Die Liebschaften des Herrn Botschafter (6)

Anden-Saga Empfang in der Residenz des brasilianischen Botschafters in Quito, Ecuador: Es geht weiter auf den Spuren Alexander von Humboldts, 6. Folge

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Foto: Wikimedia Commons (2008) Vulkan Cotopaxi, Ecuador

Autor: Gerard Prins

Liebe dFC,

die Einführung von Clara Hansen in die historischen und heutigen Verhältnisse Ecuadors, Perus und Lateinamerikas nehmen ihren weiteren Verlauf in der Residenz des brasilianischen Botschafters in Quito. Diesmal ein Eingangsfoto, das Geschmack auf die Anden hervorzaubern soll.

Nach diesem Eingangssatz unterbrach er seine Rede. Aller Augen fühlte er auf sich gerichtet. Er räusperte sich und wischte sich mit der Serviette sorgfältig über Mund und Stirn, nachdem er einen Schluck des Moselrieslings genossen hatte. Einen Augenblick lang fehlten dem geübten Gastgeber die Konzentration, denn Yolandas Körperwärme wirkte in ihm fort wie der Duft des Jasmins in seinem Garten, den er möglichst lange für sich bewahren wollte. Dann aber wurde er wieder Herr der Lage und fuhr ohne Zögern fort:

„Der Unabhängigkeitskampf der lateinamerikanischen Staaten in den ersten 25 Jahren des 19ten Jahrhunderts wurde vor allem von den Kreolen vorangetrieben, den in den Kolonien geborenen weißen Nachkommen der Conquistadores. Sie hatten die Möglichkeit, im Alten Kontinent zu studieren und sich mit dem Gedankengut der Aufklärung bekannt zu machen. Ihr Hauptmotiv war das Erreichen der politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit von der spanischen Krone. Sie bildeten die neue nationale Oligarchie. Die politischen Ziele der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit waren hauptsächlich auf ihre eigene soziale Schicht als Elite ihrer Länder gemünzt, weniger auf die Gesellschaft als Ganze. Bis zum Beginn des 20ten Jahrhundert war die Entwicklung in den einzelnen jungen unabhängigen Staaten insgesamt gekennzeichnet durch die Auseinandersetzung zwischen Liberalen und Konservativen innerhalb der nationalen Oligarchien. Während die Liberalen die Rolle der katholischen Kirche als hauptsächlichen Akteur der Nationenbildung und „Zivilisierung“ der „Indios“ entscheidend beschneiden wollten und eine stärkere Integration der verschiedenen sozialen Schichten in Staat und Gesellschaft anstrebten, war das primäre Ziel der Konservativen, die Nation in ihrer Herrschaftsstruktur analog zur feudalen Kolonialstruktur zu belassen und die natürlichen und menschlichen Reichtümer für sich selbst zu monopolisieren.“

„Herr Botschafter, wenn ich Sie unterbrechen darf,“ warf Lucía ein. „Beflügelnd für den Unabhängigkeitskampf der lateinamerikanischen Länder wirkte auch die Tatsache, dass bereits mit den USA und Haiti zwei Staaten auf amerikanischen Boden die Unabhängigkeit erreicht hatten: die USA von England im Juli 1776 und Haiti von Frankreich im Januar 1804. Was die Bedeutung der Menschenrechte anbelangt, so war Humboldt, der seine Amerikareise zwischen 1799 und 1804 im Alter von 30 Jahren angetreten hatte, einer der Ersten, der aufgrund eigener Anschauung die Verwirklichung der Menschenrechte ernst nahm und sich für die Beendigung des spanischen Kolonialsystems und der Sklaverei einsetzte. Humboldt übte nicht nur einen entscheidenden Einfluss auf die „Libertadores“ Francisco de Miranda und Simon Bolivar in Venezuela aus, sondern auf eine gesamte Generation von lateinamerikanischen Liberalen der ersten Hälfte des 19ten Jahrhunderts.“

„Zweifelsohne, Humboldt, Haiti und die USA sind aus den geistigen Ursprüngen der neuen unabhängigen Länder nicht hinwegzudenken. Worauf ich jetzt hinaus will, ist die Rolle der USA, ohne die die heutige Situation Ecuadors und die Politik ihres Präsidenten Correa nicht verstanden werden kann. Im Verlauf des 19ten Jahrhunderts findet in den USA eine beispiellose kapitalistische Entwicklung statt, die den vorwiegend kleinen und mittleren protestantischen, puritanischen Unternehmern und Landwirten zu verdanken ist. Im katholisch geprägten Lateinamerika herrschten dagegen in dieser Zeit weiterhin feudale Produktionsverhältnisse, die auf der Produktion und dem Export von mineralischen - Gold und Silber - sowie pflanzlichen Rohstoffen, vor allem Zucker, gründeten.“

An dieser Stelle konnte Clara angesichts der anwesenden Unternehmervertreter nicht mehr an sich halten.

„Meine Herren, meinen Sie, dass Lateinamerika heute insgesamt in seiner kapitalistischen Entwicklung, ich meine im Geiste der kapitalistischen Entwicklung, weiter gekommen ist? Ich erinnere mich da an Benjamin Franklin, einen der Väter der Unabhängigkeitserklärung der USA. Den Geist des Kapitalismus in seinem Lande beschrieb er in der folgenden Weise: Zuerst ist Zeit Geld, das heißt, Reichtum gründet auf gewissenhafter Arbeit und auf Kredit. Letzterer richtig angewendet schafft Geld, schafft Reichtum durch kontinuierliche Kapitalakkumulation. Zu alldem gehört die rechte Arbeits- und Zahlungsmoral: Fleiß, Mäßigung, Pünktlichkeit bei der Arbeit und der Rückzahlung des Kredits, Gerechtigkeit, Sorgfältigkeit und vor allem Ehrlichkeit. Auf diese Weise erklärt er den materiellen Fortschritt in seinem Lande, der auf ethischem, von Gott gewolltem Handeln beruht.“

Die Herren Unternehmer, deren vier am Tische, sahen sich verdutzt an und begannen kreuz und quer daherzuphilosophieren. Ihr Grundtenor war: Der gute, alte Benjamin Franklin - in einigen Punkten hat er ja recht, aber die Zeiten haben sich seitdem doch gewaltig geändert. Von Ethik des Kapitalismus sei lieber nicht mehr gesprochen, und dass der Kapitalismus je in seiner Geschichte und heute noch göttlich abgesegnet sei, kann mit Fug und Recht bezweifelt werden. Zwar werden Geistliche auch in der Gegenwart immer wieder zur Einweihung von kapitalistischen Unternehmungen bemüht, aber da scheint den Kapitaleignern die ‚Göttliche Weihe‘ eher zur Erleichterung des schlechten Gewissens über Ausbeuteraktivitäten zu dienen denn zu zukünftigem ethischen Verhalten.

Clara warf einen zusätzlichen Gedanken in die Diskussion, der unter den gesprächigen Herren wie Zunder wirkte:

„In meinem Heimatland macht man sich hin und wieder über die ‚Schaffe-schaffe-Häusle-bauen-Philosophie‘ der Landsleute im Südwesten lustig, die ebenfalls protestantischen Kirchen angehören und in vergangenen Jahrhunderten häufig aus materieller Not heraus die Emigration vor allem in den Norden des Neuen Kontinents antraten. Man sagt diesen Menschen nach, ihr primäres Lebensziel sei Arbeiten, erst dann käme Leben. Im Gegensatz dazu würden die Südeuropäer das Kaffeeschlürfen und das Schwätzchen auf der „plaza“ vorziehen, d. h. erst einmal Leben, dann Arbeiten. Dabei frage ich mich, ob tatsächlich die jeweilige Wirtschaftsethik der Menschen, wie Max Weber beschreibt, durch die Religionszugehörigkeit geprägt ist, oder ob nicht auch die Religionen, besser gesagt, die menschlichen Kulturen, ursprünglich durch die natürlichen Umweltbedingungen, wie Klima, Jahreszeiten, Geografie und Ökosysteme geprägt wurden. Bildlich gesprochen: Parallel zu Humboldts erster systematischer Skizzierung der Ökosysteme in Abhängigkeit von Klima und Geografie, eine Theorie, die er gerade durch seine Studien in Ecuador entwickelte, könnten auch menschliche Kulturen, eingebettet in verschiedene Ökosysteme, durch Klima und Geografie ausgeformt worden sein. Weiterhin ist doch auch auffällig, dass die Emigration erheblich dazu beiträgt, ursprüngliches Verhalten aus der Heimat zwar mitzunehmen, aber dann den neuen Umweltverhältnissen anzupassen und vor allem den Willen erzeugt, sich materiell verbessern zu wollen. Denn die wirtschaftliche und politische Not und das Elend, die zur Auswanderung zwangen, will der Emigrant ‚auf Teufel komm‘ raus‘ durch neue wirtschaftliche und politische Freiheit eintauschen.“

Hier hakte Herr L., Unternehmer libanesischer Abstammung aus Guayaquil ein: „Frau Hansen, ich gebe Ihnen im Großen und Ganzen recht. Meine Vorfahren wanderten vor dem Ersten Weltkrieg aus dem damaligen Ottomanischen Reich nach Guayaquil aus. Sie waren arme muslimische Händler in Tripoli, denen die türkische Verwaltung das Leben schwer machte. In der neuen Heimat Guayaquil konvertierten Nachfahren schon nach ein, zwei Generationen zum katholischen Glauben und vermischten sich durch Einheirat mit der örtlichen Oligarchie. Ihre Kenntnis über Handelsverbindungen zu Europa und den Nahen Osten sowie das unbedingte Bestreben, ökonomisch zu reüssieren, verhalf meiner Familie seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts zu raschem Aufstieg innerhalb der Oberschicht in Guayaquil“.

Da konnte auch Herr O., Unternehmer italienischer Abstammung aus Quito, seine Familiengeschichte nicht zurückhalten:

„Meine katholische Familie kommt ursprünglich aus Palermo auf Sizilien. Die Männer waren allesamt Spezialisten in Marmorbearbeitung. Sie kamen schon im späten 19ten Jahrhundert nach Quito, da die dortigen katholischen Orden immer wieder Facharbeiter aus Italien anwarben, die dann neben ihrer Aufgabe im Kirchen- und Klosterbau insbesondere die Verantwortung über die Ausbildung von indianischen Arbeitern bekamen. So ist meine Familie ebenfalls allmählich durch Einheirat in die lokale Elite, eiserne Arbeitsdisziplin, knauserige Lebensführung und Ausnutzung billiger und geschickter Arbeitskräfte wie die „indios“ hier in Quito zu beträchtlichem Reichtum gekommen. Das wäre so in Palermo auf der „plaza“, wie Sie so schön sagen, nie möglich geworden.“

„Meine Damen und Herren, lassen Sie mich rasch den folgenden Gedankengang abschließen!“ Herr T. nahm die Zügel der Diskussion wieder in seine Hände. „Über Ethik oder Abwesenheit von Ethik beim kapitalistischen Handeln könnten wir noch die ganze Nacht hindurch streiten. Was die politische und wirtschaftliche Situation Lateinamerikas anbelangt, so sind alle Staaten seit Eintritt der USA in die imperiale Rolle zu deren kontrolliertem ‚Hinterhof‘ geworden. Das ‚Imperium‘ konstituierte sich 1898 nach dem gewonnenen Krieg gegen Spanien in Kuba und Puerto Rico und besonders nach Beendigung des Panama-Kanalbaus 1914. Das erlöste die Schifffahrt von der Ost- zur Westküste von der langwierigen, gefahrvollen und kostspieligen Fahrt ums Kap Horn und trug zur raschen Entwicklung Kaliforniens bei. Die USA hatten sich im 19ten Jahrhundert, in dem die unabhängigen lateinamerikanischen Staaten von unablässigen internen Konflikten zwischen liberalen und konservativen Oligarchien heimgesucht wurden, zu einem stabilen politischen und wirtschaftlichen kapitalistischen System herausgebildet, das mit Erfolg daranging, dem Rest der Welt notfalls mit Gewalt seinen Stempel aufzudrücken. Der ökonomische Erfolg dieses effizienten Systems, das durch Vertreibung und Genozid der indianischen Völker, der Ausbeutung von Sklaven aus Afrika und der Anwendung gut ausgebildeter Arbeitskräfte aus aller Welt möglich wurde, führte zu einem raschen Anwachsen des Prokopfeinkommens bis um das Hundertfache des Niveaus in Lateinamerika. Nach dem Kanalbau wurde Lateinamerika als Rohstofflieferant zur wehrlosen Beute der USA, eine Situation, die bis zu den 50er Jahren des 20ten Jahrhunderts bei den Armen und den Mittelschichten tief eingegrabene Ressentiments aufgestaut hatte. Für diese beiden Bevölkerungsgruppen waren die nationalen Oligarchien der ‚innere Feind‘ und die „gringos“, die USA, der ‚äußere Feind‘. Die revolutionären freiheitlichen Bewegungen des letzten Jahrhunderts leiten sich von dieser Frontstellung ab: Auf der einen Seite das Volk mit seinen aus der Mittelschicht hervorgehenden Eliten und auf der anderen Seite die nationalen Oligarchien, mit dem Militär als Herrschaftsinstrument, und die USA, die im Verein mit den Oligarchien die Ausbeutungsstrukturen permanent zu vertiefen und zu verewigen suchen.“

„Herr Botschafter, jetzt reden sie ja beinahe so wie Präsident Chávez oder Castro. Che Guevara hätte das auch nicht besser formulieren können,“ kommentierte beinahe aufgebracht Herr M. vom Unternehmen Odebrecht.

„Mein lieber Herr M., Sie haben wohl vergessen, dass ich mich während der brasilianischen Militärdiktatur, die 1964 begann, als Student, wie viele andere meiner Kommilitonen, im klandestinen Widerstand zur Regierung befand. Auch ist eine Karriere im Auswärtigen Dienst, die ich gleich nach Beendigung der Diktatur im Jahre 1985 antrat, nicht eine Laufbahn, in dem Gefolgschaft zur USA Voraussetzung der Beförderung ist. Und schließlich ist eine gediegene geopolitische Ausbildung das A und O unseres beruflichen Handwerkszeugs. Sie sehen ja selbst an den politischen Veränderungen unseres Subkontinents, welche Kräfte seit der kubanischen Revolution 1959 am Wirken sind. Die Bildung der ALBA-Staatengemeinschaft ist ganz klar im Zusammenhang eines Emanzipationsprozesses des Subkontinents gegenüber der Supermacht USA zu sehen, die die Internationalen Finanzinstitutionen wie den Weltwährungsfonds, die Weltbank und die Regionalbanken als ihre ureigensten Herrschaftsinstrumente begreifen. Präsident Correa sieht sich wie Chávez in Venzuela, Morales in Bolivien und Ortega in Nicaragua in der Mission, innenpolitisch die nationale Oligarchie von der Herrschaft zu verdrängen und außenpolitisch die Unabhängigkeit von den USA, vom Imperium, zu erlangen. All das wird dem ecuadorianischen Volk unter der Parole der „revolución ciudadana“, der Bürger-Revolution, als Weg aus der Armut und in die Freiheit von inneren und äußeren Feinden erklärt. Und mehr als die Hälfte seiner Landsleute folgen ihm auf diesem Weg.“

Jetzt mischte sich auch Herr K von Siemens mit Vehemenz in das Gespräch: „Herr Botschafter, ich stimme Ihnen zu. Seit Präsident Correa an der Macht ist, haben sich die Kreditpartner von Ecuador und die Spielregeln der Projektvergabe gewaltig verschoben. Jetzt hat China als allmächtiger Kreditgeber die Rolle der USA und der Internationalen Finanzinstitutionen übernommen und schreibt vor, dass ausschließlich chinesische Firmen die Ausführung der von China finanzierten staatlichen Entwicklungsprogramme übernehmen. Wir westlichen Firmen haben in Ecuador bis ins Jahr 2006 bei Direktinvestitionen stets mit Vorsicht agiert, da wir nie wussten, ob die staatlichen Behörden Schwierigkeiten machen würden oder nicht. Wir waren gezwungen, unsere Partner, die Regierungsbeamten wie auch die einheimischen Partnerfirmen, zu schmieren. Sonst hätten wir nie ein Bein an die Erde bekommen und Großaufträge an Land ziehen können. Über diese Korruptionsgeschäfte ist auch ein früherer Vorgesetzter von mir gestolpert, der bei der Aufdeckung unserer schwarzen Kasse in Ecuador gefeuert wurde. Bei über die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank BID finanzierten Projekten standen wir ebenso in vorderster Linie, da die schwarze Siemens-Kasse sozusagen ein Sack ohne Boden war, aus dem wir uns bequem bedienen konnten. Wie gesagt sind diese für uns goldenen Zeiten bei Siemens vorbei. Correa, aber auch unsere innerdeutsche Aufsichtswut, haben das Geschäft in Ecuador grundlegend erschwert. Deshalb warten wir auf die baldige Lösung des diplomatischen Konfliktes zwischen Brasilien und Ecuador. Sollten die Brasilianer ihre Kreditlinien an Ecuador wieder aufnehmen können, dann könnten Odebrecht und im Gefolge Siemens wieder auf bessere Zeiten hoffen. Übrigens, Martin Walser hat im Jahr 2008 unsere Siemensstrategie mit den schwarzen Kassen zur Bestechung nationaler Entscheidungsträger verteidigt. Unsere Großprojekte im Ausland haben auch Arbeitsplätze in Deutschland gesichert.“

„Oh, Herr K, was Sie nicht meinen,“ empörte sich Lucía. „Sie selbst müssten doch am besten wissen, dass die Demokratie und auch eine gerechtere soziale Entwicklung in Ecuador gerade wegen des allumfassenden Bestechungssystems vonseiten der USA und der westlichen Länder nicht vom Fleck gekommen ist. Immer wieder wurde die Nationale Oligarchie bestochen, damit die Ausbeutung der Rohstoffe ungehemmt ihren Lauf nähme und die Armutssituation unverändert bleibe. Aus guter Quelle ist mir bekannt, dass gerade Ihr früherer und später gefeuerter Chef mit einem Vorschlag konfrontiert wurde, Siemens könne für Millionen indianische Familien in den Hochanden billige Sonnenkollektoren entwickeln, die neben einer Lichtquelle auch die Warmwassererzeugung für Heizzwecke und eine tägliche Dusche garantieren würde. Die Verbesserung der katastrophalen hygienischen Bedingungen der Andenfamilien bei Durchschnittstemperaturen um den Gefrierpunkt trüge entscheidend zur Minderung der Kinder- und Müttersterblichkeit bei. Das wäre für jede Familie mit weniger als einer einmaligen Investition von 500 US$ zu machen. Eine zweijährige Rückzahlung eines gewährten Kleinkredites wäre für die betroffenen Familien leicht durch den Verkauf von Rindern und Schafen zu bewerkstelligen. Bei Millionen von Verbrauchern in den Hohen Anden wäre das ein einmaliges Prestige Geschäft für Siemens, das auch den Aktionären einleuchten müsste. Die damalige Antwort ihres Chefs war, dass das zu den arbeitsaufwendigen ‚Peanuts-Projekten‘ zählte, die beispielsweise im Vergleich zu Hochtechnologien im Turbinenbau, bei denen es mit einem Schlage um Millionen US$ ginge, überhaupt nicht in Betracht gezogen werden könnten. Die Siemens-Politik der Nachkriegsgeschichte mit Konsumentenkleinkrediten in der Wiederaufbauphase sei seit Langem vorbei. In der heutigen Zeit sei ‚Klotzen‘ angesagt, nicht ‚Kleckern‘. Lieber Herr K., meinen Sie nicht, dass Siemens heute in Ecuador weitaus besser dastehen würde, wenn das Unternehmen nicht nur auf schnellen Gewinn gesetzt hätte, sondern, wie es Microsoft mit den Computern für Schulen auf dem Land vormacht, nützliche Produkte für die Bedürftigsten angeboten hätte. Am Beispiel von China sehen sie auch, dass das Land jetzt in Ecuador, in der Provinz Loja, in die Erzeugung von Windenergie geht. Es ist durchaus sinnvoll, Geschäfte mit den Ärmsten zu machen, die für beide Seiten Erfolg versprechen.“

Inzwischen beendete die Abendgesellschaft das Essen im Speisesaal und begab sich in den großen Salon zu beiden Seiten des Kamins. Dort debattierten die Herren weiter über die Zukunft ihrer möglichen Geschäfte in einem dornigen politischen Umfeld. Clara und Lucía kamen im Laufe des Empfangs auf die Idee, Yolanda und Patricia zu anderer Gelegenheit zu interviewen und möglichst dazu zu gewinnen, ihre Familiengeschichten zu rekonstruieren, die im Falle Yolandas mit der „mestizaje“ der Küstenindianer zu tun hätte und im Falle Patricias mit der Einwanderung ehemaliger Sklaven aus Westafrika. Es wäre auch von Vorteil, wenn es ihnen gelänge, über Rubén Einsicht in die Kultur des Saraguro-Volkes zu bekommen, das durch die Inkaherrscher kurz vor Beginn des 16ten Jahrhunderts zwangsweise von Perú nach Südecuador umgesiedelt wurde.

Der Empfang in der Residenz des brasilianischen Botschafters wurde von allen Teilnehmern als Gewinn angesehen. Herr Botschafter, dem es zu Ende des Empfanges nicht mehr gelang, Yolanda weiterhin nachzustellen, da Rubén sie nach Verabschiedung der Gäste umgehend in ihrem Gartenhäuschen erwartete, konnte seiner Angestellten wenigstens ein Versprechen entlocken: Sie sagte ihm zu, ihn in zwei Wochen auf eine Reise nach Puerto Lopez, ihrem Heimatort am Pazifischen Ozean, zu begleiten und ihm den dortigen Nationalpark Machalilla zu zeigen.

Clara und Lucía befanden sich in ausgelassener Stimmung, als sie nach Mitternacht zuhause ankamen. Matilde war außer Haus. Sie war zu einer Party bei Klassenkameraden eingeladen und hatte vor, dort auch zu übernachten. Die beiden Frauen entkorkten eine Flasche Rotwein und begaben sich in Claras Zimmer, wo sie es sich auf dem Sofa-Bett bequem machten. Clara zündete eine wohlriechende Kerze an. Sie genossen den Blick über das Lichtermeer von Quito hinweg zum Vulkan Pichincha, der sich dunkel vor dem sternenbesäten Nachthimmel abzeichnete. Sie prosteten sich zu und hielten sich bei der Hand wie zwei Schulmädchen. Das Händehalten war beiden in den letzten Tagen zur Gewohnheit geworden. Es war, als müssten sie sich immer wieder gegenseitig ihrer Freundschaft versichern und sich für ihr gemeinsames Abenteuer stärken. Die Artikelserie „Auf Humboldts Spuren von Quito nach Lima“ sollte ein geteilter Erfolg werden. An jedem der vergangenen fünf Tage kamen ihnen neue Ideen und Pläne. Für das Morgen beginnende Wochenende hatten sie ein Treffen mit einem Lehrerehepaar in Otavalo, über 100 Kilometer nördlich von Quito, ausgemacht. Eventuell könnte die Geschichte dieses Paares zum Inhalt des ersten Artikels werden.

Nicht nur Herr Botschafter T. und Yolanda teilten an diesem Abend eine gemeinsame Leidenschaft. Auch Clara und Lucía befanden sich seit ihrem Wiedersehen in einer langsam aufbrechenden Liebesstimmung. Beide versuchten, ihre Gefühle immer wieder zu kontrollieren. Sie waren gestandene berufstätige, alleinerziehende Frauen, die jede für sich den Gedanken an eine Männerbeziehung schon vor Jahren aufgegeben hatte. Irgendwie hatten sich ihre Verhältnisse zu Männern und besonders zu Kollegen in den letzten Jahren zu „Kumpel-Beziehungen“ entwickelt. Beide konnten sich nicht über Angebote von Männern beklagen, die mehr als nur eine Freundschaft mit ihnen erhofften. Aber beide waren erstaunt darüber, dass aus der Rückschau betrachtet, und seit beider Jugend, gegenüber Männern nie eine echte Leidenschaft aufgekommen war. Auch die Umstände, wie beide schwanger und Mütter wurden, waren ähnlich und waren flüchtigen und neugierig verfolgten Abenteuern zu verdanken. Und in beider Umgebung kam immer wieder der Vorschlag auf den Tisch: „Warum suchst Du Dir nicht einen festen Freund oder einen Mann zum Heiraten. Dann hat Dein Kind einen Vater und Du kannst die Herausforderungen des Lebens mit jemandem teilen, der Dich liebt. Eine Frau wie Du wickelt doch jeden Mann um seinen kleinen Finger.“

Was ebenso bei beiden Frauen psychisch analog ablief, war die Tatsache, dass dieses Fehlen einer zweiten männlichen Hälfte gar nicht vermisst wurde. Sie sagten sich immer wieder, irgendwann würde ‚der Blitz einschlagen‘ und den Mann des Lebens wie von selbst herbeizaubern, oder aber sie hätten eben kein Glück in der Liebe. Das wäre dann auch nicht schlimm, es gäbe ja immer noch die erweiterte Familie und Freunde und Kollegen. Ob sie vielleicht lesbisch veranlagt sein könnten, darüber hatten sie sich bis zu ihrem „Vlasinska Jezero“-Erlebnis niemals Rechenschaft abgelegt.

Ihr Verhältnis zu Frauen allgemein und zu Freundinnen war überwiegend komplikationslos und von Freundschaft geprägt. Warum, wo doch um sie herum Frauen, ähnlich wie Männer, um ihr ‚Revier’ kämpften, vor allem wenn die Andere als Konkurrenz aufgefasst wird? Das wurde Clara und Lucía in den letzten Tage bewusst: Sie waren beide Frauen, die nicht den Ehrgeiz entwickelten, der Männerwelt besonders zu gefallen. Auch lag es nicht in ihrem geringsten Interesse, andere Frauen gegenüber dem männlichen Geschlecht auszustechen. Und gerade dieses Fehlen von Konkurrenzverhalten machte sie in den Augen von Frauen attraktiv.

„Lucía, hast Du Klavierstücke von Chopin? Erinnerst Du Dich, dass wir auf unseren gemeinsamen Autofahrten durch das verwüstete Kosovo oft eine CD mit Chopin-Stücken, von Martha Argerich gespielt, hörten? Das hatte uns damals für Augenblicke das Leiden der Menschen vergessen gemacht.“

„Ich habe sie seit unseren gemeinsamen Tagen und hörte sie immer wieder, wenn ich Dich in meinen Gedanken bei mir haben wollte. Warte einen Augenblick, bin gleich zurück.“

Als die Freundinnen wieder die Klavierstücke hörten, meinten sie, jetzt endlich könnten sie ihrer gegenseitigen Zuneigung freien Lauf lassen. Sie entschieden sich, in dieser Nacht den Beginn ihrer Liebesbeziehung mit Bedacht zu zelebrieren.

„Lucía, ich bin so glücklich! “

Clara legte ihren rechten Arm um Lucías Hals und zog ihren Kopf vorsichtig bis zu dem ihren. Als sich beide Frauen mit den Nasen berührten und in den Augen der Anderen zu lesen versuchten, brachen beide in Glückstränen aus. Es war in ihren bereits langen Leben das erste Mal, dass sie von Liebe erfasst wurden. Erstaunt und gleichzeitig befreit suchten sich ihre Lippen und suchten sich ihre Körper, um die lange Einsamkeit abzulegen. Behutsam entkleideten sie sich gegenseitig, immer mit den Augen die Andere im Blick. Als sie so auf dem inzwischen ausgezogenen Bett nebeneinanderlagen und sich behutsam mit Händen und Augen abtasteten und sich mit ihren Körpern zu fühlen begannen, kam in beiden gleichzeitig ein Wunsch auf, den sie bisher gegenüber niemandem empfunden hatten: „Clara, ich weiß nicht, was mit mir geschieht. Aber ich möchte einfach, dass Du mir gehörst.“ Nach dieser unter stockenden Worten hervorgebrachten Liebeserklärung warf sich Lucía von einem plötzlichen Impuls erfasst auf ihre Freundin, die nur noch antworten konnte: „Mir geht es ebenso.“

Unter diesem herausquellenden Bekenntnis ergaben sich die beiden Frauen widerstandslos und mit wachsender Begierde in die Suche nach der Anderen. Dieses sollte ihre erste gemeinsame Liebesnacht werden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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