Jenseits des christlichen Weihnachtsfestes

Anden-Sonnenwende 2. Die "Suche nach der verlorenen Freiheit" ist nicht eine Geschichte über Maria und Josef sondern über Suyana und Amaru

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http://www.oni.escuelas.edu.ar/2003/ENTRE_RIOS/207/tawa_chakana.jpgFoto: Schulmaterial aus Argentinien, Chacana (Kreuz des Südens), die das dreistufige Universum aus der Sicht der Andenvölker symbolisiert, mit der Sonne im Zentrum [http://www.oni.escuelas.edu.ar/2003/ENTRE_RIOS/207/COSMOVISION.htm]

Vorbemerkung: Eventuelle Ähnlichkeiten von lebenden Personen mit in dieser fiktiven Erzählung beschriebenen Menschen wären rein zufälliger Natur. Kulturgeschichtliche Erläuterungen sind von mir in Schrägschrift eingefügt.

Teil 2

Der erste Arbeitstag des Seminars „Kosmovision der Andenvölker als Quelle des Widerstandes gegen Kirche und Staat“ begann am Morgen des 20. März 1996 mit der Frage, ob es denn eine einheitliche Kosmovision überhaupt gäbe. Francisco Amaru versuchte zu Beginn, eine Zusammenfassung zu geben:

„Die Kosmovision bzw. Weltanschauung der Andenvölker wird am besten anhand der chacana (Kreuz des Südens) beschrieben:

Seit Besiedlung des Andenraumes (mindestens seit 10 Tausend v. Ch.) haben die dort siedelnden Völker ein gegenseitiges respektvolles Verhältnis zur Natur und seiner Phänomene entwickelt. Man kann ihre Weltsicht als Animismus und Pantheismus bezeichnen. Wie die „chakana“ (Kreuz des Südens) symbolisiert, gehören dazu die drei Welten: „Himmelswelt“ (mit Sonne, Mond, Sternen, Wind, Regen, Blitz, Donner), Erde (mit Pflanzen, Tieren, Menschen, Feuer, Landschaften) und „Unterwelt“ (Meere, Seen, Höhlen, etc.), die jeweils durch den Condor, den Puma und die Schlange symbolisiert werden. Diese drei Welten werden als belebte Einheit gesehen, auch die Toten sind Teil dieses lebendigen Universums. In der Prä-Inkaepoche wurde die „pacha mama“ (Mutter Erde) als herausragende „Gottheit“ verehrt, aus der alles Leben, einschließlich das Leben der Menschen, hervorgeht, die als Teil der Erde, der Natur, sich deren Gesetzen zu unterwerfen haben. Mit Beginn der Herrschaft von Pachacutéc (1438), dem neunten Inka, der die Expansionsphase des Inkareiches und seine eigentliche Staatsgründung einleitete, wurde die vormals nicht hierarchisierte Götterwelt hierarchisch gegliedert und allen dem Inkareich einverleibten Völkern als „Staatsreligion“ anheimgegeben . Dem allmächtigen, abstrakt gedachten Lenker des Universums, „viracocha“, wurden zuerst „inti“ (Sonnengott) dann“ mama killa“ (Mondgöttin und Ehefrau des Sonnengottes) und „pacha mama“ (Mutter Erde) beigeordnet. Die übrige Götterwelt blieb für jedes Volk bestehen, sowie sie bereits als Totemismus der Prä-Inkazeit existierte.“

Im Anschluss an diese Definition entspann sich eine lebhafte Debatte. Die 15 Anthropologen und ihre 5 Kolleginnen waren um einen runden Tisch im einzigen Tagungssaal des Hotels „Imperio del Sol“ versammelt. Dieser Saal bot durch seine drei wandhohen Fensterseiten einen atemberaubenden Blick über die Insel zum See und zur gegenüberliegenden Gletscherkette. Die Teilnehmer fühlten sich buchstäblich im Freien sitzend und gaben sich bedingungslos der durchdringenden morgendlichen Lichtflut dieser ihnen „heilig“ erscheinenden Landschaft hin.

Maria Suyana saß an Francisco Amarus rechter Seite. Während er sprach, hatte er Marias Hand unter dem Tisch ergriffen. Bei jedem Wort fühlte sie, wie seine Wärme sie mehr und mehr durchströmte. In Gedanken erlebte sie abermals die vergangenen Stunden seit ihrem Wiedersehen am Vortag. Beim Einchecken im Hotel waren sie sich einig, benachbarte Zimmer zu nehmen. Beiden schien es von Beginn an, als müssten sie diese Seminarwoche bis zum letzten Tropfen auskosten. Sie wüssten ja nie, ob sie sich zukünftig jemals wieder begegnen würden.

Bis zum gemeinsamen Abendessen der Gruppe hatten sie noch zu einem Nachmittagsspaziergang auf der Insel Zeit. Da es gegen Abend auf 4000 Meter Höhe empfindlich kalt wurde und die Nacht bald hereinbrechen würde, machten sich die beiden, dick in chompas und chaquetas (Pullover und Jacken) eingehüllt, sogleich auf den Weg zu den Inka-Ruinen Pillkukayna. Die anderen Teilnehmer des Seminars ahnten, dass Maria und Francisco diese Woche über unzertrennlich sein würden und drängelten sich nicht in ihre Zweisamkeit.

Sobald sie außer Sichtweise des Hotels kamen, setzten sie ihren Weg eng umschlungen fort. Auf halbem Wege vom steinigen Hügelrücken hinunter zu den Ruinen suchten sie sich einen Platz auf der Kante einer von den Indios aufgeschichteten Terrasse. Beide verharrten schweigend, in sich gekehrt, wie gemeinsam der Welt entrückt, den Blick über die Ruinen hinaus auf den See gerichtet.

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http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/8/8d/Pilka_Kaina_Stevage.jpg/1280px-Pilka_Kaina_Stevage.jpg

Foto: Wikimedia Commons (2008), Inka-Ruinen von Pillkukayna auf der Isla del Sol, Autor: Steve Bennet

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Ohne Worte kehrten sie nach einer zeitlosen halben Stunde wieder zum Hotel zurück. Ohne Worte wussten sie, dass diese Nacht und die folgenden Nächte auf der Isla del Sol nur ihnen beiden gehören würden. Maria ahnte, dass die pacha mama ihre so innig herbeigewünschte Fruchtbarkeit nicht verweigern würde, und dass sie diese magischen nächtlichen Begegnungen mit Francisco nie vergäße.

Obwohl sie bewusst gegen eines der drei Leitworte des Inkareiches tahuantinsuyo: (Du sollst nicht stehlen! Du sollst nicht lügen! Du sollst nicht faul sein!), nämlich das Lügenverbot, verstoßen hatte, gab sie sich dem Zauber der Vereinigung mit Francisco ohne jegliche Schuldgefühle mit allen ihren Sinnen hin. Sie hatte ihn im Glauben gelassen, sie hätte schon die geeigneten Vorsichtsmaßnahmen gegen eine Schwangerschaft getroffen.

Fortsetzung folgt, CE

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Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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