Liebe u. starke Frauen: Feinde der Mächtigen

Dank an V. Doormann Der Kommentar von V. Doormann zu meinem Beitrag: 10. Jahrestag des Al Qaida-Anschlags auf UN in Bagdad am 19. August, verdient eine rechte Antwort

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Foto: Wikimedia Commons, Kinder aus Mosambik (2005)

Autor: Steve Evans

Lieber Volker,

in meiner Replik auf Deinen Kommentar sei hier zum Dank eine kleine Geschichte mit schwarzen Kindern angeführt.

Zwischen 1986 und 1992 arbeitete ich in Mosambik in verantwortlicher Position für die Ernährungssituation von Millionen Mosambikanern, die während des fürchterlichen Bürgerkrieges (1977 bis 1992) mehrheitlich auf der Flucht waren, teilweise in benachbarten Ländern, teilweise im eigenen Land und zu einem Drittel in von der FRELIMO-Regierung kontrollierten städtischen Zentren, die sichere „Inseln“ in einem von der RENAMO verwüsteten Hinterland waren. Es war die Zeit des Kalten Krieges: FRELIMO hauptsächlich unterstützt vom Sowjet-Block, RENAMO vom Apartheidssystem aus Südafrika. In einer von mir geleiteten Enquête im gesamten Land (2.800 km Küste am Indischen Ozean) fand ich 1990 heraus, dass der Krieg in etwa das Leben von 2 Millionen Menschen für immer zerstört hatte, darunter mehrheitlich Frauen und Kinder. (Offizieller Sprachgebrauch: 1 Million tödlicher Opfer) Mehr als die Hälfte dieser Zahl war der Hungersituation und den daraus entstehenden gesundheitlichen Problemen geschuldet. Der Krieg wurde auf beiden Seiten unerbittlich von Männern/Machos mit Blut an den Händen geschürt, die nach dem vom Vatikan vermittelten Friedensschluss bis heute als Regierung (FRELIMO) und Opposition (RENAMO) am Ruder sind und sich an der Nachkriegsprosperität schadlos halten. Der Friede beruht auf dem Totschweigen der Kriegsverbrechen beider Parteien, zumindest solange, bis die Kriegsgenerationen das Zeitliche gesegnet haben. FRELIMO hatte Beginn der 90er Jahre die Unterstützung des Sowjetblocks verloren, die RENAMO war in den besetzten Gebieten wegen lang anhaltender Dürre „bis auf die Knochen“ ausgezehrt; der Friede war die Konsequenz eines brutalen Macho-Machtkampfes, der in erster Linie auf den Köpfen und Leibern von Frauen und Kindern ausgetragen wurde; und er wurde nur möglich wegen der allgemeinen Amnestie aller Kriegsverbrecher, der Kleinen und vor allem der Großen.

Nun zu meiner Geschichte:

Im Jahre 1990 wurde ich gebeten, eine von der FRELIMO gerade wieder eroberte Distrikthauptstadt in der Provinz Tete nahe der Grenze zu Malawi zu besuchen. Dort hatten die Regierungstruppen die kleine Stadt Furancundo besetzt und ein paar Tausend Menschen, Frauen und Kinder, aus den Händen der RENAMO befreit. Man müsste schnellstens einen Nothilfeplan für diese Menschen auf die Beine stellen. Ich arbeitete damals im Auftrag der FRELIMO-Regierung und der EU. Letztere stellte mir alle Arbeits-Mittel und jährlich 50.000 metrische Tonnen Nahrungsmittel zur Verwaltung anheim, die ich in Zusammenarbeit mit dem Handelsministerium verplanen konnte. Ich war etwa drei bis vier Tage in der Woche mit einem kleinen Flugzeug im gesamten Lande unterwegs, um auf die beinahe täglich wechselnden Kriegsgeschehnisse antworten zu können.

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Foto: Wikimedia Commons, Mozambique mit Provinzen. In der Mitte Tete mit Furacundo nahe der malawischen Grenze

Mein bevorzugter Pilot war John, Australier, Anfang 30, ein wahrer Haudegen. Er hatte mich sozusagen schon durch dick und dünn kutschiert. Nur auf langen Strecken, mit einem einmotorigen Flugzeug, ließ er sich oft nach stundenlangem Flug in einen sanften Schlummer gleiten mit der Aufforderung, ich sollte das Steuer übernehmen. Mir gelang das immer nur unzureichend. Regelmäßig verlor ich nach 10 bis 20 Minuten das Gleichgewicht und kam in Schieflage. Immer musste ich ihn gewaltsam aus dem Schlaf reißen, um das Flugzeug wieder in Linie zu bringen. Bei unserer mindestens 8 Stundenreise nach Furancungo über Beira (Auftanken) und Tete (Besprechung mit FRELIMO-Provinzhäuptlingen) hatte ich ausreichend Schlaf am Vorabend „getankt“, da mir schwante, dass John mich wieder als „Beifahrer“ brauchen würde. Nach Beira flogen wir über starke RENAMO-Stellungen in Inhaminga und Gorongosa. Es regnete fürchterlich, die Wolken standen tief, gerade über den Baumwipfeln. John war das nur recht. Wir flogen wenige Meter über den Bäumen hinweg. So konnte die Guerilla uns nicht leicht ausmachen, nur unser Motorgeräusch vernehmen. Über Inhaminga, das für Sekunden aus den Wolken auftauchte, hörten wir Maschinengewehrfeuer. John war diesmal voll konzentriert auf dem Zweistundenflug zwischen Beira und Tete. Dort verliefen die Besprechungen mit der Provinzregierung in gewohntem gemütlichen Tempo bei brütender Hitze. Wir mussten hier übernachten, und konnten erst am nächsten Morgen, dann bei besserem Wetter, unser Ziel nahe der malawischen Grenze anfliegen.

Die Graspiste in Furancungo war schon seit Jahren nicht mehr in Ordnung gehalten. Wir waren die Ersten, die ihr Landeglück nach Einnahme des Ortes versuchten. John flog einige Male tief über das hochgewachsene Gras hinweg, die Stirn in Sorgenfalten. Tiere mussten verscheucht und versteckte Wasserpfützen ausgemacht werden. Am Rand der Piste war unter Bäumen ein russischer Panzer der FRELIMO verborgen. John gelang das Kunststück der Landung. Sofort eilten aus dem Panzer Soldaten in zerrissenen Kampfuniformen auf uns zu. Sie hatten aus Tete unsere Ankunft übermittelt bekommen. Ein Leutnant erklärte uns die Sicherheitssituation und führte uns in den völlig zerstörten kleinen Ort, der noch immer Spuren der portugiesischen Kolonialzeit aufwies. Inmitten einer landschaftlich wunderschönen bergigen Savanne mit Busch- und Grasland war der Ort um eine etwa 500 Meter lange, in der Mitte geteilte Hauptstraße angelegt. An deren Kopfende befand sich der „Palacio“ des Administrators, am gegenüberliegenden Ende die Kirche. In der Mitte Kauf- und Verwaltungshäuser. In der Kolonialzeit lebten in diesen Steinhäusern die Weißen. Die Schwarzen gruppierten sich in „Bairros“ (Ortsteilen), in strohgedeckten Lehmhütten um den Ortskern herum. Wir fanden die Steinhäuser, einschließlich „Palacio“ und Kirche, völlig zerstört vor. Der Ort musste bei der Einnahme durch die RENAMO wüste Schrecken durchlebt haben. Die Lehmhäuser waren sämtlich dem Erdboden gleichgemacht. Nur einige zerbrochene portugiesische „Azulejos“ (Wandkacheln) und Reste einer Badewanne im „Palacio“ erinnerten an bessere Zeiten. Der Ort bot ein Bild des Jammers. Mir kamen Assoziationen über das Kolonialleben in den Kopf und Bilder von RENAMO-Überfällen in so vielen kleinen Distrikhauptstädten des Landes. Aber es gab keine Zeit zu verlieren. In den späteren Nachmittagsstunden musste mit RENAMO-Angriffen gerechnet werden. Ich hatte knapp drei Stunden Zeit, mir ein Bild über die Lage zu machen und mit der rückeroberten Bevölkerung zu reden. Am frühen Nachmittag mussten John und ich wieder in der Luft sein.

Der Leutnant führte uns aus dem Ort hinaus zu den Flüchtlingen auf einem gerodeten Feld. Mein Gott, was war das nur für ein Anblick! Immer wieder der gleiche, den ich aus so vielen Besuchen im Lande kannte. Aus Ästen und Blättern waren notdürftig Hütten errichtet. Davor saßen oder lagen apathische, nur noch aus Haut und Knochen bestehende Frauen und Kinder, notdürftig bedeckt mit aus Holzfasern gefertigten „Kleidungsstücken“. Schuhe hatte niemand. Die Körper waren gezeichnet mit hässlichen Hautkrankheiten. Ich malte mir aus, dass diese Menschen schon seit Jahren mit der Guerilla als Sklaven hin und hergezogen waren. Die Männer waren entweder auf der Stelle erschossen worden oder aber hatten sich durch Flucht absetzen können.

Ich hatte dem Leutnant erklärt, dass ich etwa 10 Familien willkürlich zu einem Interview heraussuchen würde, um mir die notwendigen Notizen über Notmaßnahmen machen zu können. Von Weitem schon hatte ich eine erste Hütte ausgesucht. Davor lagen drei Frauen auf dem Boden. Sie mochten alle drei jeweils 10 Jahre Altersunterschied haben, die Jüngste etwa 25 Jahre alt. Zu ihnen gehörten drei Mädchen, um die 6, 9 und 12 Jahre alt. Alle hatten unendlich müde, angsterfüllte, tiefsitzende Augen, bis auf das kleinste Mädchen. Bei meinem Anblick, dem eines weißen Mannes, schien es, als würden von den Augen der Frauen und Mädchen unsichtbare Schleier entfernt. Die Kleinste, mit völlig nacktem, zerbrechlichen Körperchen, bekam auf einmal leuchtende Augen, die in diesem Meer von menschlichem Elend Leben und Hoffnung ausstrahlte. Sie verwandelte sich auf wunderbare Weise in eine kleine kostbare Märchenprinzessin. Es war, als wollte sie sagen: „Ich will alles hinter mir zurücklassen, ich will leben, mir gehört die Zukunft!“

Es dauerte ewige Sekunden, bevor ich meinen Blick von diesem Kinde abwenden konnte. Es hatte mich wahrhaftig verhext. Eine unbändige Macht ging von dieser Kinderprinzessin aus. Ich weiß nicht, ob meine Begleiter meinen Eindruck teilten. Die Arbeit musste verrichtet werden. Die Interviews erforderten Geduld, Konzentration und Einfühlungsvermögen. Das kann man alles mit der Zeit erwerben. Nur solchen Ausnahmegeschehen gegenüber, die alle zehn Jahre einmal vorkommen mögen, sind wir Menschen oft überfordert. Krampfhaft versuchte ich, mich auf die zu befragenden Frauen zu konzentrieren und dem magnetischen Blick des kleinen Mädchens auszuweichen.

Die Frauen stammten unterschiedlichen Familien ab, die Mädchen waren allesamt von anderen Eltern, die in den Kriegswirren entweder tot oder verschollen waren. Die Frauen weigerten sich, über die Behandlung durch die Guerilleros oder auch FRELIMO-Militärs zu sprechen. Letztere waren in Form des Leutnants anwesend, und die Erinnerung an die Guerilla war zu ungeheuerlich und zu frisch, um darüber zu sprechen. Sie wollten einfach nur essen, trinken, ein Dach über dem Kopf, ein wenig Kleidung, ausruhen und der brutalen Gewalt von Männern entkommen. Sie waren zu erschöpft, um sich ein Leben unter normalen Bedingungen vorzustellen.

Die Interviews gingen wie vorgesehen vonstatten. Ich machte meine Aufzeichnungen und kalkulierte schon die Notwendigkeiten an Hilfsmaßnahmen. Vor dem Abflug musste ich mit dem Leutnant die Möglichkeiten des Transportes besprechen. Sollte Lufttransport notwendig werden, oder ging es auch mit bewaffneten Lastwagenkonvois? Doch bei all dem verfolgte mich der Blick der kleinen Prinzessin. Bei den Interviews vor den anderen Hütten spürte ich ihre Anwesenheit hinter meinem Rücken. Unablässig ging in meinem Kopf der Gedankengang umher, ich müsste dieses Mädchen mit mir ins Flugzeug nach Maputo nehmen. Ich könnte gegenüber den Flüchtlingen den Vorwand äußern, sie brauchte unbedingt ärztliche Behandlung. Trotz aller bisher erfahrener Notsituationen hatte ich niemals Augen eine derartige klare Sprache sprechen sehen: „Hol mich hier raus! Ich will leben!“

Lieber Volker, ich weiß bis heute nicht, ob ich in diesem Moment der Entscheidung, ohne dieses Kind wieder zurückzufliegen, versagt habe. Alle anderen Kinder und Frauen hatten das gleiche Recht auf Leben, das gleiche Recht, aus der Gewalt der Mächtigen befreit zu werden. Ich hätte mich in der Hauptstadt um das Mädchen schwerlich kümmern können. Ja, vielleicht hätte ich eine Waisenunterkunft ausfindig machen können. Oder hätte ich dieses Kind adoptieren sollen? Tausend Mal habe ich diese Überlegungen mit mir selbst angestellt, habe sie mit Freunden diskutiert. Oft meinte ich, ich müsste zurückfliegen nach Furancundo, um nach ihr zu suchen. Noch heute frage ich mich, nach über zwanzig Jahren, ob ich damals richtig gehandelt habe, zwar einen Rettungsplan für alle gemeinsam auszuarbeiten und umzusetzen, aber die Kleine in ihrer rauen Umgebung zu belassen. Glücklicherweise hatte keine Rückeroberung der RENAMO in Furancundo stattgefunden. Die Frauen und die Mädchen waren einigermaßen „sicher“, mit Ausnahme der Vergewaltigungen, die auch die Regierungstruppen nicht lassen konnten.

Derartige Extremsituationen in einem Menschenleben machen immer wieder überdeutlich, dass unsere durch Mächtige hierarchisch durchstrukturierte Gesellschaften grundkrank sind, am Haupt und an den Gliedern. Ich wünsche dem kleinen schwarzen Mädchen, das Du vor Deinem Autofenster sahst, eine menschenwürdige Zukunft. Ebenso hoffe ich auch nach zwanzig Jahren noch, dass meine kleine damalige Prinzessin in Furancungo heute eine junge, starke Frau mit einer lebenswerten Zukunft sei.

Liebe Grüsse aus Panamá, CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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