Kein Verzicht auf Flucht

Freiheitssuche Deutsche und europäische Mitschuld an der Flüchtlingstragödie im Mittelmeer. Die Diskussion in Deutschland und Europa über Flüchtlinge trieft vor Menschenverachtung

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Wir Deutschen und Europäer werden die jüngsten Szenen von verzweifelten afrikanischen Flüchtlingen, die ihr Leben riskieren, um Europa zu erreichen, in den nächsten zwanzig Jahren in immer größerer Häufigkeit erleben. Wir werden darauf zunehmend antworten wie die USA gegenüber den Flüchtlingen aus Lateinamerika.

Wenn wir Landverbindungen nach Afrika hätten, würden wir Mauern bauen, gegen die die Berliner Mauer und die Grenze zur ehemaligen DDR lächerlich wirken würden. Aber wir werden Hunderttausende neue Arbeitsstellen schaffen im Bereich der Grenzsicherung zur See und Behörden aus dem Boden stampfen, die Millionen Afrikaner in Lagern „verwalten“ und in ihre Ursprungsländer repatriieren. Da wird sich eine ganz neue „Flüchtlings-Industrie“ entwickeln, die den Brüsseler Wasserkopf aus der Sorge weiter anschwellen lässt, den „wilden Horden“ aus dem afrikanischen Kontinent die europäische „Menschenrechts-Stirn“ zu bieten. Der stolze Menschenrechts-Kontinent wird dann endlich die ausreichende Begründung finden, das Rad der Aufklärung, des Humanismus, der Toleranz, der Brüderlichkeit, der Gleichheit und letztendlich der Freiheit wieder zurückzudrehen, unter donnerndem Applaus der christlichen Abendländer.

Die gegenwärtigen Regierungen Afrikas sind nicht in der Lage, ihrer explosionsartig wachsenden Bevölkerung eine auch nur annähernd würdige Lebensperspektive zu geben, die die Afrikaner, die selbstverständlich ihre Heimat genauso lieben wie wir, zur Aufgabe ihrer Emigrationsabsicht veranlassen würden. Für immer mehr Afrikaner, in einigen Jahren wird auf dem schwarzen Kontinent die Bevölkerung bis auf eine Milliarde Menschen angewachsen sein, gilt das Lebensmotto:

Lieber tot als auf die Flucht nach Europa verzichten!

Die afrikanischen Regierungen sehen der Emigration tatenlos zu. Wie auch die lateinamerikanischen Regierungen wissen sie, dass ihre Emigranten durch ihre in Europa verdienten Geld-Rücksendungen an ihre daheimgebliebenen Familien eine wesentlich effektivere „Entwicklungshilfe“ leisten, als alle sogenannten Entwicklungsleistungen der Europäer in den letzten 50 Jahren.

Warum hat Europa Mitschuld an der gegenwärtigen Flüchtlingsproblematik?

Erst einmal hat der afrikanische Kontinent noch heute unter dem Erbe der Kolonialherrschaft mit dem Sklavenhandel und der Ausbeutung der Rohstoffe zu leiden. Diese gewaltsame Ausbeutung Afrikas, zusammen mit derjenigen Lateinamerikas, haben die industrielle Revolution Europas finanziert und damit unseren heutigen Reichtum erst ermöglicht. Vor 50 Jahren wurde Afrika ausgeblutet und völlig unsinnig zerstückelt von Europa in die Unabhängigkeit entlassen. Diese europäische Schuld wurde weder in Afrika noch Lateinamerika offiziell anerkannt und adäquat zurückgezahlt. Der Staats- und Nationenbildungsprozess verläuft unter unsäglichen Geburtsschmerzen und andauernder Ausbeutung von Rohstoffen und Menschen.

Die Realität des heutigen Afrikas ist: Die Freiheit von weit mehr als der Hälfte der Bevölkerung ist durch die Abwesenheit der Existenz von grundlegenden sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Freiheitsrechten, die in der UN-Charta der universalen Menschenrechte garantiert sind, nicht gewährleistet. Hungernde Menschen, Menschen ohne Arbeit, ohne Perspektive auf würdige Familiengründung, angemessene Erziehung, Ausbildung, Gesundheitsversorgung sind unfrei. Dazu kommt in vielen Fällen die Gefahr der physischen Verletzbarkeit aus menschen-gemachten oder umwelt-gemachten Katastrophen. Menschen, deren Freiheitsrechte derartig mit Füssen getreten werden, haben Anspruch auf Unterstützung durch ihre Regierungen und vor allem auch durch Europa und damit durch Deutschland.

Wie sollte diesem Anspruch nachgekommen werden?

Zuerst einmal sind die afrikanischen Regierungen gefragt. Darüber hinaus ist Europa gefragt: aus historischen und aus ethischen Gründen. Die Historischen habe ich erwähnt. Die Ethischen sind Folgende: Deutschland und Europa als Hauptverursacher der Situation in Afrika haben die Verpflichtung, die universalen Freiheitsrechte nicht nur im eigenen Land und Europa zu verteidigen: Da ist das deutsche Problem der „Sozialen Kälte“ zu lösen, d.h. die materielle Unfreiheit der 30%-Niedrigverdiener im Lande zu beseitigen. Im europäischen Kontext ist vor allem die materielle Unfreiheit in Südeuropa zu lösen, vor allem der jungen Generation.

Aber wie sollten wir den Freiheitsrechten der Afrikaner gerecht werden?

Da muss eine zweigleisige Strategie gefahren werden:

1. Die afrikanischen Flüchtlinge haben ein Grundrecht auf physische Unversehrtheit bei der Überfahrt und menschenwürdige Aufnahme in Europa. Europa sollte großzügige Aufnahmequoten für jedes Land festlegen und eine „positive“ Eingliederungspolitik betreiben. Abschiebungen sollten nur dann erfolgen, wenn die europäischen Länder in Zusammenarbeit mit den jeweiligen afrikanischen Ländern eine menschenwürdige Rückkehr möglich machen können.

2. Deutschland und Europa müssen effizient an die Ursachen der Emigration herangehen, nämlich versuchen, so rasch wie möglich die materielle Freiheit der Afrikaner in ihren Ursprungsländern sichern helfen. Wie kann das geschehen? Dazu hatte ich bereits in meiner „Replik an Inge Kaul –Zukunftsministerium“ einige Gedanken angeführt, die ich hier noch einmal wiederholen möchte:

Auszug aus: Replik an Inge Kaul, Zukunftsministerium

3. Flüchtlingsproblematik

Schon zu Ende der 70er Jahre hatte ich Vorschläge gemacht, wie in dem gesamten Sahel-Gürtel mit massivem Einsatz von jungen deutschen und europäischen Fachleuten (auf der Basis von Freiwilligenverträgen = 3 Jahre Einsatz im Ausland) Ausbildungsstätten für berufliche Bildung (nicht Universitätsniveau) eingerichtet werden könnten. Das verbunden mit einem Kreditsystem für Unternehmensgründungen, um so nach und nach eine Basis für den Übergang von Agrargesellschaften zu Industrie-Gesellschaften zu schaffen.

Zu diesem Zweck muss die EU-Kommission, und darauf muss die neue deutsche Regierung dringen, eine Afrika-Initiative bereitstellen, die auf drei Säulen beruht: (i) Erziehung und Ausbildung, (ii) „verlorener“ Kreditfonds für afrikanische Klein- und Mittelbetriebe (Funktionsweise könnte nach dem Marshall-Plan-Prinzip der Nutzung der Gegenwertmittel erfolgen), (iii) zinsloser Kreditfonds für europäische Mittelbetriebe, die in Afrika investieren wollen und einen „know-how-Transfer“ sicherstellen können.

In dem angeführten Beitrag hatte ich auch zur Mitschuld Europas nach der Entkolonisierung angemerkt:

Die bi- und multilaterale „Entwicklungshilfe“ in Afrika, für das Europa eine besondere Verantwortung hat, war absolut katastrophal und tödlich. Milliarden von Euros wurden in unsinnigste Projekte gesteckt, die überhaupt nicht der Kultur und den Traditionen der Länder entsprachen und die hauptsächlich zum Ziel hatten, das europäische Kapital wieder nach Europa zurückzuschaffen. Tausende von europäischen „Entwicklungshelfern“ haben sich eine „goldene Nase“ in exotischer Umgebung verdient. Das BMZ unter Verantwortung vom „Kabuler Teppichhändler“ Niebel war der absolute Tiefpunkt deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Das Ergebnis bekommen wir jetzt frei Haus geliefert. Die EU wird die nächsten zwanzig Jahre das erleben, was die USA seit fünfzig Jahren mit Lateinamerika erleben. Nur dass wir im Mittelmeer keine Mauern errichten können, sondern nur bewaffnete Schnellboote ausschicken, um das Fort Europa zu verteidigen. Es ist schlicht eine Schande, dass die EU in der Asylfrage, die eine Frage elementarer Menschenrechte ist, versagt.

Liebe Grüße zum Wochenende aus Panama, CE


Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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