Jenseits des christlichen Weihnachtsfestes

Anden-Sonnenwende 1. Suche nach der verlorenen Freiheit

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Foto: Wikimedia Commons: "Celebración del Cápac Raymi, según Guaman Poma" (Traditionelle Feier der Winter-Sonnenwende in den Anden, Zeichnung: Guaman Poma, etwa gegen 1600).

Vorbemerkung: Eventuelle Ähnlichkeiten von lebenden Personen mit in dieser fiktiven Erzählung beschriebenen Menschen wären rein zufälliger Natur. Kulturgeschichtliche Erläuterungen sind von mir in Schrägschrift eingefügt.

Teil 1

Bevor die spanischen Conquistadores im Verein mit den „curas“ (Pfaffen) nach Eroberung des Inkareiches (Ermordung des 13. Inkaherrschers Atahualpa durch Pizarro in Cajamarca, Peru, Juli 1533) das christliche Weihnachtsfest in der Andenregion einführten, läutete das Fest der Winter-Sonnenwende (cápac inti raymi = spirituelles Fest der Quechua und Aymara zu Ehren des Sonnengottes, am 22. Dezember eines jeden Jahres mit Tieropfern, Maisbier, Cokablättern und Tänzen begangen) das 13monatige Inka-Kalenderjahr ein. Bis heute wird in verschiedenen Andengebieten die Wintersonnenwende zusammen mit übernommenen Elementen aus der christlichen Weihnacht gefeiert.

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Malditos curas!“ (verdammte Pfaffen) Am liebsten hätte Maria Suyana die Worte laut und deutlich ausgesprochen, so dass alle im Bus von Quito nach Cotacachi ihre Meinung über die zwei jungen Missionare in der ersten Bank erfahren hätten. Die beiden waren zwar keine katholischen Pfaffen aber Maria klassifizierte die nordamerikanischen Sektenverfechter als ebensolche Seelenfänger der Quechua-Indios wie die curas. In den letzten Jahrzehnten war ein gnadenloser Wettbewerb zwischen katholischen und protestantischen „Arme-Seelen-Fängern“ ausgebrochen. Dabei lockten die protestantischen Seelen-Fänger aggressiv mit Einrichtungen im Gesundheits- und Erziehungswesen, während sich die Pfaffen hauptsächlich auf ihre bunten Prozessionen zu Ehren ungezählter „Heiliger“ verließen, deren Feste-Charakter sie großenteils den traditionellen Anden-Kulturen abgesehen hatten.

„Einfach widerlich, sich die Armut der Menschen zunutze zu machen, um im Trüben zu fischen,“ dachte sich Maria. „Aber alle malditos curas sind nichts gegen die heutige Politiker-Klasse, die die Drecksarbeit für die nationale Oligarchie erledigt. Was im kolonialen Ecuador die curas an Gehirnwäsche im Namen der Conquistadores erledigten, das ist das Werk der heutigen Politiker im Auftrag des Kapitals.“

Maria wusste, dass sie sich nicht aufregen durfte, zumal in diesem Bus, der bei jeder Unebenheit der immer wieder geflickten Straße gehörig hin und her wackelte. In ein paar Tagen schon würde sie hoffentlich einen gesunden Jungen gebären. Das hatte die Ultraschalluntersuchung in Quito ergeben. Und das sollte nach ihrem Wunsch im Kreise ihrer Familie im nördlich von Quito gelegenen Cotacachi, in der Provinz Imbabura, geschehen. Sie hoffte inständig, dass die Geburt mit dem cápac raymi am 22. Dezember 1996 zusammenfiele. Bloß keine Geburt am 24. Dezember, dem christlichen Weihnachtsfest!

Sie hatte schon von Quito aus eine befreundete Gynäkologin aus Otavalo, nur wenige Kilometer von Cotacachi entfernt, informiert, ihr bei eventuellen Komplikationen während der Hausgeburt beizustehen. Und würden die Wehen nicht rechtzeitig einsetzen, dann sollte die Freundin die Geburt künstlich einleiten. Im Übrigen vertraute Maria den Kenntnissen ihrer Mutter und vor allem ihrer Großmutter. Letztere hatte neben ihren häuslichen Fähigkeiten auch langjährige Erfahrung als Hebamme.

Ihren zweiten Vornamen Suyana (Quechua: Hoffnung) hatte Maria dieser großartigen, von ihr über alles geliebten Oma zu verdanken, die in der Indio-Gemeinde von Cotacachi bis ins hohe Alter hinein eine hoch geschätzte Führungspersönlichkeit war. Bei ihrer Geburt bekam Maria als ersten Vornamen einen christlichen, damit sie in der ecuadorianischen mehrheitlichen Mestizen-Gesellschaft nicht allein aufgrund ihres Namens marginalisiert würde. Der zweite Quechua-Vorname sollte Maria im Erwachsenenalter die Wahlmöglichkeit geben, selbstbestimmt ihre indigene Herkunft durch ihren Quechua-Vornamen zu dokumentieren. Außerdem meinte die Großmutter,ihre Enkelin möge stets Kraft aus ihrem Namen „Hoffnung“ schöpfen, dass eines zukünftigen Tages bessere und freie Lebensbedingungen für die indigenen Völker der Anden erkämpft werden könnten.

Maria Suyanas Familie war eine curaca ( =Häuptling)-Familie aus Cotacachi. Nach dem Tode ihres Großvaters war es die paya (Quechua: Großmutter), die Maria Suyana unter ihre Fittiche genommen hatte und sie bis zum Beginn ihres Studiums in die Quechua-Kultur einweihte. Und was die Verteidigung dieser Kultur anbelangte, war die paya, oder wie Maria liebevoll auf Spanisch zu sagen pflegte, die abuelita, äußerst rigoros. Das hatte so mancher cura zu spüren bekommen. Die abuelita, ebenso wie der verstorbene abuelito, hatten in ihrem gesamten Leben nicht einen Fuß in eine christliche Kirche gesetzt. Und auf vielen abgelegenen Höfen im Kanton Cotacachi bekamen die Pfaffen dank des Einflusses der curaca-Familie kein Bein auf die Erde.

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Foto: Wikimedia Commons (2008), Tänzerinnen von Cotacachi, Autor: Chris Feser (In ihrer Schulzeit hatte Maria ebenfalls als Tänzerin an Sonnenwend-Feiern teilgenommen)

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Wie kam es zu Marias Schwangerschaft?

Sie ging jetzt schon auf die 40 zu, war eine unabhängige, brillante Professionelle in ihrem Fach der Anthropologie und Kunstgeschichte und gehörte zur zweiten Generation von indigenen Akademikern in Ecuador, die ihre Universitätsstudien in den 80er Jahren absolvierten. Die erste Generation begann die akademische Laufbahn zu Ende der 50er Jahre und hatte diesen Umstand dem Besuch von katholischen Ordensschulen zu verdanken. Die spanischen Missionareschickten die besten Schüler nach dem Abitur zum Studium ins Ausland, von wo sie zumeist „kuriert“ wieder in ihre Heimat zurückkehrten, d. h. kuriert in Bezug auf die, wie sie es nannten, Gehirnwäsche ihrer Ordenslehrer, die den Indio-Kindern vom ersten Tag an in der Missionsschule das Sprechen ihrer Muttersprache, meistens das Quechua, bei Strafe untersagten. Insgesamt wurde die Kosmovision, die Weltanschauung der Andenvölker, „purifiziert“ (seit dem 2. Vatikanischen Konzil) durch die „Heilige Dreifaltigkeit“ und die „Unbefleckte Jungfrau“, die in die Gehirne der Kinder eingemeißelt wurden („Inkulturation“, wie das die Papst-Kirche euphemistisch ausdrückte). So erwuchsen aus der ersten Führungsgeneration der indigenen Völker schließlich die unerbittlichsten Gegner der katholischen Kirche und auch der Nationalen Oligarchie.

Es geschah in Bolivien, am Ufer des Titicacasees. Maria hatte alles bis aufs Kleinste geplant. Sie hatte sich schon gleich nach ihrem Studium in Oxford dazu entschlossen, niemals zu heiraten. Das Macho-Verhalten der Männer in ihrer Heimat sowie das von ihr so wahrgenommene fehlende kulturelle Verständnis der „westlichen“ Männer in Bezug auf ihre indigene Herkunft und ihr ausgesprochener Freiheitswille verscheuchten alle Heiratswünsche, die sie als kleines Kind hatte. Aber in den letzten Jahren setzte sich bei ihr immer mehr der Gedanke fest, als würdige curaca-Tochter ein eigenes Kind zu haben, das weiterhin für die Aufrechterhaltung der Andinen-Kultur in der Cotacachi-Region eintreten würde. Sie wollte sich dazu einen geeigneten Vater aussuchen, diesen aber nie vom unehelichen Kind wissen lassen. Das sollte für immer ihr Geheimnis bleiben.

Zum Equinoccio-Fest der Tag- und Nacht-Gleiche am 21. März 1996 reiste sie an den Titicacasee auf die bolivianische Seite. Auf der Isla del Sol (Sonneninsel) war ein einwöchiges internationales Seminar von indigenen Anthropologen der Andenregion mit dem Thema: „Kosmovision der Andenvölker als Quelle des Widerstandes gegen Kirche und Staat“ angesetzt. Maria wollte dort den bolivianischen Anthropologen Francisco Amaru (Aymara: stark, unbeugsam) treffen, den sie von verschiedenen internationalen Treffen her kannte. Francisco Amaru entstammte einer Aymara curaca-Familie, hatte seine Studien in den USA gemacht und war etwa gleichen Alters wie Maria. Im Gegensatz zu ihr war er verheiratet und hatte zwei halbwüchsige Kinder. Maria Suyana und Francisco Amaru, die beide aufgrund ihres Äußeren und ihrer scharfen Intelligenz in jeder Gesellschaft Aufmerksamkeit hervorriefen, fühlten sich bei ihren gemeinsamen Treffen unwiderstehlich zueinander hingezogen. Allein die Tatsache, dass Francisco verheiratet war und Kinder hatte ließ zwischen beiden bisher nicht mehr als Koketterie aufkommen.

In Francisco sah Maria den geeigneten Vater für ihr Kind. Auch fielen ihre fruchtbaren Tage gerade in die Seminar-Woche auf der Isla del Sol. Jetzt müsste es ihr nur noch gelingen, Francisco Amaru zu verführen. Gelänge ihr Vorhaben, zu dem sie fest entschlossen war, dann könnte die Geburt ihres Kindes mit dem kommenden cápac raymi, der Winter-Sonnenwende, zusammenfallen.

Die Gruppe der 20 Anthropologinnen und Anthropologen traf sich am 19. März im bolivianischen Städtchen Copacabana am Titicacasee, um sich gemeinsam per Boot nach der Isla del Sol übersetzen zu lassen; Fahrtdauer etwa eine Stunde. Es war ein beinahe wolkenloser Tag, „himmlischer“ Tag. Die Teilnehmer des Seminars, die sich teilweise von früheren Treffen her kannten, kamen aus allen Ländern des einstigen Inkareiches: Argentinien, Chile, Bolivien, Peru, Ecuador und Kolumbien. Als Maria Francisco zur Begrüßung umarmte, war sie zu aufgeregt, um etwas sagen zu können. Sie drückte ihn einfach nur innig an sich, so wie sie das mit guten Freunden hielt, mit denen sie sich eins wusste. Erst als beide nebeneinander an der Reling standen, die Insel und den herrlich tiefblauen See vor sich sowie die bolivianischen Nevadas im Hintergrund, war die Spannung mit einem Mal wie vom kühlenden Seewind hinweggeblasen. Sie und Francisco waren einfach nur glücklich über diese gemeinsam erlebte Bootsfahrt und konnten gar nicht schnell genug ihre seit dem letzten Treffen erlebten Geschichten austauschen. Ihre wortreichen Gesten dienten immer wieder dazu, den anderen auf die eine oder andere Weise zu berühren und sich gegenseitig zu vergewissern.

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Foto: Wikimedia Commons (2007), Blick von der Isla del Sol (Sonneninsel im Titicacasee, bolivianische Seite) in Richtung auf die bolivianischen Nevadas, Autor: Anthony Lacoste

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Der Ort für das Seminar war ganz bewusst ausgewählt. Der Titicacasee, die Isla del Sol und Copacabana hatten und haben für die Anden-Kultur eine tiefe Bedeutung. Hier nahm die Geschichte des Inkareiches ihren Ausgang und hier liegt eine der drei wichtigsten sakralen Stätten dieses Reiches. Die beiden anderen sind vor allem die Hauptstadt des Inkareiches, Cuzco in Peru und zum anderem die vom elften Inkaherrscher Huayna Cápac errichtete nördliche Residenzstadt Quito.

Eine der beiden Gründungsmythen des Inkareiches ist der Folgende:

Gegen 1200 n. Ch. erbarmte sich der Sonnengott („inti“), Sohn des allmächtigen Schöpfers des Universums („Viracocha“), der jämmerlichen Lebensbedingungen der Menschen. Zu diesem Zwecke erschuf er in dem Mann „Manco Cápac“ und der Frau “Mama Ocllo“, seiner Schwester, ein Ehepaar, das, aus den Untiefen des Titicacasees nahe der „Isla del Sol“ emporsteigend, sich auf den Weg begeben sollte, eine neue Heimstatt für die Bewohner dieser kargen Landschaft auf 4000 Meter Höhe zu finden. Er gab den beiden einen goldenen Stab mit, der, wenn er in einem weichen, fruchtbaren Untergrund verschwände, den Ort bezeichnen würde, an dem ein neues Volk erstehen sollte, das dem Sonnengott von da an seine Ehrerbietung darbrächte. Manco Cápac und Mama Ocllo machten sich alsdann auf gen Norden und fanden den Ort Cuzco, wo sie den „Templo del Sol“ (Sonnentempel) zu Ehren „intis“ errichteten und den Grundstein des Inkareiches legten.

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Foto: Wikimedia Commons, größte Ausdehnung des Inkareiches (oder auch Tahuantinsuyo nach den vier vom 9. Inka, Pachacútec, gegründeten Regionen benannt, Norden, Süden, Osten und Westen) zur Zeit der Ermordung des 13. Inkas, Atahualpa, durch den spanischen Conquistador Pizarro (1533). Die Hauptstadt Cuzco liegt im Zentrum des Reiches, wo sich die vier Regionen treffen.

Fortsetzung folgt, CE

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Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

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