Warum noch dieses Foto auf dem Schreibtisch?

Hochzeitsfoto Längst bestand die Ehe lediglich auf dem Papier. Nicht nur ihr Lebenspartner, auch sie stellte sich diese Frage. (Kurzgeschichte im Herbst)

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Hochzeitsfoto

S. war schon vor Morgenanbruch im Badezimmer. Die Nacht über hatte sie kaum ein Auge zugedrückt. A., ihr Lebenspartner, schien ihre Unruhe nicht bemerkt zu haben. Jedenfalls schlief er fest an ihrer Seite.

Sie war froh, dass sie das Badezimmer für sich hatte. So konnte sie noch einmal ungestört ihr gemeinsames Gespräch vom Vorabend überdenken. A. hatte das Thema des Hochzeitsfotos zum wiederholten Male angestoßen. Sie wusste ja seit geraumer Zeit, dass es ihm nicht recht war, das Foto ihrer Hochzeit mit D., zusammen mit dem Foto ihrer beiden erwachsenen Kinder, auf dem Schreibtisch im Firmenbüro stehen zu haben. D. war schon vor ein paar Jahren in eine kleine Wohnung unweit ihrer eigenen gezogen. Er arbeitete als Physiker am hiesigen Max Planck-Institut und traf sich gelegentlich mit S. zu einem Abendessen in einem von ihnen früher frequentierten Restaurant. Die Umstände des Studiums der beiden Töchter verlangten Aussprache. Außerdem dienten diese Treffen, wie unter anderem auch das Hochzeitsfoto in der Anwaltskanzlei und ihre gemeinsamen Zusammenkünfte mit den Töchtern als Gelegenheiten, ihre Scheinehe aufrecht zu erhalten. Nur wenige gemeinsame Freunde und ihre Eltern sowie ihre Töchter hatten Kenntnis von S’. neuem Lebenspartner, der übrigens ebenfalls in einer Anwaltskanzlei arbeitete.

A’s. Appartement am anderen Ende der Stadt diente den Liebenden seit einem Jahr als gemeinsame Schlafstatt. S. brach regelmäßig bei Anbruch der Morgenröte auf, um ihre eigene Wohnung aufzusuchen, ihre Toilette zu vervollständigen, einen Kaffee zu sich zu nehmen und anschließend in die Firma zu eilen.

S. hinterließ auf dem Küchentisch in A’s Appartement einen vorbereiteten Kaffee und einen flüchtig hingekritzelten Morgengruß mit dem Wunsch nach einem schönen Tag und der Erwartung eines gemeinsamen Abendessens. Sie hätte heute viel zu tun und hoffte, die Abschiebung einiger ihrer afrikanischen Klienten aus der Sahelzone verzögern oder besser ganz verhindern zu können.

Gottseidank war sie heute gut eine Stunde vor ihren Kollegen im Büro. Auch ihre mit einer Kollegin geteilte Sekretärin würde sicher ebenfalls erst sehr viel später eintrudeln. Nachdem S. sich eine weitere Tasse Kaffee aufgebrüht hatte, schloss sie die Bürotür sorgfältig hinter sich und machte es sich in dem Bürosessel bequem. Dabei nahm sie die Kaffeetasse in beide Hände und betrachtete aufmerksam ihr Hochzeitsfoto.

Mehr als zwanzig Jahre war es schon her, dass sie und D. geheiratet hatten. Was waren das für Zeiten gewesen! Beide ineinander verliebt, als wären sie die einzigen Menschenkinder auf der Welt. Sie noch im Studium, er frisch gebackener Physiker. Nach dem Standesamt machten sie eine Motorradreise vom Kap der guten Hoffnung bis nach Kairo. Was für ein Abenteuer! Danach mündete ihre Ehe in ruhigeres Fahrwasser ein. Ihre Studien waren anstrengend, war sie doch bald schwanger geworden. Und D. musste sich als junger Assistent am Max Planck Institut beweisen. Es gab viele Aspiranten, die dort unter kommen wollten.

Immerhin, die ersten gemeinsamen Ehejahre mit dem Bemühen um die beiden Töchter, waren eine schöne Zeit. Auch sexuell stimmte es zwischen den beiden. S. wurde in ihrer jungen Mutterrolle immer begehrenswerter, zumindest behauptete das ihr Mann und ihr Freundeskreis.

Als die Töchter eingeschult wurden, begann auch S’. Berufsleben. Es fiel ihr nicht schwer, in einem bekannten Anwaltsbüro für Arbeits- und Sozialrecht unterzukommen. Das hatte sie sich schon während des Studiums erträumt. Es kam jetzt darauf an, das Familienleben gut zu organisieren, so dass alle zu ihrem Recht kämen: die Kinder zu ihren Freizeitgelegenheiten und Vater und Mutter zu ihrem jeweiligen beruflichen Fortkommen. Alte Freundschaften aus Studienzeiten verblassten, neue aus dem Berufsumfeld kamen hinzu.

S. erinnert sich heute noch gut daran, als die Frustrationen über die Ehe begannen, die Ehefreuden zu überwiegen. Ihr wurde langsam bewusst, dass ihre Wünsche an ihren Mann immer weniger Entsprechung erfuhren. Er sollte doch so und so sein und schien sich ihren Erwartungen zunehmend zu entziehen. Was hatte sie nicht am Hochzeitstag für Vorstellungen, wie ihr Prinz beschaffen sein sollte?! Dabei kannte sie D. zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht. Sicher, er war einigermaßen gut aussehend, war intelligent und witzig, versprach, eine erfolgreiche Karriere einzuschlagen. Beide würden süße Kinder haben und der Stolz ihrer Eltern sein. Das war aber schon alles, was sie von D. wusste. Sich selbst kannte sie ebenso wenig. Sie schätzte sich als attraktiv, intelligent, unkompliziert und sozial engagiert ein. Das Erbe ihrer Sozialisation in Elternhaus und Schule sollte ihr erst langsam während der Ehejahre bewusst werden.

Kurzum, S. und D. lebten sich zunehmend auseinander, bis es zu Studienbeginn der Töchter zum endgültigen Bruch zwischen ihnen kam. Beide Töchter wehrten sich mit Händen und Füssen gegen diesen Bruch, klagten die Mutter an, den Vater mit A. zu betrügen und nahmen eindeutig Partei für ihren Vater. Mit ihm unternahmen sie anfangs gemeinsam Touren in den Semesterferien und trafen sich häufig in seiner kleinen Wohnung. S. war tief betrübt über die Haltung ihrer Töchter, mit denen sie immer nur flüchtige Treffen arrangieren konnte. Doch sie meinte auch das Recht zu haben, eine neue Liebe mit einem Mann zu beginnen, der ihren Interessen, Neigungen und Wünschen viel eher entsprach.

S. nahm das Hochzeitsfoto aus dem Rahmen und sah sich die Widmung auf der Rückseite an: „Für meine wunderbare Frau, die ich immer lieben werde, Dein D.“

Ihr kamen die Tränen. Wie jung, wie glücklich, wie hoffnungsvoll waren beide damals gewesen! Sie ahnte, warum A. dieses Foto nicht liebte. Auf ihrem Schreibtisch musste es seiner jetzigen Lebensgefährtin immer und immer wieder, unentrinnbar, die glücklichen ersten Ehejahre in Erinnerung rufen. Und ihre Klienten und Vorgesetzten würden sie immer wieder in dieser Ehebeziehung sehen und sie zu ihrer Familie beglückwünschen, zu einer Familie, auf die viele neidisch waren ohne zu wissen, dass sie reine Fiktion darstellte.

Warum hatte sie das Hochzeitsfoto nicht längst von ihrem Bürotisch entfernt?

Das hatte einen offensichtlichen Grund: Sie wollte nicht mit Bedauern als alleinstehende Mutter gesehen werden, wie viele andere beruflich unabhängige Frauen. Sie wollte sich und der Umwelt vormachen, dass sie beides konnte: erfolgreich Karriere machen und gleichzeitig glückliche Ehefrau spielen. Und das auf die Gefahr einer inneren Leere hin. Doch die hoffte sie durch die verschwiegene Liebe zu A. zu überwinden. Würde sie irgendwann die Kraft finden, dem gespielten Theater vor aller Welt ein Ende zu setzen und sich zu ihrer neuen Liebe öffentlich zu bekennen?

Wenn sie ehrlich mit sich war, musste sie zugeben, dass es auch einen weniger offensichtlichen Grund für das Nichtentfernen des Hochzeitsbildes gab. Der tägliche flüchtige Blick auf sich selbst und ihren Mann im jungen Alter nährte eine ständige Illusion von Sinngebung in ihrem Leben. Hatte sie nicht ihren Mann trotz aller Inkompatibilität, wie sie meinte, immer noch lieb? Ist es nicht diese Bestimmung der Familie mit ihm und den beiden Töchtern, die die Essenz ihres Lebens ausmachte? Sie war sich dessen nicht sicher, meinte aber, wenn das Hochzeitsfoto verschwände, dann gäbe es endgültig keine Rückkehr mehr zu dem Sinngehalt ihres bisherigen Lebens. Diese mögliche Rückkehr wollte wohl auch A. auf jeden Fall verhindern und sie genügend stärken, um mit ihm einen neuen Lebensanfang zu machen. Sollte sie einen solchen Schritt wagen?

Sie warf einen letzten Blick auf die Widmung, stellte das Hochzeitsfoto wieder an seinen alten Platz neben dem Foto der beiden Töchter und erwartete verunsichert und nachdenklich die Ankunft der Kollegen und ihrer Sekretärin.

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LG zum Wochenende, CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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