Auf der Suche nach dem wahren Peru

Conchucos (1) "En la búsqueda del Perú profundo". Geschichte aus dem heutigen Peru in Folgen

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Foto: Wikimedia Commons: Laguna de Conococha, 4050 m.ü.M., Beginn des Santa Flusses und des ‚Callejón de Huaylas’, Autor: Meister

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Zum Prolog siehe hier:

https://www.freitag.de/autoren/costa-esmeralda/auf-der-suche-nach-dem-wahren-peru

Folge (1) der Geschichte

Der moderne, bequeme Bus der ‚Cruz del Sur‘-Gesellschaft verließ den Busbahnhof im zentralen, geschäftigen Stadtteil Vitoria kurz vor 10 Uhr an einem Januarmorgen 2013. Gegen 11 Uhr hatte er sich im Verkehrsgewühl Limas bis in den Norden der Stadt vorgekämpft. Endlose, in den Wüstensand eingegrabene Vorstadtsiedlungen zu beiden Seiten des Panamericana-Highways führten den Busgästen bildlich die Geschichte Perus der letzten Jahrzehnte vor Augen. Erst war es die Agrarreform der Militärdiktatur, die ab 1968 die verelendeten, selbstständig gewordenen Kleinbauern der ‚Sierra‘ (Andenregion) von ihren ertragsarmen Minifundien nach Lima trieb. Dann verursachte das fürchterliche Erdbeben im Departement Ancash im Jahr 1970, bei dem insgesamt mehr als 70.000 Menschen den Tod fanden, einen gewaltigen Exodus von Menschen aus dieser Region in Richtung Lima. Ab Beginn der 80er Jahre begannen die Guerilla von ‚Sendero Luminoso‘ und ‚MRTA“ besonders in der ‚Sierra‘ zu wüten. Wiederum machten sich Zehntausende auf den Weg nach Lima. Und schließlich, als sei das Elend in den Bergen nicht ohnehin schon groß genug, nahm die zunehmende Bodenerosion in den Anden keine Rücksicht auf die bäuerliche Bevölkerung. So kam es, dass weitere Hunderttausende gen Lima marschierten und sich mehrheitlich in der rauen Wüste im Norden der Metropole Land aneigneten und behelfsmäßige Wohnquartiere einrichteten. Anfangs mithilfe von Packpapier oder Plastik - später mit festeren Baumaterialien. Anfangs ohne jegliche Infrastruktur, ohne Wasser, ohne Strom – heute meist mit dem Notwendigsten versorgt.

„Wer weiß, auf welchen frühgeschichtlichen Schätzen einige Siedlungen erbaut wurden,“ sagte Sonia zu Walther. „Wie oft haben Archäologen ganze Städte aus dem Wüstensand gebuddelt, der in frühen Zeiten fruchtbares Land war und Fauna und Flora sowie hochentwickelte Kulturen besessen haben muss.“

Sonia saß neben Walther im Bus auf der Fensterseite. Er schätzte sie um die 30 Jahre alt. Beide hatten sich gleich nach Einnahme der Sitzplätze gegenseitig vorgestellt. Sonia arbeitete als Journalistin eines TV-Programms in Huaraz, der Hauptstadt des Departements Ancash im ‚Callejón de Huaylas‘. Sie hatte über Weihnachten und Neujahr eine verheiratete Schwester in Lima besucht und befand sich auf der Rückfahrt nach Huaraz, wo sie am morgigen Tag ihre Arbeit wieder aufnehmen würde. Walther erzählte ihr von seinem geplanten Besuch im ‚Callejón de Conchucos“, nicht jedoch, dass er auf der Tour persönliche Eindrücke über mögliche zukünftige Entwicklungen in Ancash und Peru zu gewinnen hoffte. Er wollte nicht, dass Sonia ihn deswegen als einen Phantasten bzw. Träumer ansehen würde. Sie schien ihm eine typische Vertreterin einer neuen, aufgeklärten Generation von gut ausgebildeten Frauen zu sein, wie er sie auch häufig unter Lehrerkolleginnen antraf. Um sich diesen Frauen gegenüber nicht beim ersten Kennenlernen in negatives Licht zu setzen, war es ihm zur Gewohnheit geworden, sich erst einmal zurückzunehmen.

Etwa gegen halb fünf Uhr nachmittags hatte sich der Bus von der Panamericana, die parallel zum Pazifik verläuft, bis hinauf zur Lagune ‚Conococha‘ auf über 4.000 Meter Höhe gequält. Dort beginnt der Santa-Fluss, der den ‚Callejón de Huaylas‘ hinunterfließt. Von hier aus hat der Besucher einen ersten eindrucksvollen Blick über die Weite der Puna bis zu den gletscherbedeckten Kordilleren ‚Huayhuash‘ im Süden und ‚Cordillera Blanca‘ im Norden.

Sonia und Walther vertraten sich ebenso wie die übrigen Busgäste während einer kurzen Pause die Beine, mit Fotoapparaten bewaffnet. Beide mussten erst einmal schlucken. Vor allem Walther hatte ungewohnte Atemschwierigkeiten und ein leichtes Schwindelgefühl. Selbstverständlich hatte er seine ‚Alpaca-Chompa‘ (Pullover aus Alpaca-Wolle gestrickt) und seine Lederjacke, die er darüber zu tragen pflegte, wenn es die Temperatur erforderte, nicht in Lima vergessen. Sonia war auf dieser Höhe ebenfalls gut eingepackt, denn es war um die späte Nachmittagszeit bereits recht kalt am Fuße der Lagune. Der Wind, der von den Gletschern herüberwehte, setzte den Neuankömmlingen mitleidslos zu.

„Walther, ich rate Dir, ein paar Kokablätter zu kauen und den Saft zu lutschen.“ Mit diesen Worten zog Sonia ein kleines Plastikpäckchen mit getrockneten Kokablättern aus ihrem dicken Anorak. Sie nahm sich selbst ein paar Blätter heraus, steckte sich diese in den Mund und reichte Walther das Päckchen. Er wusste um die mannigfache medizinische Wirkung der Kokablätter. In den gesamten Hochanden wurde diese wahre Wundermedizin seit Jahrtausenden von der lokalen Bevölkerung geschätzt. Unter anderem hilft der Saft der Blätter, um die Blutzirkulation im Gehirn zu akzelerieren und so das Unwohlsein in großen Höhen auf natürliche Weise zu beheben. Bitter beklagen sich die Kokabauern in der ‚ceja de la selva‘ (hochgelegenes Amazonasgebiet am Fuße der Anden) darüber, dass ihre Kokabüsche weltweit als negatives Symbol und Rohstoff für die Kokain-Herstellung und den Drogenhandel gelten anstatt als traditionelle Heilpflanze mit verschiedensten positiven Eigenschaften für die menschliche Gesundheit. Aus dem Kokablatt könnten auf billige Weise verschiedenste Heilmittel gewonnen werden und etliche synthetisch hergestellte Pharmaprodukte überflüssig machen. Walther kannte Kokablätter aus seiner Kindheit aber auch von seinen Touren nach Cusco und über den Ticlio-Pass. Er freute sich bereits auf den heißen Koka-Tee, der ihm wie auch anderen Touristen sicher gleich nach Ankunft im Hotel in Huaraz angeboten würde.

„Wie hast Du Dir eigentlich Deinen Aufenthalt in Huaraz vorgestellt? Wirst Du sofort zum ‚Callejón de Conchucos‘ weiterreisen, oder bleibst Du noch einige Tage in der Stadt?“

„Ich habe bisher nur einen zusätzlichen Tag in Huaraz eingeplant. Mich interessiert, Yungay zu besuchen um zu sehen, wie sich der Ort inzwischen entwickelt hat, nachdem er beim Erdbeben 1970 völlig vom Erdrutsch, der vom höchsten ‚nevado‘ (Gletscherberg) Perus, dem Huascarán, ins Tal hinunterdonnerte, zermalmt wurde. Dann will ich mir auf dem Rückweg noch ein Bild vom Tempel Willkawain der Huari-Kultur machen. Schließlich möchte ich in Huaraz selbst, wenn es möglich ist, das um die Jahrtausendwende neuerbaute Stadtviertel ‚El Pinar‘ für die Beschäftigten von ‚Antamina‘ besuchen. Wie ich hörte, hat das ausländische Minenkonsortium für seine Beschäftigten, die sich jeweils einen halben Monat lang mit Schwerstarbeit im Tagebau auf 4.200 Meter Höhe abzurackern haben, im 3.100 Meter hoch gelegenen Huaraz ein wohnliches Zuhause für den Rest des Monats eingerichtet. Die zumeist ausländischen Arbeitskräfte und ihre Familien erhalten wohl ein saftiges Einkommen, das weit über dem peruanischen Durchschnitt liegt.“

„Walther, da hast Du recht gehört. Meiner Ansicht nach ist Antamina für die Entwicklung Perus ein zweischneidiges Schwert. Das wirst Du sicher in ‚El Pinar‘ und später im ‚Callejón de Conchucos‘ selbst erfahren. Schade übrigens, dass Du nicht noch einen Tag länger bleibst. Ich werde nämlich in zwei Tagen eine Reportage über Pastoruri machen, um über das Abschmelzen dieses Gletschers, den Klimawandel und seine Folgen für unser Land zu berichten. Wir sind in unserem Jeep nur drei Personen, der Fahrer, der Kameramann und ich. Du hättest noch Platz und könntest später Deinen Schülern anschaulich berichten, was es mit der Erderwärmung auf sich hat, und was auf Peru und seine Menschen künftig zukommen wird.“

„Sonia, Dank für die Einladung. Das lässt sich machen. Ich bin flexibel in meiner Reiseplanung und die Klima- und Umweltproblematik sind wichtige Themen in meinem Unterricht.“

Sonia und Walther machten aus, sich am kommenden Abend in einem Restaurant in Huaraz zu treffen, um die Einzelheiten der Tour nach Pastoruri zu besprechen.

Gegen sechs Uhr abends erreichte der Bus Huaraz. Noch war es hell genug, um die ganze Schönheit der ‚Peruanischen Schweiz‘ am Fuße der ,Cordillera Blanca‘, wie Huaraz liebevoll bezeichnet wird, zu erfassen. Die Lage der Stadt mit der malerischen Cordillera im Hintergrund, welche als Nationalpark und Weltnaturerbe ‚Huascarán‘ besonders geschützt ist, könnte nicht besser sein.

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Foto: Wikimedia Commons (2008), Blick nach Norden über Huaraz (3.100 m) hinweg in Richtung der höchsten Region der Cordillera Blanca. Von links nach rechts: Nevado Huandoy (6.395 m), Nevado Huascaran (6.768 m) und Nevado Chopicalqui (6.354 m). Entfernung 50 km. Autor: Uwebart

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Fortsetzung folgt (hoffentlich bald)

Noch ein schönes Wochenende! CE

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Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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