D und EU ohne Vision und Orientierung

Wie Schilf im Wind Wanderungen haben gerade erst auf der Welt begonnen. Was wird in zwanzig Jahren sein? Werden Deutschland und EU endlich aufwachen und in die Zukunft blicken?

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Foto: 10. September: In Spandau macht ein Flüchtling ein Selfie mit der Kanzlerin. Credits: REUTERS

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Einwurf aus der Ferne

Von „Mutti“ zum „Flüchtlingsengel“? Es kann eigentlich nichts mehr passieren. Frau Merkel ist bereits jetzt erneut Kanzlerin ab 2017. Niemand wird ihr im Entferntesten die Regentschaft streitig machen können. Im Handstreich hat sie das Image der mitleidlosen „Griechenland-Luftabschneiderin“ abgestreift und sich zur weltweit gefeierten Symbolfigur für Menschlichkeit gemausert. Das macht ihr so schnell keiner nach. Da waren die „Blühenden Landschaften“ eines „Uns-Kohl“ nichts dagegen.

Aber wir sollten näher hinsehen und hoffentlich hellhörig werden. Was Frau Merkel dort aus dem Stand auf die Matte stellt, entspricht exakt dem Kern des deutschen Wesens, wenn wir dieses Wesen denn als durchschnittliche Gemütslage der Deutschen definieren:

1: Einerseits selbstgerechte Überhöhung und gnadenlose Abstrafung des „Fremden“ (Griechen), der nicht so funktioniert, wie sich das nach deutschem Verständnis gehört.

2: Andererseits plötzlich aufkommende Empathie mit Flüchtlingen in Not. Doch wie lange noch?

Hier sei mir eine ungehörige Frage erlaubt: Warum hat sich eine solche Empathie der Deutschen nicht im Dritten Reich Bahn gebrochen angesichts des millionenfachen Abtransportes von Juden und anderen Ausgegrenzten in die Konzentrationslager?

3: Und drittens: Ein fortdauerndes, planloses Herumwursteln im jeweiligen Augenblick nach dem Motto: Was brauchen wir Vision? Orientierung heißt Weiterso. Kapitalismus ist schön und macht zumindest die Ober- und Mittelklasse satt. Das genügt. Basta!

Ich nenne das, ebenfalls ungehörig, das „Merkel Syndrom“: Angst und Stillstand.

Doch geht es mir nicht so sehr um Merkel, obwohl sie doch die Richtlinien der Politik bestimmen sollte, womit sie offensichtlich heillos überfordert ist. Nein, es geht mir beim Blick auf Deutschland und Europa angesichts der Flüchtlingsproblematik, oder besser gesagt, der Wanderungsproblematik, vielmehr um den jeweiligen Beitrag von Politik, Wirtschaft bzw. Kapital und Zivilgesellschaft zur Lösung dieser wichtigsten Problematik des 21. Jahrhunderts. Alle drei Sektoren der Gesamtgesellschaft trifft gleichermaßen die Verantwortung dafür.

Statt an Symptomen herumzudoktern, was die besondere Spezialität der deutschen und europäischen Politik ist, gehen wir einmal ungeschminkt und frech, im Sinne der Wahrheitssuche und der Nichtbefolgung der Mainstreammeinung (von der wir mittlerweile die Nase gestrichen voll haben), auf die Ursachen der derzeitigen Wanderungsproblematik ein und setzen uns ungeniert, wenn auch nicht in der gebotenen Ausführlichkeit, auseinander mit möglichen Handlungsweisen der Politik, Wirtschaft/Kapital und Zivilgesellschaft.

Zu Beginn ist es unumgänglich, sich grundsätzlich in Erinnerung zu rufen, dass:

Flucht, aus welchen Notsituationen heraus auch immer, stellt ein universales Grundrecht für den Flüchtenden dar und bedeutet für den Nicht-Flüchtling Verantwortung zur Hilfeleistung, sofern er dazu imstande ist. Die völlig verfehlte Diskussion um unterschiedliche Flüchtlingskategorien und deren jeweilige Behandlung ist beschämend und sollte gar nicht erst aufkommen. Aber leider scheint auch das eine Spezialität deutscher Politiker zu sein, und das vor allem in Hinblick auf das Andienern bei potentiellen Wählergruppen in der politischen Mitte und am rechten Rand.

Zwei wichtigste Ursachen für weltweite Wanderungen und Flucht

1.: Wichtigste Ursache für kriegsbedingte Flucht und Vertreibung ist die seit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems verstärkt betriebene Weltmachtpolitik der USA. Wenn wir aufrichtig sind, müssen wir die USA öffentlich an den Pranger stellen und das Atlantische Bündnis, so wie es derzeit funktioniert, infrage stellen. Das impliziert für Deutschland und Europa die sofortige Aufgabe der US-Vasallenrolle und die Einbeziehung Russlands in ein „Gesamteuropäisches Haus“. Dabei spielt überhaupt keine Rolle, wer die jeweilige Führung in Russland innehat. Ein um Russland und die Ukraine erweitertes, friedliches Europa wird den USA ein Bündnis vorschlagen, in der gleichberechtigt, zusammen mit China und dem Rest der Welt, die Friedensproblematik im Rahmen der UN behandelt wird. Die USA müssen in Zukunft an einseitig beschlossenen Kriegen gehindert werden. Auch Koalitionen von Willigen sollte es nicht mehr geben. Das Zeitalter des Imperiums USA muss nach hundert Jahren beendet werden. Deutschland und Europa können und müssen an diesem Ziel arbeiten, wenn uns das Überleben unserer Enkelkinder auf dem Globus lieb ist. Es geht nicht um Hass gegenüber den USA, es geht allein um ein Zurückstutzen ihrer Supermachtrolle, die bereits zu viel Unheil in der Weltgeschichte angerichtet hat, so wie wir das auch von unserem eigenen Land in der Vergangenheit kennen. Europa und die Welt wird den Menschen der USA brüderlich die Hand reichen, wenn diese ihrem militärischen und technologischen Komplex die kriegstreibenden Flügel ein für alle Mal stutzen.

2.: Damit komme ich zur zweiten Ursache, und die geht Hand in Hand mit der Weltmachtpolitik der USA. Es ist der mörderische globale Kapitalismus, der tötet, der verarmt, der verelendet, der entfremdet, der Rohstoffe unerbittlich ausbeutet und für den Reichtum der Metropolen nutzt, der Menschen aus der Heimat vertreibt, der Menschen zur variablen Arbeitskraft degradiert, um Kapitalverwertung weltweit zu optimieren.

Deutschlands und Europas Anteil an den zwei Hauptursachen der Wanderungs- und Flüchtlingsproblematik

Wie bereits erwähnt, hat Deutschland und Europa in falsch verstandener Atlantischer Bündnistreue bisher die US-Imperiumspolitik seit dem Zweiten Weltkrieg als gefügiger Vasall mitgespielt. Bis auf einen lichten Moment von Schröder/Fischer, die das von den US herbeigeführte Desaster im Nahen Osten richtig vorausgesehen haben (Merkel damals und bis heute eisern in der „Koalition der Willigen“), folgten Deutschland und Europa im Allgemeinen blind der zerstörerischen und menschenverachtenden US-Politik, an deren Folgen unser Kontinent zugrunde gehen wird, wenn nicht endlich Vernunft im Alten Kontinent einkehrt.

Aber nicht nur waren das politische Deutschland und Europa gelehrige US-Schüler auf dessen kriegerischen Wegen. Das Kapital Europas hat sich ebenfalls an der Ausbeutung der Rohstoffe der Peripherie bis zum heutigen Tage mit Erfolg schadlos gehalten. Und das geht so weiter, tagein, tagaus. Hat jemand einmal Frau Merkel oder deutsche Minister ohne Wirtschaftsbosse im Tross reisen sehen? Hat jemand einmal einen ernsthaften Versuch von Entwicklungspolitik und Wirtschaft gesehen, um Menschen in der Peripherie so zu unterstützen, dass sie ihre Rohstoffe in eigener Verantwortung und mit eigenem Know how verwertbar machen können? Dass sie Technologie-Zentren errichten, um unabhängig von den Metropolen zu werden? Das Wirken des deutschen und europäischen Kapitals in der Peripherie war und ist schlicht Raub, und die Entwicklungspolitik geht dem Kapital dabei geflissentlich zur Hand. Ausnahmen wie Humanitäre Hilfe hat es gegeben und gibt es. Leider wird sie viel zu geizig gegeben und wäre auch weniger nötig, wenn US-Imperiumspolitik und schändliche Kapitalverwertungspolitik auf entschiedenen Widerstand träfen.

Welche Handlungsweisen sind Politik, Wirtschaft/Kapital und Zivilgesellschaft anzuraten, um Wanderung und Flucht zu reduzieren?

1.: Politik

(i) Deutsche und Europäische Politik müssen das Atlantische Bündnis auf den Prüfstand stellen. Motto: Vom Vasallenstatus zum gleichberechtigten Partner. Gelingt das nicht, sollte das Bündnis offen infrage gestellt werden. Parallel dazu:

(ii) Errichten eines „Gesamteuropäischen Hauses“ mit Einschluss von Russland und Ukraine.

(iii) Restrukturierung des Weltsicherheitsrates der UN mit Mehrheitsentscheidung bei Beibehaltung des Monopols über Internationales Recht.

2.: Wirtschaft/Kapital

Eingangsfrage: Bei aller freundlichen Aufnahme der Flüchtlinge vonseiten der Politik und der Zivilgesellschaft: Wo ist die helfende Hand des Kapitals geblieben? Kennt diese Hand nur Nehmen, nur Ausbeutung? Nur Industrie-Messen mit Merkel und Gabriel im Licht der Kameras? Kein Zurverfügungstellen von finanzieller und sachlicher Hilfeleistung? Zählt nur der Blick auf die Kurse, sonst nichts?

Deutsche und europäische Politik sollten das Handeln der Wirtschaft im außereuropäischen Ausland nur dann fördern, wenn ethische Arbeits-Standards eingehalten werden, wenn Umweltverträglichkeit eingehalten wird und wenn im Zusammenwirken mit Politik eine endogene Entwicklung in den jeweiligen Ländern gefördert wird (empowerment von Menschen und Regionen).

Was endlich gebraucht wird, ist der Einstieg vom Ausstieg des Kapitalismus als vorherrschender Form wirtschaftlichen Handelns. Die Förderung von „Solidar-Wirtschaft“ in Europa sowie in der Peripherie, finanziert durch von der Zivilgesellschaft überwachte öffentliche Fonds ist das Gebot der Stunde. Nicht nur Arbeitslosigkeit und Niedriglohn in Europa müssen durch geeignete auf lokale Ressourcen setzende Regionalpolitik verschwinden, auch die europäische Entwicklungspolitik muss durch „Solidar-Wirtschafts-Fonds“ in der Peripherie ergänzt werden.

3.: Zivilgesellschaft

Die aktuellen Wanderungen machen mehr als deutlich, dass die Stunde der Zivilgesellschaft geschlagen hat. Politik ist schlicht überfordert, die Flüchtlingsproblematik adäquat anzugehen. Die Wirtschaft hat nur Eigeninteresse im Auge: Verstärkte Ausbeutung der Arbeitskraft bei Vergrößerung der Reservearmee. Die Menschenrechte auf selbstbestimmte, nicht entfremdete Arbeit, auf menschenwürdige Lebensbedingungen, auf unentgeltliche Erziehung und Ausbildung sowie Gesundheit können nur dann überall auf der Welt durchgesetzt werden, wenn die Zivilgesellschaft endlich der Souverän im eigenen Haus wird. Das bedeutet, rigoros die Kontrolle über die öffentlichen Angelegenheiten zu übernehmen. Es geht nicht darum zu warten, bis öffentliche Hand und Wirtschaft die selbstlos helfenden Hände der Zivilgesellschaft bei der aktuellen Flüchtlingskrise unterstützen. Es geht jetzt um die eigenverantwortliche Organisation von Flüchtlingskomitees und die Verpflichtung der lokalen Behörden, diese Komitees finanziell zu unterstützen. Wenn Merkel, Minister, lokale Beamte überhaupt noch nützlich sein wollen, dann haben sie die Verpflichtung, der Zivilgesellschaft in ihren Bemühungen mit Rat und Geld zur Seite zu stehen. Die Zivilgesellschaft muss aufhören zu bitten, sie muss von den Vertretern, die sie gewählt hat, fordern! Integration und Menschlichkeit gelingen nur durch die Zivilgesellschaft selbst, gelingen nur über Millionen von Familien, die die Verantwortung für die Zukunft selbst in die Hand nehmen.

Aber vor allem muss jetzt die Zivilgesellschaft die Politik in Deutschland und Europa dazu zwingen, die Ursachen von Wanderung und Flucht umgehend in dem beschriebenen Sinne anzugehen. Jeder verlorene Tag, an dem das nicht geschieht, ist eine Niederlage für die Zukunft!

Werden wir endlich zornig! Es geht um unsere Kinder und Enkelkinder!

Noch einen schönen Sonntag, CE


Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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