeilt und begrüßte José herzlich, den sie von vorherigen Besuchen gut kannte. Zuerst stellte José Hans vor, anschließend kam er mit seinem Anliegen heraus: Beide Männer hatten vor, eine Woche in Palacios und Umgebung zu verbringen, um vor allem erste Kontakte mit den Miskito zu knüpfen. Sie würden gerne während dieser Zeit in ihrem Hause wohnen. José fügte hinzu, dass sich Hans auf einer Studienreise in Honduras befände und beabsichtigte, sich zu einem späteren Zeitpunkt länger in der Moskitiaregion aufzuhalten.

Als Dona Katy von Wily erfuhr, dass ihr Mann schon von dem Unterfangen unterrichtet war, willigte sie spontan ein, die Gäste für eine Woche zu beherbergen. Sie könnten in Wilys Zimmer übernachten, während dieser in der Zwischenzeit im Zimmer seiner Schwester schlafen würde. Dona Katy schlug den Besuchern vor, erst einmal ein erfrischendes Bad in der Lagune zu nehmen. Derweil könnte ihre Tochter Carmen das Zimmer herrichten. Sie selbst wollte sich um das Mittagessen kümmern.

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Foto: mimundo.com: Junge Garifuna-Frauen

Als sich José und Hans in Begleitung von Wily in das erfrischende Wasser der Lagune warfen, war es Hans, als ob er von schwerem Ballast befreit würde. Nach den ersten Schwimmbewegungen fühlte er seinen eigenen Körper locker durch das leicht salzhaltige Wasser gleiten und hätte am liebsten laut aufgejauchzt. Im letzten Augenblick hielt er inne, wollte er sich doch nicht vor den anderen eine Blöße geben. Er sah, wie Carmen flüchtig aus einem Fenster zu den Badenden hinunterblickte, bevor sie wieder im Inneren des Hauses verschwand. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, wie elegant und geschmeidig die Bewegungen der beiden Frauen waren. Und, mein Gott, was waren sie schön! In ihrer Ähnlichkeit unterschieden sie sich nur durch ihr Alter. Hans begann Rodrigo um die beiden Frauen zu beneiden und hatte den plötzlichen Eindruck, dass dieser ein glücklicher Mann inmitten seiner Familie und der ihm umgebenden überschäumenden Natur sein müsste. Dagegen kam er sich steril und nicht liebenswert vor; als ein Mann, der die Lebenslust verloren hatte, der durch Zufall in diese üppige Umgebung ausgesetzt wurde, um entweder ‚wahres Leben‘ zu erfahren und zu erlernen, oder aber als akademischer Bücherwurm den Rest seines Lebens zu verbringen.

Dem Wasser entstiegen war Hans‘ Selbstmitleid verflogen. Er spürte eine neue Kraft in seinem Körper heraufziehen. Mit Shorts und T-Shirt bekleidet machte er sich mit José daran, ihr vorübergehendes Obdach einzurichten. Sie spannten die beiden Moskitonetze auf und José entschied sich, auf einer für Besuch vorgesehenen Matratze auf dem Boden zu schlafen. Das Blockhaus verfügte nur über eine hölzerne Eingangstür von der Veranda her. Die Innentüren waren durch leichte Stoffvorhänge ersetzt, die durch die Brise von der Lagune in ständiger Bewegung gehalten wurden. Vom Fenster ihres Zimmers, das durch Fliegendraht geschützt war, hatten sie einen aufregenden Blick über die Veranda auf den Strand und die gesamte Lagune. Das mit Wald bestandene gegenüberliegende Ufer musste sehr schmal sein, es trennte die Lagune nur mit Mühe vom offenen Meer. Vor dem Mittagessen blieb Hans noch Zeit, sich in einer der Hängematten auf der Veranda auszustrecken und den Reiseführer zurate zu ziehen. José hatte sich ebenfalls Literatur mitgenommen; währenddessen gingen die beiden Kinder ihrer Mutter zur Hand.

Gegen Mittag kam Don Rodrigo zum Essen. Es gab Reis, gekochte Platane, braune Bohnen und Hühnchen. Frischer Kokusnusssaft diente als Getränk und Papaya wurde zum Nachtisch gereicht. Erst auf Drängen von José und Hans nahmen die Frauen und Wily am Tisch Platz, der im Schatten der Veranda aufgestellt wurde. Die Gäste berichteten ausführlich über die Gründe ihres Besuches und Hans musste außerdem von seiner Heimat und Familie erzählen. Rodrigo erbot sich, die beiden Männer am kommenden Tag in seinem Boot zu den Miskito-Indianern nach Belén zu fahren. Sicherlich bekäme er einen Tag frei, und sie könnten die beiden Kinder mitnehmen. Wily und Carmen hatten die sechs Schuljahre der Grundschule in Palacios durchlaufen. Die anschließende Sekundarstufe hätten sie jedoch in Trujillo oder La Ceiba besuchen müssen, wozu die Eltern kein Geld hatten.

José und Hans willigten in Rodrigos Vorschlag ein, und es wurde ausgemacht, noch im Morgengrauen in Richtung Belén aufzubrechen. Nach einer einstündigen Siesta und der obligatorischen Einnahme eines schwarzen Kaffees kehrte Rodrigo mit Wily zur Sägerei zurück. Wily liebte wie sein Vater das Arbeiten mit Holz, und er half auch schon kräftig beim Hausbau mit. Begierig versuchte er, soviel wie möglich, von seinem Vater und Don Ernesto abzugucken. Carmen half ihrer Mutter im Haushalt. Sie hatte Spaß am Kochen und vor allem am Nähen. Grundsätzlich fertigten Katy und Carmen alle Kleidungsstücke, die die Familie benötigte, selbst an. Auch pflegten die beiden Frauen den Obst- und Gemüsegarten, der sich außerhalb der Bambusumfriedung an der Böschung zur Lagune und in unmittelbarer Nachbarschaft zum umgebenden Regenwald befand. Er war bestanden mit Mango-, Papaya-, Zitrus-, Guavenbäumen und Kokospalmen, Platane- und Bananenbüschen, Ananasstauden, Maniok, Reis, Mais und Bohnen sowie mit allerlei Kräutern und Heilpflanzen.

Die beiden zu Besuch weilenden Männer machten sich daran, den folgenden Tag in Belén zu planen. Sie hofften Rogelio, den Verantwortlichen der Miskito-Indianer zu treffen, um mit ihm das Dorf zu besuchen und über die Ursprünge seines Volkes zu sprechen. Soziale, ökonomische und kulturelle Aspekte der Miskito wollte Hans später während seiner eigentlichen Feldarbeit studieren.

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Foto: Wikimedia Commons, Miskitos zu Ende des 19. Jh.

Am späten Nachmittag hatte Hans die Idee, die Sägerei zu besuchen. Auch wollte er sich in Palacios umsehen und, wenn möglich, eine Taschenlampe kaufen. Carmen erklärte sich bereit, die beiden Männer zu begleiten. Den Pfad zurück in den Ort ging sie voran. Wieder erlag Hans dem Eindruck ihrer harmonischen Bewegungen. Er verglich ihren leicht wiegenden Gang mit dem der Mitteleuropäerinnen, welcher ihm so steif, so wenig körperbewusst vorkam. Es hatte den Anschein, als ob Carmen selbst in ihre Bewegungen verliebt sei. Doch schien ihre Unbekümmertheit nicht darauf hinzudeuten, dass ihr bewusst war, welchen Eindruck ihre anziehende weibliche Figur auf Männer ausüben müsste. Hans hatte alle Mühe, seinen Blick von Carmen abzuwenden. Als diese sich einmal direkt an ihn wandte und sich nach seiner Frau und seinen beiden Kindern erkundigte, errötete er im ersten Moment und fühlte sich in seinen Gedanken an sie ertappt. Unmittelbar darauf wurde er sich seiner emotionalen Einsamkeit und der Trennung von Frau und Kindern bewusst. Er murmelte etwas von Ilses Arbeit als Lehrerin und dem Kindergarten seiner Kinder und flüchtete sich ansonsten in seine unzulänglichen Sprachkenntnisse. Das machte die Situation für ihn noch verwirrender, denn Carmen meinte sorglos, er solle sich doch eine Freundin anschaffen, so könne er am schnellsten seine mangelnden Spanischkenntnisse überwinden. Bevor sie die ersten Häuser erreichten und ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge gelenkt wurden, dachte Hans wieder an seine Buseindrücke, als er erstmalig mit der Natürlichkeit und Unbeschwertheit der jungen Frauen in Honduras konfrontiert wurde.

Im zweiten Kramladen, den sie an der Lagunenpromenade besuchten, fand Hans eine Taschenlampe und die dazugehörigen Batterien. Auch kaufte er sich ein Antiinsektenöl, hatte er doch in Afrika die Erfahrung gesammelt, dass gerade Ortsfremde das bevorzugte Objekt von Mücken und anderen Insekten sind. In diesem Laden wurde auch gerade frisch gefangener Seefisch angeboten. So ließen es sich die beiden Männer nicht nehmen, einige Seebarsche für Dona Katy zu kaufen. Außerdem besorgten sie eine Flasche Rum für Don Rodrigo.

Schließlich gelangten sie zum Sägewerk, das über einen eigenen Generator verfügte, denn ein öffentliches Stromnetz fehlte bisher in Palacios. Einige Geschäftshäuser besaßen ebenfalls Generatoren; allgemein mussten sich die Familien mit Petroleum- oder Gaslampen begnügen. Don Ernesto trafen sie in dem Büro an, und er hatte nichts dagegen, seinem Besuch das Grundstück mit seinen verschiedenen Lagern für Baumstämme und Bretter sowie den Maschinenpark, sein Büro und sein eigenes Haus, in dem er mit seiner fünfköpfigen Familie lebte, zu zeigen. Auf die Frage, woher er sein Holz bezöge und ob sein Geschäft ein Einträgliches sei, antwortete er lachend: „Regelmäßig kommen neue Rinderhalterfamilien aus den Bergen hier an, die ausgedehnte Weiden für ihr Vieh brauchen. Die ganze Umgebung des Rio Tinto, der nahe bei Palacios ins Meer mündet, ist voll mit wertvollen Hölzern, besonders mit Kaoba- und Mahagonibäumen. Für mich ist der Holzhandel das Geschäft meines Lebens. Einen Teil der Stämme verarbeite ich an Ort und Stelle. Das Holz dient hier zum lokalen Hausbau. Der größere Teil wird jedoch direkt nach Trujillo verschifft und dort an Exporteure verkauft. An unserer Küste ist es zu feucht, um die Stämme gut in der Sonne zu trocknen. Sie werden als Rohware in die USA verschifft, wo sie wiederum für den asiatischen oder amerikanischen Markt verarbeitet werden.“

Bald wurde es Zeit, zu Dona Katy zurückzukehren. Ein erlebnisreicher Tag ging zur Neige. Wily und Carmen liefen vornweg, da sie noch vor Abendeinbruch ein letztes Bad in der Lagune nehmen wollten. Rodrigo, José und Hans folgten hinterdrein. Auch sie waren von der Idee angetan, vor dem Abendessen ein kühles Bad zu nehmen. So kam es, dass sich wenig später die Familie samt Besuch zu den letzten Sonnenstrahlen am Strand einfand und sich dem ausgelassenen Toben im frischen Wasser hingab. Die beiden Frauen waren die Ersten, die sich dem Spaß entzogen, denn sie wollten zum Abendessen die Barsche grillen, während Wily insistierte, noch Wasserball zu spielen. Doch auch das fand wegen der hereinbrechenden mondlosen Nacht sein rasches Ende. Die Petroleumlampen wurden angezündet und der Tisch nahe dem offenen Küchenfeuer vorbereitet. Der frische gegrillte Fisch wurde mit Zitronensaft, Salz und Chili angerichtet und mit gekochtem Maniok und Reis serviert. Zum Trinken gab es ein Gemisch aus frischem Orangen- und Papayasaft. Ein Gläschen Rum bildete den Abschluss des Tages. Bald darauf bereiteten sich alle zum Schlafen vor, denn am nächsten Morgen sollte die Fahrt nach Belén in aller Frühe losgehen.

Hans konnte lange Zeit nicht einschlafen. Unruhig lag er unter seinem Moskitonetz und wälzte sich von einer Seite auf die andere. Trotz der Brise, die von der Lagune her durch das Zimmerfenster wehte, zog er das Bettlaken von seinem nackten Körper. Er erinnerte sich an die Nächte in Afrika, wo er wegen der großen Hitze des Nachts auch unbekleidet geschlafen hatte. Für José dagegen schienen diese warmen Nächte ganz alltäglich zu sein, jedenfalls verriet sein regelmäßiger ruhiger Atem, dass er schon tief schlafen musste. Hans durchlebte noch einmal die letzten beiden Tage. Vor allem das neue Körpergefühl und die Begegnungen mit den Frauen versetzten ihn in Unruhe. Im letzten Jahr vor seiner Abreise aus Deutschland war Ilses und sein Liebesleben immer anspruchsloser geworden. Beiden fehlte die rechte Lust vor allem wegen ihrer ungeklärten gemeinsamen Zukunft. Das wirkte sich ebenfalls negativ auf die Vorbereitung seines Auslandsaufenthaltes aus. Er hätte mit seinen Sekundärstudien schon viel weiter sein müssen. Auch das Zusammensein mit seinen beiden kleinen Kindern war nicht mehr so unbeschwert. Obwohl er immer gern mit ihnen zusammen war, hatte er zunehmend Schwierigkeiten, ihnen seine Probleme gegenüber ihrer Mutter und seine Ungewissheit über die Zukunft der Familie zu verbergen. Oft fragte ihn seine Tochter: „Papi, wie geht es Dir? Bist Du traurig?“

Als die Möglichkeit des Stipendiums in Honduras konkret wurde, griff er begierig zu und sah darin eine Chance für einen Neubeginn seines Lebens. Wieder spürte er wie damals in der Casamance die Sehnsucht nach dem Erforschen des ‚Fremden’, der fremden Kultur und der fremden Natur. Er wollte heraus aus seinem bisherigen Alltag und den gesellschaftlichen Zwängen, ohne sich bewusst zu sein, was er denn eigentlich von dem ‚Fremden’ erwartete.

Im Dunkel der Nacht begann Hans erst unbewusst, dann mit langsam hervorbrechendem Wohlbehagen, seinen eigenen Körper mit beiden Händen abzutasten; zuerst das Gesicht, dann seine Brust, seinen Bauch, seine Hüften und seine langen Beine, bis schließlich seine Hände begannen, sein Geschlechtsteil und den Unterleib sanft zu streicheln. So hatte er seinen eigenen Körper, der ihm jetzt wohl geformt erschien, nur in seiner ersten Beziehung zu Vera gefühlt. Doch das war lange her. Während seiner Ehe mit Ilse begann er sich vorzumachen, ein für Frauen ziemlich unattraktiver Mann zu sein. Doch nun musste er sich eingestehen, dass er ganz zufrieden mit sich war. Während er sich solchermaßen selbst erforschte, kamen ihm Katy und Carmen in den Sinn, und ganz besonders Letztere. Die beiden Frauen rissen ihn mit ihrer natürlichen Sinnlichkeit aus seiner emotionalen Leere heraus. War dies Teil des neuen Lebensgefühls, das ihn in Honduras erwarten sollte?

Beim ersten zögernden Morgengrauen erwachte Hans aus seinem unruhigen Schlaf. Von draußen waren schon verschiedenste Vogelstimmen zu vernehmen. Ihm wurde bewusst, dass er nicht wieder einschlafen würde. Deshalb beschloss er, die Gelegenheit zu nutzen und unbemerkt aus dem Haus zu schleichen, um als Erster die Morgenwäsche verrichten zu können. Bewaffnet mit Waschutensilien und Handtuch ging er ohne Geräusche zu verursachen aus dem Haus zur Latrine und dem Waschplatz, die mit einem eigenen Bambuszaun umgeben waren. Der Waschplatz wiederum war von der Latrine durch einen Plastikvorhang abgetrennt und bestand hauptsächlich aus einem großen flachen Stein, einer Ablage und einem Wassereimer mit einer Konservendose zum Schöpfen.

Als Hans den Vorhang beiseite zog, erstarrte er vor Schreck. Vor ihm stand Carmen splitternackt auf dem Stein. Mit der linken Hand hielt sie die Dose mit dem herauslaufenden Wasser über ihren Kopf, mit der rechten war sie im Begriff, ihren wohlgeformten jugendlichen Körper zu waschen. Auch sie hielt erschrocken in ihren Bewegungen inne. Nach einem kurzen Augenblick drehte sie sich mit dem Rücken zu Hans. Dieser zog den Vorhang ruckartig wieder zurück und stürzte mit einer Entschuldigung aus der Latrine. Als er auf sein Zimmer eilte, vergewisserte er sich, ob die anderen im Hause noch schliefen. Es wäre ihm peinlich, wenn außer Carmen und ihm noch jemand Zeuge dieser Szene geworden wäre. Und bei Carmen hoffte er auf Diskretion und das nötige Vertrauen in ihn, dass seine Handlung unabsichtlich war. Als er so im Bett vor sich hingrübelte und sich abermals das Bild der verführerischen jungen Frau, die nur so vor Lebensfreude zu strotzen schien, in Erinnerung rief, da tat sich der Zimmervorhang auf und Carmen flüsterte ihm zu, er könne jetzt den Waschplatz für sich haben. Hans war sofort erleichtert, wusste er doch, dass Carmen ihr beiderseitiges Erlebnis für sich behalten würde.

Die Familie und ihr Besuch nahmen das Frühstück ein, als die ersten Sonnenstrahlen mit Macht hervorbrachen. Das Essen bestand aus Maistortillas, Bohnenmus, Rührei und einer Tasse schwarzen Kaffees. Danach half Wily seinem Vater, einen mit Diesel gefüllten Tank im Boot unterzubringen. Die kleine Reisegesellschaft machte sich auf den Weg. Rodrigo bediente hinten im Boot den Außenbordmotor, Wily saß ganz vorn, während José, Carmen und Hans in der Mitte Platz genommen hatten. Bevor das Boot vom Steg ablegte, versprach Dona Katy, eine Meeresfrüchtesuppe mit Kokosnussmilch für den Abend herzurichten.

Das Holzboot glitt beinahe geräuschlos im Schatten der Uferbäume dahin, es war nur das Tuckern des Motors zu vernehmen. Die Sonne stand noch zu tief, um in den Kanal einfallen zu können. Noch fühlte Hans die Kühle der Nacht auf seiner Stirn. Dann und wann tauchten einige Hütten der Garifuna in der dichten Vegetation auf und waren beim nächsten Hinsehen schon wieder verschwunden. Hans‘ Blick schweifte an Carmens ausgeprägtem Profil vorbei zu dem im Bug sitzenden Wily. Wieder registrierte er die verblüffende Ähnlichkeit der beiden Geschwister. Ein Vergleich mit seinem eigenen Aussehen, wie er ihn auch oft mit den Schwarzen im Senegal angestellt hatte, ließ ihn abermals fragen: „Wie konnte es nur dazu kommen, dass der Nationalsozialismus und Generationen von Ethnologen die These von der Überlegenheit der ‚arischen Rasse‘ behaupten konnten und scheinbar wissenschaftlich belegten?“

Schon in der Casamance hatte ihn die Arroganz und Überheblichkeit der dort lebenden Weißen gegenüber den einheimischen Schwarzen, mit denen er sich solidarisierte, abgestoßen. Und er begann sich wieder dieselben Fragen zu stellen, die ihn Jahre früher als Student im Beisammensein mit Studenten aus allen Teilen der Erde beschäftigt hatte: „Könnte ich eine Liebes- und Lebensbeziehung mit einer Frau aus einem mir fremden Kulturkreis eingehen? Könnte ich ihre Gefühle, ihre Verhaltensweisen und ihren kulturellen Hintergrund verstehen lernen? Und wie würden sich meine Eltern, mein Bruder und meine Freunde in Deutschland dazu stellen? Können kulturelle Unterschiede generell und auf Dauer zwischen Menschen toleriert werden; kann es zu einem gegenseitigen Verstehen und Vertrauen sowie zu einem friedlichen Miteinanderleben der Rassen, Religionen und Kulturen kommen, und was wären die Bedingungen für die Herstellung eines derartigen Zustandes der Menschheit?“

Doch Hans wischte diese Gedanken alsbald wieder beiseite. Sie beunruhigten ihn zu sehr. Er wollte sich jetzt ganz der Schönheit der Lagune Ibans, in die sie hineinsteuerten, hingeben. Eine halbe Stunde Fahrt noch, und dann würden sie in Belén ankommen.

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Fotos: La Tribuna (23.10.2011), Lagune Ibans, Honduras, Autor: Ramón Nulia

Da Don Rogelio gerade Unterricht gab, nutzten die Besucher die restliche Zeit des Vormittages aus, um einen Spaziergang am Sandstrand der Karibikküste zu machen. Belén liegt mit anderen Orten auf einer nur etwa 500 Meter breiten Landzunge, die die Lagune Ibans vom Atlantischen Ozean abtrennt. Es war gerade Flut und die Meereswellen gaben nur einen schmalen Sandstreifen frei. Rodrigo und José setzten sich unter die ersten Mangrovenbüsche an der Uferböschung. Carmen und Wily wollten unbedingt ein Bad nehmen und luden Hans ein, sie zu begleiten. Das Wetter war herrlich und das Meer forderte geradezu zum Baden heraus. Zum Schwimmen mussten sie weit hinaus ins Wasser, da die Küste hier sehr seicht ist. Wily und Carmen wollten Wellenreiten, und so begaben sich alle drei bis zum Ursprung der Wellen. Diese waren sehr heftig und sie mussten achtgeben, um nicht auf den Grund geschleudert zu werden. Ein paar Mal schon gelang es ihnen, von weit draußen mit den Wellen an den Strand zu gleiten. Hans ließ sich vom Eifer der Geschwister anstecken.

Langsam sicher und ein wenig übermütig geworden schwammen die Drei diesmal besonders weit hinaus und warteten eine hohe Welle ab. Wily schwang sich voller Elan auf den Wellenkamm und sauste im nächsten Augenblick davon. Carmen wollte es ihm gleich tun, verpasste aber den rechten Moment und wurde von den unbarmherzigen Wassermassen wie ein Streichholz hinweggeschleudert. Hans, der sich noch näher zum Strand befand, erkannte augenblicklich die Gefahr, in der sich Carmen befand. Er warf sich ihr mit aller Kraft entgegen. Als er sie ergreifen konnte, begann sich die Welle zu überschlagen. In ihrer Angst schlang Carmen ihre Arme um den Hals von Hans. In plötzlicher Umarmung begriffen wurden beide mit unwiderstehlicher Gewalt fortgerissen. Im Getöse der Welle fühlte Hans Carmens Körper an den seinen gepresst. Er hatte die Orientierung verloren und wurde mit der jungen Frau auf den sandigen Untergrund geschleudert. Glücklicherweise war beiden außer ein paar Schürfwunden nichts passiert; doch Hans hätte viel darum gegeben, wenn dieser kurze Augenblick der innigen Umarmung noch eine Weile fortgedauert hätte. Die anderen hatten aus der Ferne diese Begebenheit, die bei Hans eine unmittelbare Begierde hervorgerufen hatte, nicht bemerkt. Als er Carmen ansah, spürte er in ihrem Blick und dem leichten Zittern ihrer Brust, dass ihre beiderseitige Berührung auch sie in Aufruhr versetzt hatte. Während Wily das Spiel mit den Wellen noch einige Male wiederholte, setzten sich Carmen und Hans ins flache Uferwasser, um ihrer Betroffenheit Herr zu werden. Wie unausgesprochen abgemacht zwischen ihnen wollten sie nicht, dass die anderen etwas von ihren Emotionen erführen.

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Foto: La Tribuna, links Lagune Ibans, rechts Atlantischer Ozean, dort, wo Carmen und Hans sich zum ersten Mal näherkamen. Im Vordergrund Belén mit Landepiste. Autor: Ramón Nuila

Es war Zeit zum Mittagessen. Rogelios Frau Isabel hatte einen großen Barsch mit Zwiebeln und Tomaten im Sud gedünstet. Dazu gab’s gekochten Reis und Maniok sowie zum Trinken frische Kokosmilch. Die Miskitofamilie bestand außer den Eltern noch aus vier Kindern, welche zusammen mit dem Vater aus der Schule zurückkamen.

Don Rogelio war eine imposante Erscheinung. Er war Grundschulleiter in Belén und die angesehenste Persönlichkeit des Dorfes, das etwa 600 Einwohner zählte. Er hatte das Aussehen eines schwergewichtigen Mulatten von etwa 50 Jahren, der neben seinen indianischen und schwarzafrikanischen Vorfahren zusätzlich irische Abstammung aufweisen konnte. Großbritannien hatte jahrhundertealte Handelsbeziehungen zur Moskitiaküste. Das Vereinigte Königreich tauschte in der Vergangenheit nicht nur Musketen, daher der Name der Küste, gegen Mahagoniholz, sondern versuchte von der Moskitiaregion aus, die spanischen Handelswege zwischen dem Mutterland und ihren Kolonien zu kontrollieren. Das brachte es zwangläufig mit sich, dass zahlreiche Abenteurer des Inselreiches, oft auch Piraten, mit den einheimischen Frauen Nachfahren zeugten, und dass die Miskitosprache mit vielen englischen Sprachbrocken durchsetzt wurde.

Rogelios Familie bewohnte ebenfalls ein auf Stelzen errichtetes geräumiges Blockhaus. Nach dem Essen versammelten sich die Erwachsenen im Wohnzimmer. Wily und die anderen Kinder gingen derweil an den Lagunenstrand zum Spielen. Zu Beginn ihrer Unterredung berichtete Hans, dass er eine Arbeit über die Kultur der Miskito anfertigen wolle. Er fragte Rogelio, ob dieser ihn darin unterstützen könnte. Letzterer war sehr erfreut über die Idee. Seit den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts waren Missionare der protestantischen ‚Morava‘-Kirche in der Moskitiaregion tätig. Unter ihnen waren zwei deutsche Brüder namens Marx, die unter anderem mithalfen, die Schriftsprache der Miskito zu entwickeln und ein erstes Wörterbuch herauszugeben. Rogelio bedauerte es, dass es bisher zu wenig Miskito-Akademiker gäbe, die sich für die Erhaltung ihrer Kultur engagierten. Gerade deshalb sei jede Unterstützung von außen willkommen. Hans betonte, dass dieses sein erster Besuch in der Region sei, und er sodann für einige Monate nach Tegucigalpa zurückführe, um sein Spanisch zu verbessern. Nach dieser Vorbereitung würde er seine endgültige Feldarbeit aufnehmen.

Bei einem Kaffee begannen Rogelio und Isabel, über Ursprung und Geschichte der Miskito einen Abriss zu geben. Gleichzeitig streuten sie Bemerkungen über ihr Verhältnis zu den Ladinos, den Garifuna, den Pech und Tawahka ein, was ebenso von Rodrigo und José kommentiert wurde. Hans machte sich Notizen und stellte von Zeit zu Zeit Zusatzfragen, wenn ihm etwas nicht klar war. So verging der Nachmittag wie im Flug, und schon bald mussten sie an die Rückfahrt denken.

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Foto: La Tribuna, Abfahrt vom Landesteg bei Belén, Lagune Ebans, Autor: Ramón Nuila

Die letzten Tage vor der Abfahrt nach Tegucigalpa gingen schnell vorbei. Hans und José besuchten noch einige Garifunadörfer in der Umgebung von Palacios und ließen es sich ansonsten gut gehen in der Obhut ihrer Gastgeber. Zwischen Hans und Carmen entwickelte sich eine gegenseitige Anziehung, die sie jedoch vor den anderen verbargen. Sie tauschten versteckte Blicke aus; bisweilen neckte Carmen Hans, wenn er sich unbeholfen oder falsch im Spanischen ausdrückte. Auch versuchte sie, ihn beim Essen mit kleinen Extras zu verwöhnen. Dabei bezog sie jedoch stets José in einer Weise ein, dass dieser die besondere Aufmerksamkeit Hans gegenüber nicht bemerkte. Als der Abschied von Palacios und Rodrigos Familie herbeikam, wäre Hans gerne noch länger geblieben. José und er hatten die Gastfreundschaft und Warmherzigkeit der Familie genossen und versprachen, so bald wie möglich wieder an die Moskitiaküste zurückzukommen. Während Hans den beiden Frauen an der Landepiste das übliche Abschiedsküsschen auf die Wange gab, hätte er am liebsten Carmen an sich gedrückt. Ihre innere Erregung blieb ihm nicht verborgen. Aber dann kletterte er hastig in das kleine Flugzeug, um die Verwirrtheit seiner eigenen Gefühle nicht zur Schau zu stellen.

Die lange Busfahrt von La Ceiba zurück nach Tegucigalpa verlief sehr viel anders als die Hinfahrt. Hans hatte so viele neue Eindrücke seit seiner Ankunft in Honduras erfahren, dass er nur das Verlangen hatte, allein gelassen zu werden, um noch einmal in seinen Gedanken die verschiedenen Erlebnisse, Stimmungen und Emotionen der letzten Tage an sich vorbeiziehen zu lassen. Er entschuldigte sich bei José für seine Zurückgezogenheit und gab vor, einfach schrecklich müde zu sein.

Hans befand sich nicht nur geografisch, sondern auch gefühlsmäßig auf neuem Terrain. Seine Passivität und seine Unsicherheit dem zukünftigen Leben gegenüber wurden von einem erwachenden Interesse an seiner neuen Umgebung abgelöst. Schon auf der Hinfahrt nach La Ceiba beeindruckten ihn die jungen Menschen in ihrer Unbekümmertheit. Warum konnte er nicht einfach seinen deutschen Ballast abschütteln und sich unbeschwert in eine fremdartige, exotische, verführerische Umgebung hineinfallen lassen? Hatte der Zufall des Lebens nicht gerade das mit ihm vor? Wurde seine Reise nach Honduras nicht zu einer einzigartigen Gelegenheit, den bundesdeutschen Alltag mit seiner unheilvollen Vergangenheit zu verlassen und in Neuland aufzubrechen? Sollte sein Leben einen zweiten Sinn bekommen? Ilse hatte mit seiner Abfahrt auch die Möglichkeit bekommen, sich noch einmal neu in ihrem Leben orientieren zu können. Doch wie stand es mit der Verantwortung seinen beiden kleinen Kindern gegenüber? Sabine und Alexander brauchten einen Vater. Wie könnte er aus der Ferne seine Vaterrolle wahrnehmen? Oder sollte irgendein Stiefvater seine Rolle übernehmen, und wollte er das? War er verantwortungslos, wenn er den Verlockungen einer weit jüngeren Frau nachgab, die dazu noch aus einem ihm völlig unbekannten Kulturkreis stammte? Sollte er sich nicht mit aller Macht gegen dieses sinnliche Aufbrechen einer ihm bisher fremden Lust entgegenstellen? Wer weiß, wohin ihn das führen würde? Mit Ausnahme seiner ersten großen Liebe zu Vera hatte ihm bis jetzt sein Verstand selbst in Liebesdingen den Weg gewiesen, und er hatte seinen Kopf stets über Wasser halten können. Aber was bedeutete denn sein Studium der Ethnologie? Sollte er lediglich einen gedanklichen Erkenntnisprozess durchlaufen, oder würde die Berührung mit dem Fremden ihn von Grund auf verändern? Derlei Fragen und Gedanken bewegten ihn, und er wurde sich plötzlich bewusst, dass diese Doktorarbeit sein bisheriges Leben in eine gänzlich neue Richtung lenken könnte.

(Ende des ersten Kapitels)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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