Gedenken an den Jahrestag des Massakers

SREBENICA Auszug eines Briefes an einen Freund, geschrieben in Haiti, nach dem verheerenden Erdbeben im Januar 2010, der an die Bürgerkriegsgeschehnisse in Bosnien erinnert

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Foto: Wikimedia Commons (2008)

Autor: Almir Dzanovic

Gedenken an Srebenica

Am heutigen Gedenktag des Massakers in Srebenica, 1995, möchte ich der dFC einen Auszug eines Briefes an meinen lieben Freund Christian Sigrist, Münster, nicht vorenthalten. Ich schrieb diesen Brief in Jacmel, Haiti, noch unter dem Eindruck des fürchterlichen Erdbebens vom 12. Januar 2012.

Jacmel, d. 3. März 2010

Erst heute geht es wieder weiter. Gestern war nach zwölfstündigem Arbeitstag, was gang und gäbe ist, sieben Tage in der Woche, eine interne Aussprache angesagt. Heute Abend ist es auch wieder spät. Ich hatte vorher noch meinen Lauf im Dunkeln absolvieren müssen, was einem halben Suizidversuch gleichkommt. Autos und Motorräder fahren wie die Säue die einzige Asphaltstraße entlang, sodass ich alle Nase lang im Gebüsch in Deckung gehen musste. Morgensfrüh ist die Situation um einiges entschärft. Dabei fällt mir immer wieder Deine wilde Reiterei bei den Paschtunen ein, als Du den Widrigkeiten Deiner Gastgeber hilflos ausgeliefert warst. Was ist in all den Jahren nur aus ihnen und Afghanistan geworden? Wie sieht heute das einst friedliche Guinea-Bissau aus? Wie haben die selbst ernannten Eliten ihre Völker zerstört? Wir fühlten uns am rechten Ort und nützlich. Aber waren wir nur nützliche Idioten? Wahrscheinlich schon. Die Formel von „Herrschaft über Menschen abschaffen“ war jedenfalls nur als Einigungslosung für unterschiedlichste Völker im Unabhängigkeitskampf und als Lockruf für europäische Linksintellektuelle gedacht. Dahinter verbarg sich, getreu der marxistisch/leninistischen Denkweise, die diktatoriale Machtergreifung der „Avantgarde“, sobald die Unabhängigkeit erreicht war. Das alles erinnert mich verdammt an die Geschichte Haitis nach der Unabhängigkeit. Die Einigkeit der Sklaven galt nur einmal, als es darum ging, die Franzosen aus dem Land zu jagen. Danach folgte eine über zweihundert Jahre dauernde Zweiteilung der Gesellschaft in die kreolische Elite, die sich die Ressourcen aneignete, und die Kleinbauern und Landarbeiter, die in clanähnlichen Strukturen individuelle Überlebensstrategien entwickelt haben.

1997 und 98 waren die Jahre in Bosnien. Es waren zwei Jahre, die mich einigermaßen mit der Balkanproblematik vertraut machten, mich aber auch unmittelbar mit der jüngsten deutschen Geschichte konfrontierten. Freunde aus der EU, die ich noch von Mosambik her kannte, überredeten mich, nach Sarajevo zu kommen. Da Kim und ich in Ecuador eine derart gemeine Verleumdungskampagne durchstehen mussten, war es erstmal konsequent, in verschiedenen Ländern zu arbeiten und unsere Beziehung über gemeinsam erlebte Ferien aufrechterhalten zu wollen.

Jacmel, d. 4. März 2010

Auch heute müsste ich mit einer aktuellen Geschichte aus Haiti beginnen, aber ich will es mir verkneifen, denn sonst wird es nichts mit Bosnien. Über meine Zeit in diesem Land will ich Dir nur zwei exemplarische Begebenheiten erzählen.

Die Erste spielte sich in Hahn ab, einem kleinen Dorf in der Republika Srbska zwischen Prijedor und Banja Luka gelegen. In der Nähe von Hahn, auf einem bewaldeten Bergrücken, hatten während des Zweiten Weltkrieges kroatische Faschisten im Auftrag der deutschen SS Hunderte von serbischen Widerstandskämpfern ermordet. Davon zeugt noch heute eine Gedenkstätte, in deren Nähe Tito eine seiner zahlreich im Lande verstreuten Residenzen einrichten ließ, und die sich einmal im Jahr seines illustren Gastes erfreute.

Übrigens, während ich schreibe, höre ich Chopins Klavierstücke, die ich selbst auch gern an meinem Klavier in Brasilia spielte, mit Blick auf den künstlichen See, der die Hauptstadt umgibt. Vielleicht lässt mich diese Musik ein wenig die Wut vergessen, die ich immer dann in mir aufsteigen fühle, wenn ich auch nur im geringsten an diesen deutschen verdammten Faschismus erinnert werde.

Es war Ende Januar 1998. Ich war früh morgens von Prijedor aufgebrochen. Gegen 9 Uhr kam ich mit meiner serbischen Mitarbeiterin Vera im teilweise zerstörten Hahn an. In Prijedor war ich bei einer kroatischen katholischen Kriegerwitwe untergekommen, deren Mann christlich orthodoxer Serbe war. Aufgrund ihrer Heirat mit einem Serben war diese Frau nicht aus Prijedor vertrieben worden wie die übrigen Kroaten und muslimischen Bosnier. Zu Titos Zeiten scherte sich nur der Teufel um die unseligen Religionen, ansonsten liebten sich die Menschen kreuz und quer durch die Religionen.

Der Morgen war regnerisch kalt, unfreundlich, Schneereste hier und da in verlassenen Vorgärten. Ich hatte ein Treffen mit vertriebenen Serben, die aus einem Gebiet der benachbarten bosnisch-kroatischen Federation stammten, in der halbzerstörten Dorfschule anberaumt. Als Vera und ich die Schule betraten, warteten auf uns etwa 50 Serben, Frauen und Männer, meistens im Alter von 45 bis 70 Jahren. Die Jungen hatten sich während des Krieges zumeist in’s westliche Europa, nach Amerika oder Australien abgesetzt.

Ich wollte versuchen, mit EU-Hilfe, eine Rückkehr von Minderheiten in ihre ehemaligen Heimatdörfer und – städte zu ermöglichen, um so einen vorsichtigen nationalen Versöhnungsprozess zu fördern. Ganz Bosnien bestand aus ethnisch gesäuberten Gebieten und der Hass saß zwei Jahre nach Ende des Bürgerkriegs noch tief in den Köpfen der Menschen. Die EU gab mir etwa pro rückkehrwillige Familie zwischen 10.000 und 15.000 ECUs, mit denen eine Standard-Dreizimmerwohnung mit Küche und Bad eingerichtet und auch eine Starthilfe für die kommende Aussaat finanziert werden konnte. Voraussetzung war, dass zumindest vier Personen in diese Wohnung zurückkehren würden.

Ich erklärte den Serben das Rückkehrprojekt und die Hilfe, die sie erwarten konnten. Alle machten einen traurigen, verlorenen Eindruck, fast wie einige Jahre zuvor die Bosnier, die die Serben in Prijedor in Konzentrationslagern während des Krieges zusammengepfercht hatten. Du hast sicherlich noch die Bilder dieser armen Menschen im Kopf, Bilder, die um die ganze Welt gingen.

Bis Mittag hatten Vera und ich die Familien in der Folge einzeln befragt und ihre Daten aufgenommen. Zum Schluss blieben zwei Ehepaare übrig. Die Vier hatten ein Alter zwischen 75 und 85 Jahren. Ich glaubte fast, meine Eltern vor mir zu sehen. Der eine Mann hatte doch tatsächlich Ähnlichkeit mit meinem Vater, der gerade zwei Jahre vorher 87jährig gestorben war. Die beiden alten Ehepaare waren aus demselben Dorf, waren ihr Leben lang Nachbarn gewesen in der Grenzregion zu Kroatien, dort, wo der schmackhafte Schafskäse herkam. Es ist dies eine raue, waldlose Kalksteinlandschaft, in der die Türken serbische Bauern Generationen vorher zur Abwehr gegen das Haus Habsburg angesiedelt hatten.

Diebeiden Ehepaare hatten jeweils zahlreiche Kinder und Enkelkinder, die inzwischen in Westeuropa, den USA und Australien Unterschlupf gefunden hatten und jedenfalls nicht in Armut lebten. Aber die Kinder waren keinesfalls gewillt, wieder in die alte Heimat zurückzukommen. Auch Geldüberweisungen bekamen die Alten nicht, da ja der Tito-Milosevic-Staat Pensionen zahlte, ein Sozialsystem, das freilich in Kriegszeiten vor die Hunde ging. Die Alten wollten ihrerseits nicht zu ihren Kindern auswandern. Ihr einziger Wunsch bestand darin, in ihrem Dorf den Rest des Lebens zu verbringen und wenn möglich, in ihrem restaurierten Haus zu sterben. Ich machte den Paaren den Vorschlag, doch gemeinsam in eine neue Wohnung von 15.000 ECUs zu ziehen. Wir könnten für die vier unmöglich zwei Häuser herrichten und 30.000 ECUs (entsprechen heute etwa 30.000 EUROS) ausgeben, nur um in ihren restaurierten Häusern zu sterben. Damit würden sie einem jungen Paar die Möglichkeit der Rückkehr nehmen. Sie könnten auswählen, in welchem der beiden Häuser sie wohnen wollten. Zusammen wären sie auch besser imstande, im Krankheitsfall auf sich aufzupassen. Als Vera ihnen das übersetzte, brachen alle vier in Tränen aus und begannen, jeder auf seine Weise und für mich unverständlich zu gestikulieren.

Ich schlug die Hände überm Kopf zusammen und blickte verzweifelt aus den zertrümmerten Fenstern auf den verlassenen, öden Schulhof. Dabei musste ich an meinen Vater denken. Dann sah ich wieder diesen Alten vor mir, der so meinem leiblichen Vater glich. In diesem Moment geschah das Unglaubliche. Der Mann begann auf Deutsch zu reden, auf Hochdeutsch, auf Hannoveranerdeutsch, ohne auch nur einen Fehler zu machen.

– Ich werde jetzt mal direkt zu Ihnen reden, nicht über die Dolmetscherin. Ich war sprachlos – Wo haben Sie denn Deutsch gelernt? wollte ich wissen.

– Das ist eine lange Geschichte.

Dann erzählte er mir, dass er vier Jahre lang als Zwangsarbeiter, damals Junggeselle mit Landwirtschaftsstudium, im Calenberger Land in der Nähe Hannovers, wo auch mein Vater herstammte, ein Landgut als Vorarbeiter leitete. Der Hausherr war an die Ostfront beordert worden und starb dort. Seine junge Frau mit zwei kleinen Kindern bekam die alleinige Verantwortung über das Gut. Dort wurde mithilfe hunderter anderer Zwangsarbeiter Verpflegung für die deutschen Soldaten produziert.

- Sie müssen eine schwere Zeit in Deutschland durchgemacht haben!? Das tut mir für Sie sehr leid.

– Sie können das sicher kaum glauben, protestierte er, - aber diese Jahre in Deutschland waren die schönsten Jahre meines Lebens.

Als er dieses Geständnis einem wildfremden Deutschen sagte, dessen Vater zwei Jahre älter als er gewesen war, und der in derselben Gegend gelebt hatte in jenen Kriegsjahren, fing er wieder an zu weinen, blickte mich traurig an, und fiel mir dann schluchzend um den Hals. Etwas war in diesem Menschen hemmungslos hervorgebrochen, was lange in ihm gesteckt haben musste. Ich mutmaßte eine Liebesgeschichte mit der jungen Gutsbesitzerin. Seine Frau war 75, er 85 Jahre alt. Die beiden hatten lange nach Kriegsende geheiratet. Ich wollte im Hinblick auf seine Frau diese Kriegsgeschichte nicht aufwärmen, die doch die ganze Verrücktheit des faschistischen Deutschlands widerspiegelte: Unmenschlichkeit auf der einen Seite, Liebe über alle Grenzen hinweg auf der anderen Seite. Durch seine Zwangsarbeiterzeit ist dieser Serbe auch dem Gemetzel an seinen Landsleuten entgangen. Gottseidank hat seine Frau diese Unterhaltung auf Deutsch nicht verstanden und glaubte wohl, der einzige Grund der Erregung ihres Mannes wäre die Unmöglichkeit der Wiederherstellung ihres Hauses in ihrem Heimatdorf. Es hatte sich zwischen ihm und mir ein geteiltes Geheimnis geschoben, das es mir unmöglich machte, aus Hahn abzufahren, ohne eine Lösung für beide Paare gefunden zu haben. Wir verabredeten, erstmal zu Mittag zu essen und uns danach wieder zu treffen.

Vera hatte die ganze Zeit der Unterhaltung auf Deutsch ihren eigenen Gedankenspielen freien Lauf gelassen und geglaubt, der Serbe hätte die Zwangsarbeiterzeit in Deutschland nochmals schmerzlich Revue passieren lassen angesichts eines Deutschen, dessen Vater auf Feindesseite ihm direkt gegenüberstand. Tatsache war, dass mein Vater in diesen Jahren als junger Ingenieur der Hanomag in deren Forschungsabteilung arbeitete und oft mit dem Fahrrad auf das Calenberger Land hinausfuhr, um für seine junge Familie Essen auf den Gutshöfen zu ergattern. Dabei hätte er gut und gerne den Serben treffen können.

Nach einer Stunde trafen wir wieder mit den beiden alten Ehepaaren zusammen. Diesmal waren sie weniger halsstarrig und erklärten, sie wollten zumindest versuchen, erst einmal in einem Hause zusammenzuwohnen, um Kosten zu sparen, wobei sie jedoch zur Bedingung machten, dass wir in einem Haus zwei getrennte Stockwerke herrichten sollten. Ich kalkulierte gedanklich 20.000 ECUs und versprach, dass wir das bewerkstelligen könnten.

Als ich mit Vera schließlich nach Prijedor zurückfuhr, brach die Dämmerung herein. Der Abschied von den Alten hatte in gegenseitiger Umarmung geendet. Die Trennung von dem ehemaligen Zwangsarbeiter war jedoch etwas Besonderes: Für mich war eine Bitte um Verzeihung für faschistische Gräueltaten darin eingeschlossen, während seinerseits ein erlösendes Eingeständnis einer jahrelang verschwiegenen Liebe ans Tageslicht gelang.

Jacmel, d. 5. März 2010

Wieder ist es heute spät geworden. Ich bin auch ziemlich müde. Es ist Freitagabend, eine Zeit, zu der sich der satte Bundesbürger gemeinhin seinen Fernsehkrimi bei Bier und Erdnüssen reinzieht, kann er doch am nächsten Morgen getrost ausschlafen. Ich bin hier allerdings seit zwei Monaten mit einigen Kollegen rund um die Uhr am werkeln. Langsam bekomme ich Schatten unter die Augen. Zwei Wochen schlief ich in einem Hotel, in dem die Nachbeben jeden Augenblick das Gebäude zum Einsturz hätten bringen können. Deshalb hing mein Kopf des Nachts halb aus der Tür, ich war sozusagen allzeit bereit zum großen Sprung nach draußen. Manchmal verbrachte ich die Nacht auf einem Stuhl sitzend unter den Palmen. Dieser Stress ist vorbei, jedoch spüre ich jede noch so kleine unterirdische Erschütterung. Und wie die japanischen Experten voraussagten, das gegenseitige Geschiebe der Erdschichten dauert an und wird sich innerhalb des nächsten Jahres noch einmal in einem starken Beben entladen, um dann erst zu dauerhafter Ruhe zu kommen. Hoffentlich!

Lieber Christian, noch eine zweite Geschichte zu Bosnien.

Wenn ich jedoch so weitermache, wird dieser Geburtstagsgruß niemals fertig. Ich gelobe an dieser Stelle, dass die weiteren Länder eine geringere Aufmerksamkeit erfahren. Schließlich soll einem zukünftigen Münster-Treffen nicht aller Saft vorher entzogen werden.

Ostern 1998 war vorbei. Wald und Flur waren bereits in voller Pracht ergrünt, Osterglocken in verlassenen Gärten, Zwetschenbäume in Blüte, eigentlich Zeit zum Frülingsgrill unter Freunden mit türkischem Kaffee und Slibowitz, und natürlich darf Baklava dabei nicht fehlen.

Diesmal war ich mit Asra, meiner bosnischen Assistentin, auch Ökonomin wie Vera, unterwegs. Asra war damals in ihren besten Jahren, um die 45, während des Krieges in Österreich untergekommen, geschieden, mit einem 20jährigen Sohn, der jetzt in Klagenfurt das Abitur nachmachte. Asra ist die Balkanausgabe der blonden Nordeuropäerin, ist Bosnierin, hat jedoch mit dem Islam nicht das Geringste am Hut.

Es war ein wunderschöner Frühlingssonntag. Ich war schon morgens mit Asra aus Sarajevo, wo wir in der teilweise zerstörten historischen Altstadt einen türkischen Kaffee und die traditionelle Pita genossen hatten, aufgebrochen, um Srebrenica in der Republika Srbska zu besuchen und Ideen für ein Versöhnungsprojekt zu sammeln. Seit ich begann, dieses schöne und doch so unglückselige Bosnien näher kennenzulernen, packte mich die fixe Idee, an der Versöhnung des Landes zu arbeiten und wenigstens vereinzelt interethnische Begegnungen und Zusammenleben zustande zu bringen.

Srebrenica ist natürlich der schwierigste Ort zu so einem Versuch. Es war mir von Beginn an bewusst, dass die offene Beschäftigung mit dem dort geschehenen Massaker erst zukünftigen Generationen vorbehalten sein wird. Auch wurde in Srebrenica und Umgebung das Versteck von Karadzic und Mladic vermutet. Trotzdem wollte ich an jenem Sonntag mit Asra den Ort kennenlernen und mit einigen Serben darüber sprechen, unter welchen Umständen und ob überhaupt sie gewillt wären, nach Sarajevo zurückzukehren. Srebrenica beherbergte seit Kriegsende ehemals urbane serbische Bevölkerung aus Sarajevo, wohingegen die muslimisch bosnische Bevölkerung Srebrenicas, das heißt deren Frauen und Kinder, die Männer waren ja dem Genozid zum Opfer gefallen, entweder in Sarajevo oder in Vogosca Zuflucht gefunden hatten.

Jacmel, d. 6. März 2010

Gestern ging nichts mehr. Ich war einfach zu müde. Heute am Sonnabend habe ich wenig im Büro tun können. Die verdammten Bürokraten vom World Food Programme haben mir immer noch nicht die Vorlagen für die Beschäftigungsprogramme geschickt. Ich hatte ihnen verschiedenste Modelle zugeschickt, aber sie haben entweder private Agendas, die wichtiger sind, oder sind schlicht unfähig, unter geänderten Umständen Lösungen zu entwickeln. Sie haben nämlich jetzt jede Menge Cash, um direkt Projekte finanzieren zu können, gesetzt diese schließen arbeitsintensive Massnahmen ein. In unserer Provinz sind jetzt 30.000 Familien von Arbeit und Brot ausgeschlossen. Bisher liefern wir nur Brot, und das zu wenig. Ich hoffe, dass ich morgen in meiner Internetpost Kommunikation aus Rom und Port-au-Prince vorfinde und loslegen kann. Die Projekte sind in der „Pipeline“ und könnten in zwei Tagen beginnen.

Die relative Untätigkeit im Büro gab mir die Gelegenheit, noch bei Tageslicht einen Zwölfkilometerlauf zu absolvieren. Diesmal hatte ich entgegenfahrende Fahrzeuge und Mototaxis fest im Auge und konnte ihnen Zeichen geben. Der Fußgänger oder Läufer ohne einen Motor unterm Hintern ist selbstverständlich der Letzte, dem Rücksicht gebührt und er hat selbst Schuld, wenn er überfahren wird.

Der Besuch Srebrenicas war schlicht und ergreifend deprimierend. Diese ehemalige Arbeiterstadt, die sich um eine gewundene Hauptstraße langsam den Berg heraufzieht, zeichnet sich durch typisch sozialistische Wohnblocks aus, in denen jetzt die serbischen Familien ein tristes Arbeitslosendasein auf niedrigstem Niveau fristeten, und das nur den Männern zweifelhafte Freuden durch den Genuss von Slibowitz und dem endlosen Zigarettenrauchen erlaubte. Die Kontrolle über den Handel mit Alkohol und Zigaretten hatten nach wie vor Karadzic und Mladic. Der Geruch in den Gängen der heruntergekommenen Wohnblocks war ein Gemisch aus Alkoholgestank und kaltem Zigarettenrauch. Unsere Unterhaltungen mit einigen Familien verliefen überall gleich; wir wurden mit Misstrauen bedacht und hörten nur immer wieder, dass eine Rückkehr nach Sarajevo, solange dort mehrheitlich die bosnischen Muslime und die Kroaten wohnten, niemals infrage käme. Selbstverständlich waren diese Antworten stets im Beisein der Männer gemacht. Überhaupt schienen diese insgesamt die Frauen und Kinder zu „terrorisieren“. Es waren dieselben Männer, die die Bosniaken zu Ende des Bürgerkrieges und auf Befehl von Karadzic und Mladic tausendfach ermordet und in Massengräbern verscharrt hatten. Wenn wir beim Verlassen der Wohnungen die flüchtige Gelegenheit hatten, Frauen allein zu sprechen, beschwörten sie uns zumeist, sie aus diesen Verhältnissen herauszuholen. Sie wären bereit für einen Neuanfang in Sarajevo und wollten schnellstmöglich in ihre alten Wohnungen zurück.

Als Asra und ich schließlich Srebrenica verließen, atmeten wir erstmal kräftig durch, hatten wir doch den Eindruck, einen Albtraum durchlebt zu haben. Und Asra, die ich stets als Vera und meine serbische Assistentin ausgeben musste, hatte eine psychische Tortur sondergleichen durchmachen müssen. Der Hass, besonders gegenüber den Bosniaken, sprach aus jeder Geste der serbischen Männer. Wir brauchten zwei Stunden Fahrt durch die sonnige Frühlingslandschaft, um uns einigermaßen wieder zu beruhigen. Bevor wir dann die letzten zwanzig Kilometer vor der Grenze zur Federation antraten, hielten wir nochmals vor einem einzelstehenden Gehöft an. Die Feldarbeit um das Haus hatte noch nicht begonnen. Abseits stand eine einsame Kuh verloren auf der Weide unter den Zwetschenbäumen. Vom Haus her empfing uns der typische Grillgeruch, der auf dem Balkan niemals fehlen darf. Um einen groben Tisch herum saßen einige Frauen und Männer. Der Slibowitz fehlte auch nicht, es war beste Stimmung angesagt. Jedoch wurde ich, wie überall in der Republika Srbska erstmal kritisch beäugt. Allerdings hatte ich als Deutscher gegenüber den Amerikanern stets den Vorteil, nicht als Bosniakenfreund angesehen zu sein. Viele Serben hatten außerdem Deutschland als „Gastarbeiter“ kennengelernt und in guter Erinnerung.

Nachdem ich also als Deutscher und Asra (Vera) als Serbin identifiziert worden war, entwickelte sich eine muntere Unterhaltung, die freilich durch den Genuss von Slibowitz beflügelt wurde. Dabei tat sich besonders eine Frau, ich schätzte sie auf etwa 50 Jahre, hervor, die sozusagen die „Chefin“ der „Großfamilie“ zu sein schien. Es stellte sich dann heraus, dass wir es mit zwei serbischen Brüdern zu tun hatten, die aus Sarajevo stammend in diesem Gehöft einer ehemals bosniakischen Bauernfamilie untergekommen waren. Beide Brüder und auch ihre Frauen waren Akademiker, die an der Universität von Sarajevo gelehrt hatten und von Landwirtschaft so viel verstanden wir ich von Nuklearphysik.

Als unser Gespräch nach vielen Vorgeplänkeln schließlich am neuralgischen Punkt ankam, ob denn eine Rückkehr nach Sarajevo in Betracht käme, kam die „Chefin“ in Rage. Neben ihr auf dem Tisch lag ein riesiges Küchenmesser, das sie dann auch sogleich mit beiden Händen ergriff. – Ich gehe auf keinen Fall nach Sarajevo zurück, meine Kinder auch nicht. Was die Männer machen, ist mir egal. Wenn mir nur eine Muslimin unterkommt, werde ich ihr die Gurgel durchschneiden. Dabei hob sie das Messer, legte es ihr selbst am Hals an und imitierte die entsprechende Bewegung. Mir blieb die Spucke weg. Asra erbleichte und zitterte innerlich. Ich musste sie am Arm aufrichten, und unter ungeschickten Ausreden, es würde nun bald dunkel, machten wir uns schleunigst auf den Weg zu meinem Jeep. Ich ließ den Motor an. Wir fuhren davon, ohne noch einmal zurückzublicken.

Es war das erste Mal, dass eine Frau in Bosnien ihren Hass mir gegenüber in dieser Form äußerte. Wieder musste ich an den deutschen Faschismus denken. Im Prinzip war er Männersache. Aber er hat es fertiggebracht, auch Frauen vor seinen menschenverachtenden Karren zu spannen, Frauen, die auch in Konzentrationslagern an wahnsinnigen Exzessen aktiv teilgenommen hatten.

Die Bosnienerfahrung, ganz gleich, ob sie mit Kroaten, Bosniaken oder Serben zu tun hatte, ließ mich erahnen, was das Dritte Reich im Kern gewesen sein muss. Würde ich im heutigen Deutschland leben, wäre wohl mein Engagement entweder im Bereich der Integration von Ausländern oder der Beschäftigung mit Jugendlichen, die sich auf dem Trip in die Neonazisphäre befänden. Jede Nachricht aus Deutschland, die mit Ausländerfeindlichkeit und Neofaschismus zu tun hat, treibt mir die Schamröte ins Gesicht und verschlägt mir die Sprache, wenn mich meine ausländischen Freunde daraufhin ansprechen. Da hilft auch nicht das Argument, dass in anderen Kulturen derartige Menschenrechtsverletzungen weit häufiger auftreten können.

Christian, in Bosnien habe ich auch sehr positive Dinge erlebt. Nach Monaten von Versöhnungstreffen von Minderheitengruppen mit herrschenden Majoritäten in einigen Bezirken nördlich von Sarajevo hatte ich einen gemeinsamen Projektvorschlag zusammen mit Bosniaken, Kroaten und Serben erarbeitet und wollte ihn der EU vorlegen. Aber in der damaligen Zeit meinten die Diplomaten und ausländischen Bürokraten, so etwas sei einfach nicht möglich. Sie fühlten sich ganz als Besatzer, hatten von der „ideosincracia“, der Wesensart der einheimischen Bevölkerungsteile nicht die geringste Ahnung, wollten sie auch gar nicht kennenlernen, verdienten sich eine goldene Nase und sind die eigentlichen Schuldigen, dass das Land bis heute zerrissen dasteht. Das friedliche Leben mit dem Anderen, mit dem Fremden und das Verstehen desselben, das wir Europäer glücklicherweise im Ansatz angegangen haben, steht leider erst am Anfang der Menschheitsgeschichte. Vielleicht kann die aufkommende Gleichheit der Geschlechter da ein wenig nachhelfen. Wie ich schon sagte, Frauen sind einfach sozialer, offener, auf Erhaltung des Lebens und nicht auf seine Zerstörung ausgerichtet. Wenn mit ihrer Hilfe der Machismus langsam zurückgedrängt werden könnte, würde wohl auch der Kampf gegen Phänomene wie Faschismus und Fundamentalismus erfolgversprechender.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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