Formel zum "glücklichen Leben"

Armut ist Unglück! Diese literarische Ergänzung zum Beitrag von Ulrike Baureithel: "Arm, aber glücklich?" versucht eine Formel zum Glücklichsein zu finden.

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In einem Kommentar zum Beitrag von U. Baureithel: "Arm, aber glücklich?" erwähnte ich u. a. eine sogenannte Formel des Glücklichseins oder Lebensformel, die am Ende meines Romans: "Abschied von Bissau" (ebook bei Amazon und neobooks) gemeinsam von den Protagonisten in der Weihnachtsnacht 1987 in Bissau (Hauptstadt von Guinea Bissau an der Westküste Afrikas zwischen Senegal und Guinea gelegen) unter einem riesigen Mangobaum entworfen wird. Es geht dabei u. a. um Fragen wie Rassismus, Herrschaft, Macht, Kultur, Religion, Ethik sowie Liebe und Armut. Am Ende dieser Weihnachtsdiskussion kommt es zu einem Konsens über die "Lebensformel" als Leitschnur für das zukünftige Handeln der Protagonisten. Dieses Ende werde ich jetzt wiedergeben und hoffe, Euch damit nicht zu sehr zu langweilen. Das Thema Armut und Glück wird vor allem aus der "Dritte-Welt"-Perspektive beschrieben. Doch fehlt auch nicht der Bezug zur deutschen Wirklichkeit.

Die Protagonisten sind Hans (junger deutscher Ethnologe), Carmen (seine schwarze Frau, Angehörige der Garifuna und Afrika-abstämmige aus Honduras), Joaquím (60jähriger weisser Kapverdianer in Bissau lebend, Zuckerrohrplantagenbesitzer), Lourdes (Mulattin, Tochter von Joaquím und seiner früheren schwarzen Haushälterin, junge Gynäkologin), Antónia (18jährige Geliebte von Joaquím, Tochter seines schwarzen Vorarbeiters und Angehörige der Ethnie der Pepel. Sie hatte gerade ihr Abitur bestanden) und Peter (deutscher Elektroingenieur, der für die GTZ, die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit arbeitet).

Beginn des Diskussionsausschnittes:

Hans, der die Auffassung von Antónia in Bezug auf eine eigenständige Entwicklung des Landes voll und ganz unterstützte, hatte am heutigen Weihnachtsfest, das ja auch ein Fest der Familie und der Liebe ist, eine besondere Frage auf dem Herzen, die er an Carmen und Antónia richtete: "Carmen und Antónia, hat eigentlich die Armut in Euren Ländern (Honduras und Guinea Bissau) auch Einfluss auf die Liebe zwischen Mann und Frau? Anders gefragt: Ist Liebe, wie wir sie empfinden, nur möglich, wenn wir materiell gut versorgt sind?"

Carmen bejahte diese Frage eindeutig in Hinsicht auf ihre Heimat in Honduras: "Ich glaube, eine Liebe wie Hans und ich sie haben ist abhängig von einem materiellen Mindeststandard. Zum Beispiel sehe ich an meinen Eltern, die das Notwendigste zum Leben haben und innerhalb der Garifunagesellschaft (vor mehr als 200 Jahren eingewanderte ehemalige Sklaven englischer Kolonien in der Karibik) privilegiert sind, dass sie sich lieben und glücklich sind, auch weil sie nur zwei Kinder haben. In unserer Nachbarschaft sind sechs Kinder pro Familie normal, und die Männer sind die meiste Zeit abwesend. Jeden Tag müssen die Mütter aufs Neue kämpfen, um genügend Essen auf den Tisch zu bekommen. Da bleibt die Liebe, so wie wir sie kennen und täglich erleben, auf der Strecke. Ich möchte behaupten, Liebe ist ein Privileg für Gesellschaften, die ihren Mitgliedern einen würdigen und gesicherten Lebensstandard sichern können. Dazu gehören ausreichende Nahrungsmittel, Ausbildung und Gesundheit der Familienmitglieder aber auch gemeinsame Interessen von Mann und Frau und eine gemeinsame Lebensperspektive. Das 'Gewisse Etwas', das zwei Menschen anfangs zusammenführt, geht ganz schnell verloren, wenn die materiellen Bedingungen und auch die gemeinsamen Interessen fehlen. In der Moskitia (Region in Honduras an der Grenze zu Nicaragua) beobachten wir bei den jungen Menschen reglemässig eine anfängliche Verliebtheit und als Konsequenz die Schwangerschaft der jungen Frau. Aber zur Entwicklung einer Liebe zwischen den Partnern kommt es in den meisten Fällen nicht. Deswegen ist der Kampf um ausreichende Lebensbedingungen auch ein Kampf für die Liebe."

Antónia war ähnlicher Ansicht: "So sehe ich das auch bei meinem Volk, den Pepel (animistische Ethnie in Guinea Bissau). Allerdings glaube ich, dass für das Entstehen der Liebe zwischen zwei Menschen neben den materiellen Voraussetzungen auch die Abschaffung des 'Machismus' unumgänglich ist. Die Pepel leben traditionell in Polygamie, weil die Lebensgemeinschaft von nur zwei Menschen wegen des begrenzten landwirtschaftlichen Ertrages kaum für die materielle Grundversorgung der Familie ausreicht. Aber in der Polygamie kann sich keine wirkliche Liebe entwickeln. Und der 'Macho', der die Macht ausübt, kann keine Liebesgefühle bei der Frau erzeugen. Sie braucht ihre eigenständige Stellung und den gleichberechtigten Austausch mit dem Mann, um Liebe entwickeln zu können."

Aufgrund ihrer bisherigen Kontakte mit den verschiedenen Ethnien von Guinea Bissau konnte auch Lourdes (machte in Lissabon das Abitur und studierte Medizin in Paris) sich in die Situation der guineischen Frauen hineindenken. Sie versuchte, die Aussagen von Carmen und Antónia zusammenzufassen: "Ich glaube wir sind da an einem entscheidenden Punkt. Erstmal sollte dieses 'Gewisse Etwas', das wir nicht erklären können, zwischen den Partnern vorhanden sein. Dann aber gibt es, wie Carmen und Antónia sagten, zwei Grundbedingungen: Die Liebenden müssen erstens auf Dauer einen Lebensstandard haben, der erheblich über der Armutsgrenze liegt, und zweitens dürfen sie nicht in einem Machtverhältnis leben. Beide müssen sich gleichermassen verwirklichen können und ein gemeinsames Lebensziel haben."

Hans sah sich in seiner Vermutung, die materielle Situation der Familie sei eine der Vorraussetzungen für die Liebe zwischen Mann und Frau, bestätigt. Doch war ihm klar, dass diese Vorraussetzung nur eine unter mehreren sei: "In unseren westlichen Industriestaaten sind die materiellen Gegebenheiten für die meisten Menschen ausreichend, es sei denn, sie werden arbeitslos und haben erheblich niedrigere Einkommen als der Durchschnitt. In einer solchen Situation brechen tatsächlich viele Liebesverhältnisse auseinander. Im Allgemeinen sind in diesen Ländern darüber hinaus die Perspektiven für die Frauen in Bezug auf eine gleichberechtigte Rolle am besten. Und doch gibt es trotz dieser günstigen Vorraussetzungen Probleme für die Liebe, wenn es nicht gelingt, über gemeinsame Interessen und Ziele die 'Abnutzung' der Liebe zu überwinden. Das bedeutet, dass die Kunst der Liebe auch darin besteht, die Sexualität zwischen den Liebenden aufrechtzuerhalten. Das wiederum trägt zur Stabilisierung und Erfüllung des Familienlebens bei."

Nach der Diskussion über die Problematik der Liebe versuchte Joaquím die ausgetauschten Ansichten zusammenzufassen. Die Unsicherheit über seine Zukunft (die gesellschaftliche Situation in Guinea Bissau befand sich zu dieser Zeit in äusserster politischer Krise, die jederzeit in einen Bürgerkrieg ausarten konnte) aber auch die bisher in seinem Leben gemachten Erfahrungen förderten an diesem Weihnachtsabend das Bedürfnis nach einer persönlichen Standortbestimmung:

"Wenn ich abermals die Punkte unseres Weihnachtsgespräches überdenke, dann komme ich für mich zu dem Schluss, dass ich ein nützliches und erfülltes Leben dann habe, wenn ich imstande bin, den Rassismus in mir zu überwinden, wenn ich offen bin für fremde Kulturen, mir eine Lebensethik aneigne, die Machtstrukturen in der Gesellschaft nicht duldet und die eine Arbeitsethik beinhaltet, die auf Teilen und gemeinsamer Entscheidung beruht, und wenn ich Liebe und Geborgenheit mit meinem Partner in materiell gesicherten Verhältnissen, Gleichberechtigung in Entscheidungen, Interessengleichheit und gegenseitiger Anziehung verwirklichen kann. So auf einen Nenner gebracht ist das scheinbar eine Formel für das Leben. Aber jedes Glied dieser Formel hat seine Tücken, die erstmal überwunden werden müssen. Ich habe in meinem bisherigen Leben an vielen Punkten dieser Formel gearbeitet, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich lange genug leben werde, um die Formel zu erfüllen und meinen Frieden mit mir selbst schliessen zu können."

Peter war mit einigen Punkten dieser Formel ganz und gar nicht einverstanden, aber er vermied es, darüber Bemerkungen zu machen. Für sich selbst meinte er, dass die anderen ihn in seinem Selbstverständnis, welches er sich in langen Jahren erworben hatte, nicht begreifen würden, und dass sie in einer für ihn fremden Welt lebten. Er sehnte sich nach seiner Familie, seinen Kollegen in der GTZ und auch seinen Freunden in Deutschland. Von diesen hatte er sich stets verstanden gefühlt.

Alle waren nach diesem Gespräch nachdenklich und auch müde geworden. Sie hatten das Gefühl, sie hätten sich mit dieser Aussprache gegenseitig ein Geschenk für den Weihnachtsabend gemacht. Trotz unterschiedlicher Meinungen wäre es ihnen gelungen, die wesentlichen Elemente einer Lebensformel zusammenzutragen, und jeder könnte sie nah Gutdünken benutzen.

Ende der Diskussion um die Lebensformel.


Ich hoffe, es hat Euch nicht zu sehr gelangweilt. Die durch Ulrike angestossene Debatte hatte mich auf den Gedanken dieses Beitrages gebracht. Solltet Ihr neugierig sein auf andere Stellen des Weihnachtsgespräches (Rassismus, Herrschaft, Kultur, Kirche, Ethik, usw.) wäre ich durchaus bereit, einige Folgen in einem nächsten Blog zu veröffentlichen.

Noch einen schönen "Freitag"!

Der Text über Armut, Liebe, Lebensformel ist meinem Roman "Abschied von Bissau" (ebook bei Amazon und neobooks) entnommen.

Der Autor hat 35 Jahre in verschiedenen Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Balkan in multikulturellem und multiethnischem Kontext als Entwicklungsberater mit den Ärmsten aber auch den Mächtigen gearbeitet.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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