Das Wunder von Jacmel

Elisabeth Erinnerung zum 5. Jahrestags des Erdbebens in Haïti (12. Januar 2010)

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Foto: Hermann Gebauer (25. Januar 2010): Elisabeth, (hier 20 Tage alt, davon sieben unter Trümmern und Schutt begraben) mit ihrer 19jährigen Mutter Michelene

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Vorbemerkung: Am 12.1. 2010 wurde Haïti von einem furchtbaren Erdbeben heimgesucht mit etwa 300.000 Toten und 2 Millionen Obdachlosen. Genaue Zahlen sind nicht verfügbar. Besonders ausländische Schätzungen geben geringere Opferzahlen an, da diese für die Internationale Gebergemeinschaft mit die Grundlage für Unterstützungsleistungen bilden, und die wollen besonders multi- und binationale Geber so gering wie möglich halten. Am 12.1.2013 hatte ich hier ebenfalls einen Beitrag zu Haïti eingestellt, auf den ich hier nochmals hinweise:

https://www.freitag.de/autoren/costa-esmeralda/ein-gruss-an-meine-haitianischen-freunde

Wie in meinem ersten Beitrag erwähnt, erlebte ich das Erdbeben am 12. Januar 2010 in der Hauptstadt Haïtis, in Port au Prince, wo ich mit meiner Frau wie durch ein Wunder mit dem Leben davon kam. Insgesamt wurden 100 Arbeitskolleginnen und –kollegen meiner Frau unter dem einstürzenden Hauptgebäude der UN begraben, das sie Minuten vor dem Beben verlassen hatte. Unter den Toten befanden sich auch die beiden anderen Chefs des verantwortlichen Triumvirates des 10.000 UN-Kontingents mit etwa 9.000 Blauhelmen, die dem „Failed State“ nach Jahren der Diktatur und des Chaos unter die Arme greifen sollten. Das fünfstöckige Gebäude, das höchste von Port au Prince, in dem ich mich zum Zeitpunkt des Bebens aufhielt, war wohl das bestgebaute in der gesamten Zweimillionenstadt und hielt wegen der dicken Grundmauern der Tiefgarage den etwa 50 starken Beben (Hauptschock mit mehr als 7 Grad und unmittelbar folgende Afterschocks) mit mehr als 5 Grad auf der Richterskala stand. Es schwankte zwar wie Schilf im Wind, hatte tiefe Risse, blieb aber stehen. Vom 18. Januar an arbeitete ich als Berater des World Food Programms (WFP) in Jacmel, der Departements-Hauptstadt im Südosten Haïtis. In Jacmel waren etwa ein Drittel der 10.000 Gebäude eingestürzt. 500 Tote wurden unter den Trümmern begraben, 1.000 Schwerverletzte waren zu beklagen und 20.000 Menschen waren obdachlos geworden. Ich hatte mein Büro im Areal des WFP, deren Gebäude und Lager so kompakt gebaut waren, dass sie keinen Schaden genommen hatten. Meine erste Unterkunft war in einem kleinen von einem Deutsch-Haïtianer betriebenen Hotel, in dem etliche „Internationale“ untergekommen waren. Wegen der Mauerrisse und der Gefahr eines endgültigen Einsturzes der Unterkünfte des Hotels, der Speisesaal war völlig zusammengekracht, schlief ich des Nachts mit meinem Kopf direkt an der Eingangstür, um mich bei einem „Afterschock“ mit einem Sprung ins Freie retten zu können. In einigen Nächten zog ich es vor, auf einem Stuhl unter den Palmen zu schlafen. Im Areal des WFP waren auch etwa 20 französische Rettungshelfer/Feuerwehrleute mit Hunden in Zelten untergebracht, die versuchten, etwaige noch lebende Menschen unter den Trümmern zu retten.

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Am 19. Januar spät nachmittags stürzte ein Feuerwehrmann aufgeregt in mein Büro. „Komm schnell, wir haben gerade einen Säugling retten können, und das nach sieben Tagen. Unglaublich!“

Wir nahmen den nächsten Jeep und brausten in Richtung Hospital davon. Dieses war gänzlich zusammengestürzt, jedoch hatten die französischen „Ärzte ohne Grenzen“ einen Tag nach dem Beben ein Behelfslazarett aus Zelten errichtet. Mühevoll bahnten wir unseren Weg durch die völlig zerstörte Unterstadt nahe der Hafenmole zum Lazarett. Dieses glich einem einzigen Chaos. Hunderte Verletzte lagen jammernd unter aufgespannten Planen. Ebenso viele Familienmitglieder und Verwandte versuchten sich den Verletzten zu nähern und mussten immer wieder zurückgehalten werden, um ein Minimum an Versorgung zu gewährleisten. Schließlich gelangten wir zu dem gerade geretteten Säugling, der so winzig und so friedlich schlafend in seiner Krippe lag, als hätte er gerade aus dem Mutterleib geboren das Licht der Welt erblickt. Seine junge Mutter kauerte in Tränen aufgelöst neben ihm, überglücklich über das soeben über sie hereingebrochene Wunder.

Elisabeth hieß der Säugling und war zur Zeit des Bebens eine Woche alt. Das Baby schlief in seiner Wiege im toten Winkel des einzigen Raumes eines schäbigen Hauses in der Unterstadt, das wie viele andere wie ein Kartenhaus zusammengestürzt war, während sich die Mutter gerade auf der Straße befand, um etwas zum Essen zu besorgen. Eine Woche lang schon tappte Michelene, Elisabeths Mutter, heulend mit anderen Trauernden in der Wüste aus Schutt und Trümmern herum, notdürftig ernährt durch die sofort eingerichteten warmen Essensausgaben des WFPs. Sie hatte nach den ersten Tagen die Hoffnung auf Rettung ihrer Tochter aufgegeben. Als am 19. Januar die französischen Rettungskräfte einige Trümmer des Nachbarhauses weggeräumt hatten, begann ein Rettungshund anzuschlagen. Und tatsächlich war Elisabeth in ihrer Krippe im begrenzten toten Winkel völlig unversehrt, schlief schon seit sieben Tagen im Dunkeln ohne jegliche Nahrungsaufnahme und es schien, als sei sie noch im Mutterleib. Mit ihrer Rettung war für Elisabeth, Michelene, die Feuerwehrleute aus dem fernen Frankreich und für ganz Jacmel ein Wunder geschehen.

Ich versprach Michelene, sie am nächsten Tag wieder zu besuchen und ihr genügend Essen mitzubringen, damit sie entsprechend gestärkt ihr Baby stillen könnte. Zurück im Büro fand ich eine Mail von meiner Sparkasse in Heidelberg vor. Dort waren alle Angestellten selbstverständlich über das Beben informiert, und die Frauen hatten spontan eine interne Geldsammlung veranstaltet. Sie wollten von mir wissen, ob ich diese Spende direkt den Betroffenen zukommen lassen könnte. Ich müsste doch vor Ort am besten wissen, wie den Menschen zu helfen sei. Ich hatte unmittelbar drei Ideen, was mit dem Geld am dringendsten gelöst werden könnte. Eine davon war, der Mutter von Elisabeth wöchentlich 50 Euro zukommen zu lassen, mit dem sie sich eiweiß- und vitaminhaltige Nahrung aus dem einzigen „Delikatessen-Laden“ eines Inders besorgen könnte. Auch gab es auf dem Markt einige frische Früchte und Gemüse, die die Bauern aus der Umgebung herbeischafften. Diese „Luxusnahrung“ für die Mutter war für Elisabeth in den ersten sechs Monaten, in denen sie ausschließlich auf Basis von Muttermilch ernährt wurde, lebensrettend. Ich fragte Michelene, wo denn der Vater von Elisabeth abgeblieben sei, und ob er sich nicht auch um das Baby kümmern könnte. „Oh, dieser hat sich unmittelbar nach Bestätigung meiner Schwangerschaft in die Hauptstadt abgesetzt. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.“ Michelene teilte das Schicksal von Abermillionen jungen Frauen in Lateinamerika, die zu 50% alleinerziehende Mütter sind: Das ist das glorreiche Resultat eines ausbeuterischen Kapitalismus in Händen nationaler und internationaler Oligarchien und auch in steigendem Masse der mörderischen internationalen Drogenmafia.

Vor einiger Zeit bekam ich Nachricht aus Haïti, dass Elisabeth inzwischen in einem Kindergarten untergebracht sei, und dass es ihr und ihrer Mutter Michelene ausgezeichnet ginge. Heute gilt mein Dank nochmals den engagierten Frauen der Sparkasse und auch den Kindern einer Schulklasse in der Nähe von Heidelberg, die mit uneigennützigem Engagement spontane Hilfe geleistet haben. Diese kam außerdem den Schulkindern einer privaten Schule zugute, die von der Mutter des Deutsch-Haïtianers geleitet wird und größtenteils aus den Hotel-Erlösen finanziert wird. Nicht unerwähnt sollte die Sofort-Hilfe der deutschen Welthungerhilfe sein, die die ersten Zelte aufstellte, um den Schulbesuch wieder aufnehmen zu können. Diese private Schule war wie nahezu alle anderen der Umgebung auch durch das Beben dem Erdboden gleichgemacht worden. Dazu muss man wissen, dass das staatliche Schulwesen in Haïti auf dem Land praktisch inexistent ist. Eine dritte wertvolle Hilfe kam einer jungen Frau zugute, der einzigen in einer Landgemeinde in der Nähe von Jacmel, die bis dahin bewusst unverheiratet und ohne Kinder geblieben war, um eine berufliche Ausbildung machen zu können. Sie begann einen Töpfer-Kurs und beabsichtigte, in Jacmel die Produktion von Töpferwaren einzuführen. Ich selbst konnte nach den ersten Tagen in Jacmel ein kleines sicheres Häuschen inmitten einer Bananenplantage beziehen, in der das Einschlafen nicht durch Angst vor Einsturz des Daches gestört wurde.

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Schlussbemerkung: Im von mir vor zwei Jahren eingestellten Beitrag, siehe Link oben, stehen einige erläuternde Informationen über Haïti, das das ärmste Land der westlichen Hemisphäre ist. Dort finden sich auch einige Bemerkungen zur Internationalen Hilfe, die nichts weiter bewirkt als die Perpetuierung von Armut, Unterdrückung und Ausbeutung der peripheren Länder zum Wohle des internationalen Kapitals. Trotz dieser düsteren Wahrheit ist das Handeln Einzelner, wie bspw. der französischen Feuerwehrleute oder der deutschen Sparkassenangestellten und der Kinder einer deutschen Schule nicht umsonst und zeigt, dass Solidarität unter Menschen unterschiedlichster Kulturkreise den „Einen Menschen“ zum Ziel hat, der von den Mächtigen dieser Welt immer wieder versucht wird zu fragmentieren, zu teilen, zu vernichten.

Ich möchte nicht versäumen, ein Foto einer Vodou-Zeremonie einzustellen, so wie ich sie wöchentlich in unmittelbarer Nachbarschaft meines Häuschens in der Bananenplantage erlebte. Die Vodou-Religion, die von mehr als der Hälfte der haïtianischen Bevölkerung praktiziert wird, leitet sich aus den animistischen Traditionen der westafrikanischen Völker ab, die als Sklaven des europäischen Kapitals nach Lateinamerika verschleppt wurden. Es waren diese schwarzen Sklaven und die unterjochten autochthonen lateinamerikanischen Völker, die die rasante europäische Industrialisierung seit dem 18ten Jahrhundert ermöglichten und deren Früchte wir noch heute unbekümmert im Überfluss genießen.

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Foto: Wikimedia Commons, Vodou-Zeremonie in Jacmel

LG, CE

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Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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