Bürger-Phobie

Wahlkampf 2017 (11) oder die panische Angst der Bundestagsparteien vor dem "mündigen" Bürger

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Eingebetteter Medieninhalt

Foto: Schloss Bevern, Kreis Holzminden

- - -

Liebe dFC,

eigentlich hatte ich vor, die letzten beiden Folgen meiner Wahlkampf-Ochsentur in 2017 hier nicht einzustellen, sondern sie einer Buchveröffentlichung über meine Wahlkampagne (Realität plus Fiktion) vorzubehalten. Jedoch hat mich das gegenwärtige unwürdige Berliner Polit-Theater dazu bewogen, die beiden Folgen doch hier zu veröffentlichen. Ich bezwecke damit keinesfalls, eine besinnliche Advents- und Weihnachtszeit zu vermiesen. Hoch lebe unser geliebter Weiterso-Parteienstaat!

- - -

11. Folge

  1. September. Der Zuschauerraum im „Lalu“, einem Veranstaltungssaal in Hameln, fasst schätzungsweise bis zu 150 Besucher. Zu der von den Wirtschaftsjunioren veranstalteten Kandidatenbefragung „10 Minuten Politik“ (10 Minuten insgesamt für jeden Kandidaten) war ich nachträglich eingeladen worden. Wieder einmal musste ich gegen meinen Ausschluss aus einer öffentlichen Veranstaltung protestieren. Mir wurde ein Platz im Publikum gestattet, um am Ende des Wahlchecks der anderen Direktkandidaten auch ein Wort zu meinen politischen Vorstellungen äußern zu können. Die Direktkandidaten der „staatstragenden“ und der „Über-5%-Parteien“ nahmen dagegen auf der erleuchteten Bühne vor Cocktailtischen Aufstellung. Erstwähler, d. h. Schüler und Lehrlinge, sollten Gelegenheit bekommen, sich ein Bild der Kandidaten und der hinter ihnen stehenden Parteien zu machen. Auf ihren Smartphones sollten sie die Beiträge der Kandidaten bewerten.

Ziemlich weit vorn vor der Bühne sitzend, neben mir die jungen Menschen, ließ ich mir diese herabwürdigende Behandlung durch die Veranstalter geduldig gefallen. Der Schüler an meiner Seite flüsterte mir zu: „Sie sollten statt des AfD-Kandidaten auf der Bühne Rede und Antwort stehen.“ Als die Kandidaten die Programme ihrer Parteien recht und schlecht verteidigt und die Jungwähler ihre Bewertungen vergeben hatten, stieg ich auf die Bühne und schnappte mir das Mikrofon. Mit ein paar Sätzen erklärte ich meine parteilose Kandidatur und schlug den Erstwählern vor, bei der nächsten Wahl die Polit-Kandidaten mit von den jungen Wählern selbst ausgearbeiteten Forderungen zu konfrontieren anstatt passiv das Angebot der etablierten Parteien entgegenzunehmen. Die Zeit für Bürger-Emanzipation müsse endlich anbrechen.

Ich hatte nicht einmal zwei Minuten gesprochen, da wurde mir das Mikrofon abgedreht. Mein Beitrag war offensichtlich zu viel des Guten an Demokratie. Unverzüglich und maßlos frustriert machte ich mich auf den Heimweg. Ich hatte das demütigende Procedere der Veranstaltung nur auf mich genommen, um mich wenigstens einmal an junge Wähler wenden zu können. Das Albert Einstein Gymnasium in Hameln hatte mich schon vorher nicht zur öffentlichen Diskussion eingeladen. Und die Nichtregierungsorganisationen, unter ihnen auch ein Leistungskurs des Schiller-Gymnasiums, auf dem ich einst mein Abitur machte, reservierten mir nur einen fünfminütigen Beitrag am Katzentisch, während sich die übrigen Kandidaten in der ausführlichen Verteidigung ihrer jeweiligen Parteiprogramme gefielen.

Der nächtliche Fußmarsch nach Hause brachte mir erneut die Aussichtslosigkeit der Einforderung von direkter Demokratie in Deutschland ins Bewusstsein. Die Kandidatenkonterfeis und Wahlslogans der „Altparteien“ und der AfD, die ich unterwegs passierte, schienen mich im Lichte der Straßenlaternen geradezu zu verhöhnen: „Du unverbesserlicher Idealist, der als parteiloser Direktkandidat keinerlei staatliche- wie private Mittel besitzt, um sich auf Straßen und Plätzen im Wahlkreis sichtbar zu präsentieren, was predigst Du nur gegen unsere politische Monopolmacht? Der Bürger will nicht Souverän im Staate sein. Begreif das endlich! Auch auf öffentlichen Wahlforen der gesellschaftlichen Interessengruppen wie DGB, IHK, Bauernverband, Nichtregierungsorganisationen und auch öffentlichen Schulen existiert Demokratie nur in Form von Bundestagsparteien-Macht. Dort hast Du nichts zu suchen. Wer es wagt, Bürger-Emanzipation und direkte Demokratie ins Spiel zu bringen, wird vom öffentlichen Diskurs rigoros ausgeblendet. Wir etablierten Staatsparteien leiden allesamt unter ‚Bürger-Phobie‘. Der ‚Mündige Bürger‘ ist und wird auch in Zukunft lediglich als Schimäre die Sonntagsreden der etablierten Parteien schmücken.“

  1. September. Der Wahlkampf neigt sich dem Ende zu. Meine letzten 5.000 Flyer landeten vor zwei Tagen per City Post vor allem in Briefkästen von Hamelner Nachbarschaften, in denen der Niedriglohnsektor zu Hause ist. Vorher hatte ich selbst etwa 5.000 Flyer verteilt; ein paar Hundert wurden auch von Freunden unter die Leute gebracht. Von den insgesamt 13.000 Flyern, die etwa 20% der Haushalte des Wahlkreises erreichten, war die Hälfte absichtlich an die ärmeren Familien in öffentlich geförderten Sozialwohnungen verteilt worden, die andere Hälfte in Ein- oder Zweifamilienhäusern der Mittel- bzw. der gehobenen Mittelschicht. Ich wollte nach der Wahl wissen, welche Bevölkerungsschichten mich gewählt haben und mit meinen Programmpunkten von Bürger-Macht und Sozialer Gerechtigkeit zumindest sympathisierten.

Etwa 2.000 Euro an eigenen Ersparnissen hat mich die Kampagne gekostet. 500 Euro wurden mir von Freunden gespendet. Mein eigener Arbeitsaufwand und Lebensunterhalt von sechs Monaten kostete monatlich etwa 900 Euro. Alles in allem hat meine Kampagne 5.600 Euro an Eigenmitteln und 500 an Spenden gekostet. Hat ein unabhängiger „Normalbürger“ unter diesen materiellen Bedingungen überhaupt eine Chance, an einem sogenannten demokratischen Wahlkampf erfolgreich teilzunehmen? Auch wenn er/sie ein überzeugendes Programm im besten Bürger-Sinn auf die Beine gestellt hat? Oder zerquetscht der Parteienstaat mit seinen Steuermillionen und den dahinter stehenden Interessengruppen und Seilschaften jegliches Aufflackern von Bürger-Emanzipation? Und das in einer satten, doch ängstlichen und obrigkeitshörigen Gesellschaft, die sich seit Jahrzehnten unter der Herrschaft von wirtschaftlichen und politischen Oligarchien duckt, so dass sie gar nicht mehr in Kategorien von politischer Freiheit und Humanismus zu denken vermag?

Nur noch eine Woche, dann werden wir wissen, wie der Bürger entschieden hat, in Deutschland und in meinem ländlich geprägten Wahlkreis Hameln-Pyrmont/Holzminden. Seit Beginn der „heißen“ Phase des Wahlkampfes nach den Sommerferien habe ich mich damit abgefunden, keinen Blumenpott als parteiloser Bürgerkandidat gewinnen zu können. Freunde hatten mich gewarnt, überhaupt das Abenteuer eines Wahlkampfes auf mich zu nehmen. Deutschland sei nicht reif für eine Bürger-Emanzipation in diesem seit beinahe 70 Jahren eisern etablierten Parteienstaat, der seine Herrschaft vor allem gegenüber zwei Bürger-Herausforderungen mit Bravour bestanden hat: der Studentenrevolte der „68er-Generation“ und der Bürgerrechtsbewegung 1989 in der ehemaligen DDR, die schließlich die deutsche Wiedervereinigung zur Folge hatte. Der Traum von einer freien Bürgerrepublik von seinen Anfängen an im deutschen Bauernkrieg zur Zeit der Reformation, über die Zeit der Aufklärung hinweg, der Französischen Revolution, des Vormärz‘, der Frankfurter Nationalversammlung, der Weimarer Republik, der UN-Charta der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg und schließlich der Gründung der Bundesrepublik mit seinem Verfassungs-Versprechen einer Volkssouveränität, dieser Traum wurde und wird immer wieder mit Füssen getreten und das in dem Masse, dass selbst der Bürger wahre politische Freiheit und direkte Demokratie gar nicht mehr begehrt, sich diese gedanklich gar nicht mehr vorstellen kann, geschweige denn erträumen kann. So sehr hat das wirtschaftliche und politische Establishment mit der Kanzlerin an der Spitze die Gehirne der Masse der Menschen vernebelt, dass tatsächlich die Bundesrepublik heute vom Bürger als die beste aller Welten, als die Krönung der deutschen Geschichte wahrgenommen wird. Selbst wenn sich der Bürger real in unwürdiger Untertanen-Rolle befindet, und selbst wenn er sich real in Armut befindet, so identifiziert er sich mehrheitlich mit dem gesellschaftlichen Status quo. Noch hat er zu essen, noch hat er Frieden, auch wenn es rings um ihn herum bereits zu knallen beginnt. Bisher sind es nur die Nationalisten und die Menschenfeinde, die gegen den Parteienstaat aufbegehren, die „Verrat an Deutschland und am Abendland“ brüllen. Aber wie lange werden sie eine Minderheit sein?

- - -

Auf ein schönes Adventswochenende!

CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden